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Verfolgt
Stilistischer Beirat: Senior Mitglied "Woltochinon"
Ich werde verfolgt. Noch kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, aber die Schuhe, die schon seit geraumer Zeit, ganzen drei Blocks, hinter mir herquietschen, haben mit mir die Straßenseite gewechselt, haben das Tempo erhöht, als ich mein Schritttempo erhöht habe. Es besteht kaum ein Zweifel. Ich weiß, dass jemand hinter mir her ist, vermag mich nicht umzudrehen, denn genau in diesem Moment wird er wissen, was ich weiß und seine Tat vollstrecken. Angst presst meine Eingeweide zusammen, ich spüre Schweißtropfen in meinen Augen. Nein – ich will nicht sterben, schon gar nicht vor meiner eigenen Haustür. Denn spätestens da bin ich dran. Dann kann der Kerl auch gleich meine Wohnung ausräumen. Aber nicht mit mir. Ich werde mir nichts anmerken lassen und weitergehen. Ich schaue nicht zur Tür, als ich an ihr vorbeigehe. Langsam aber sicher werde ich in einen belebteren Teil der Stadt gehen. Noch scheint der Täter nicht entschlossen genug. Vielleicht lässt er von mir ab. Ich müsste eine Kneipe finden, eine Imbissbude, irgendwas. Aber zu dieser Zeit hat nichts mehr geöffnet. Keine Bahn fährt, kein Taxi saust vorbei, kein Mensch weit und breit.
Ich werde verfolgt! Ich bin das Opfer. In ein paar Tagen werde ich nur noch ein Opfer sein. Der Täter entscheidet, ob man meinen Namen in den Zeitungen lesen wird oder nicht. Umso grausamer, brutaler und bestialischer er mich abstechen wird, umso schlagkräftiger wird seine mediale Präsenz. Warum nur, warum nur hat er das getan? Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Jugendlicher ersticht Student auf offener Straße. Seitenlange Ausführungen der Grausamkeiten und weitere ellenlange Berichte mit den Beschreibungen der desolaten Familienzustände und des sozialen Umfelds des Täters folgen. Ich werde nicht viele Worte bekommen.
Ich bin ein Opfer. Ein weiteres Opfer, ein weiteres Beispiel der sozialen Verhältnisse, die in diesem Land herrschen. Ich werde vom Opfer zum Beispiel, vom Beispiel zur Bestätigung einer Tabelle. „Ein Student“ wird dort stehen. Vielleicht mein Name in Kürzeln. Ein Student, mehr nicht. Keine Familie. Er kam aus dem Kino. Man fand die Eintrittskarte. Keine Begleitung. Er war alleine im Kino. Welchen Film? Nicht einmal das wird man schreiben. Von meinem Täter hingegen werden sie jedes Videospiel auflisten, was er für Musik gehört hat, wie sein Zimmer aussah, wie er so in der Schule war. Bei mir dagegen: nichts. Was ich so gehört habe, interessiert keinen. Dabei höre ich sehr wohl auch sexistische Musik und spiele bluttriefende Ego Shooter. Und schlecht in der Uni bin ich auch. Keinerlei Zukunftsperspektive. Freunde habe ich auch keine, sonst wäre ich wohl kaum alleine im Kino gewesen. Schlechtes soziales Umfeld, pah! Von so was kann ich nur träumen. Ich habe nicht mal ein Umfeld. Schon gar kein soziales. Und das Butterfly, um das sich gerade meine Faust in der Jackentasche schließt, ist nicht die einzige Waffe, die ich besitze. Also vergiss es! Von wegen Opfer. Ich werde die Schlagzeilen bestimmen, ich werde das Subjekt sein, der Wichser hinter mir das Objekt. Meine Eltern sollen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht seine. Meine Lebensgeschichte soll erzählt werden. Ich kann es nicht dulden, nur Opfer zu sein.
Ich zücke mein Messer, drehe mich um, bereit, meine Geschichte in seinen Leib zu schnitzen und seine zu löschen. Ich starre in ein verblüfftes Gesicht. Er erschreckt, stolpert beinahe, dreht sich um und rennt. Er war gar nicht so nah hinter mir, wie ich gedacht hatte. Auch ich renne los, das Messer wie einen Tomahawk in der Hand. Ich schreie etwas, ich weiß nicht was, irgendwas, und ramme nach nur wenigen Schritten mein Messer in Nackenfleisch, er fällt, ich bekomme das Messer nicht mehr heraus, halte mich daran fest, ich falle auch, wir fallen, ich schlage mit dem Kopf auf die Bordsteinkante, keine Schlagzeile wert.