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Vergeltung

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19.12.2010
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Vergeltung

Vergeltung

„Was ist denn nur mit dir los?“ fragte Toshiko, blieb stehen und sah Ulf-Martin aus ihren dunklen Mandelaugen fragend an. „Schon seit Tagen bist du so ruhig und verschlossen. Das hat jetzt ein Ende. Du sagst mir auf der Stelle, was los ist! - Komm mal her!“ Sie zog ihn zu sich heran und strich mit der Hand über sein blondes Stoppelhaar. Tief sah sie in seine Augen, von denen sie einmal gesagt hatte, sie wären wie zwei Seen in der Eifel im Sommersonnenschein. Ihn an seinem Jackenkragen noch näher an sich heran ziehend, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Ulf-Martin umarmte sie, erwiderte den Kuss und krallte seine Hände in ihr langes schwarzes Haar.
Sie war zu ihm nach Berlin Friedrichsfelde gekommen, nun spazierten sie den Weg zur Brücke entlang, welche die große Ausfallstraße überspannte und zur Tankstelle führte. Hier wollten sie sich den Sonnenuntergang ansehen. Im Herbst konnte man auf der Brücke stehen, unter sich die sechsspurige Straße und die Autos fuhren genau in die versinkende Sonne hinein. Das war romantisch und Toshiko liebte Romantik.
Meistens kam sie zu ihm, da es ihr im Märkischen Viertel, wo sie mit ihrer Mutter wohnte, zu gefährlich war. Einen Vater hatte sie als Beschützer nicht. Ihre Mutter war Japanerin und hatte vor vielen Jahren einen deutschen Mann kennengelernt. Sie war ihm nach Deutschland und Berlin gefolgt. Hier gab es die Heirat, eine neue Wohnung, eine neue Sprache und bald auch Toshiko. Drei Jahre später gab es die Scheidung, eine verbitterte, alleinstehende Mutter mit Kleinkind und eine andere Frau für den Mann.
Ulf-Martin löste sich aus der Umarmung und seufzte. „Also gut“ begann er und räusperte sich die Stimme frei. „Hier in der Gegend gibt es seit einiger Zeit eine neue Gang. Das sind vier Typen, die kommen angeblich aus Neukölln und haben ihr Revier gewechselt. Jetzt wollen sie hier ihr Drogenzeug verticken und machen erst mal Krawall, um aufzufallen und bekannt zu werden. Ich habe in der Schule von ihnen reden hören. Sie sollen gefährlich sein. Der Anführer sieht wie ein Türke aus und heißt Ali, spricht aber perfektes hochdeutsch. Er soll studiert haben, wurde aber direkt im Hörsaal verhaftet und kam in den Jugendknast wegen Drogenhandel und schwerer Körperverletzung, sagt man. Der zweite ist Bodybuilder, was er zuviel an Muskeln hat, hat er zuwenig im Hirn. Über die anderen beiden ist nichts bekannt, nur dass sich die Vier gesucht und gefunden haben.“
Er stockte und sah in die Ferne. Toshiko hatte aufmerksam zugehört. Sie nahm seine Hand und drückte sie, um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern.
„Und?“, fragte sie, als er weiter schwieg.
„Naja… Und ich, äh…“, er machte seine Hand frei und kickte mit dem Fuß einen Stein weg. „Und ich bin zwei Mal mit denen zusammengeraten. Beim ersten Mal wollten sie mein Geld, haben mich rumgeschubst. Zum Glück kamen zwei Männer vorbei. Denen habe ich zugewunken wie guten Bekannten oder Freunden, da haben sich die Vier verpisst.“ Er schwieg wieder.
Toshiko hatte kurz das Gesicht verzogen, sie mochte keine Ausdrücke. „Weiter!“, drängte sie.
„Eine Woche später haben die mich wieder erwischt.“
„Aha? Und mir hast du nichts gesagt, hast alles für dich behalten und heile Welt gespielt. Ich dachte, wir reden über alles? Wer hat denn gesagt, wir müssen uns immer alles erzählen, was wir erleben, fühlen und denken?“
„Ja, aber ich wollte dich nicht damit belasten!“
„Quatsch!“ Toshiko sah ihn ernst an und tippte mit ihrem Zeigefinger gegen seine Stirn. „Du bist mein Freund und belastest mich nicht. Klar? Was war dann? Haben die dein Geld?“
„Naja, ich habe ein paar Boxhiebe abgekriegt und als ich am Boden lag, einige Tritte. Dann hat mir der Chef von denen Handy und Brieftasche abgenommen und gemeint, beim nächsten Mal würde ich freiwillig zahlen.“
„Puh…“ machte Toshiko. „Das ist hart! Handy, Geld, Ausweis?“
Er nickte.
Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Mir erzählst du, die blaue Wange ist von einem Sturz und das Handy verloren?? Du hast mich angelogen!“
Ein wenig traurig, ein wenig wütend und mehr als ein wenig besorgt sprach sie weiter. „Warum hast du das gemacht? Vertraust du mir nicht? Und wie soll ich dir vertrauen…“
Sie straffte sich und winkte mit der Hand ab. „OK. Ok, lassen wir das erst mal.Die Typen sind gefährlich! Die könnten glatt aus meinem Viertel kommen. Also, du wirst denen aus dem Weg gehen.“ Sie hob die Hand und ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ja, ich weiß, das ist nicht so einfach. Wir werden uns ab jetzt woanders treffen und uns nicht mehr hier aufhalten. – Was?“
„Das ist noch nicht alles. Vorvorgestern habe ich die Vier wiedergesehen, als ich in die Straßenbahn gestiegen bin, um zur Polizei zu fahren. Einen neuen Ausweis beantragen.“ Toshiko sah ihm an, dass nun etwas Schlimmeres folgen würde.
„Was ist passiert?“, fragte sie tonlos.
„Ich habe mich tierisch aufgeregt und musste an die Schläge und Tritte denken und dass mein Geld, Ausweis und das Handy weg sind. Auf dem Handy waren Bilder von dir.“
„Was… Ist… Passiert??“
„Kurz bevor die Türen zugegangen sind, habe ich denen zugerufen: Arschlöscher, fickt euch, und ich habe den Stinkefinger gezeigt.“
„Ich fasse es nicht! Bist du völlig verrückt geworden?“, fuhr sie ihn an. Ihre dunklen Augen blitzten und sie lief vor ihm hin und her wie ein aufgescheuchtes Huhn. „Was provozierst du die Kerle noch! Willst du richtig krankenhausreif geschlagen werden oder ein Messer zwischen die Rippen bekommen?“ Sie schüttelte heftig den Kopf, ihr langes Haar flog und sie hatte die Fäuste geballt.
„Man, du sollst selbstbewusster werden und mehr sagen, was du denkst und willst aber nicht so einen Scheiß!“
Sie musste stinksauer und wütend sein, wenn sie Scheiß sagte, sie sprach sonst immer sehr gepflegt und benutzte keine Ausdrücke.
Ulf-Martin sah bedrückt zu Boden. „Ich weiß. Es tut mir auch leid. Ich war so sauer auf die Typen. „
„Auf uns?“ Plötzlich standen die vier Gangmitglieder vor ihnen.
Ulf-Martin zuckte zusammen wie von einer pferdegroßen Biene gestochen und sah sich blitzschnell um aber die vier Typen waren schneller und verteilten sich auf dem Weg halb um sie, eine Flucht war nicht möglich.
„Hallo, erst mal“, rief Ali, der Anführer, „da sind wir wieder! So schnell sieht man sich wieder. Haben wir euch erschreckt? Oh, das tut mir leid.“ Er grinste flüchtig und zeigte auf Ulf-Martin: „Jetzt kannst du nicht in der Straßenbahn verschwinden, wie beim letzten Mal. Wie war das noch, was du uns zugerufen hast? Wir sollen uns ficken? Das war nicht lustig, man! Hälst du uns für Schwuchteln? Wir ficken Mädchen!“ Er sah zu seinen Kumpels und diese nickten bestätigend mit grimmigen Gesichtern.
„Aber wir können dir zeigen, dass wir richtige Kerle sind. Mit deiner Kleinen hier fangen wir an!“
Er lachte kurz auf und sah sie finster an; er schien sehr sauer zu sein. Sein Markenzeichen als Gangchef war seine Kleidung: schwarzer Anzug von Gucci, schwarze Lackschuhe, schwarzes eng mit Gel an den Kopf geklebtes Haar, allerdings hätte er so auch als Dealer oder Zuhälter durchgehen können.

Der Muskelmann sagte gefährlich leise und langsam: “Wir machen euch alle! Uns beleidigen und dann feige abhauen, bist du ein Kerl oder was?“ Er schlug sich klatschend gegen die Stirn, seine Glatze spiegelte sich in der Sonne, die sich dem Horizont näherte und der riesige Stiernacken schimmerte feucht vor Schweiß.
Ulf-Martin brach nun auch der Schweiß aus. Er schüttelte den Kopf. „Klar, vier gegen einen…“
„Ach, halt die Klappe!“, der Dritte im Bunde fingerte an seinem Gürtel unter der Lederjacke herum. Er hatte dunkle Haut und krauses Haar, ein Teil des Blutes, das in seinen Adern kreiste, musste afrikanische Wurzeln haben. Seine Hand fand, was sie suchte und ein Messer blitzte auf.
Mit wachsender Angst hatte Toshiko den Disput verfolgt. Sie zeigte auf Ali und fragte: „Das sind…?“, sie unterbrach sich, hatte nun endlich begriffen. „Was wollen die von uns?“ Dann bemerkte sie das Messer. Ihr Blick ging zu Ali, seinen Lackschuhen, sprang zum Messer in der Hand des kleineren dunkelhäutigen Kerls, dann zu den Muskelpaketen des dritten Typen und sie wurde weiß wie frisch gefallener Schnee.
Ulf-Martin hatte den Ernst der Situation schnell erfasst, gehetzt sah er sich um. Das sah nicht gut aus. Er hatte gehofft, der Gang nicht so bald wieder zu begegnen.
Die vier bewegten sich auf sie zu. Der zupackenden Pranke des Bodybuilders konnte er ausweichen und drehte sich voll in einen Schlag des Vierten der Gang hinein. Dieser hatte noch nichts gesagt und wirkte bisher unauffällig. Durch die Drehung erwischte er ihn nur an der Brust. Ulf-Martin wurde die Luft aus der Lunge gepresst, er sah, wie der Bodybuilding-Kerl nun Toshiko packte und zu sich zog. Sie schrie auf und wollte nach ihm treten aber er grinste nur und wehrte den Tritt lässig ab. Der Unauffällige wollte Ulf-Martin zum Muskelmann stoßen. In Panik und Todesangst nutzte Ulf-Martin den Schwung des Stoßes und zischte: „Weg hier!“ Dann rannte er, wild mit den Armen rudernd, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, weg.
Ulf-Martin rannte. Er fühlte sich gehetzt und verfolgt. Angst und Panik überlagerten jeden klaren Gedanken in seinem Kopf, er wollte nur noch weg. Wie eine Antilope vor der Löwenmeute rannte er um sein Leben, doch niemand war hinter ihm her. Sie verfolgten ihn nicht. Er hörte die Stimme des Anführers: „ Lasst den Typen abhauen, wir haben die Tussi!“
Scham verdrängte die Angst in ihm. Toshiko! Sie hatten Toshiko! Sie hatte es nicht geschafft, wie er zu entkommen. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er stoppen und zu ihr zurücklaufen. Aber es ging nicht. Sie waren zu viert und er war allein. Er lief weiter und Tränen vor Wut und Zorn liefen über seine Wangen, die er schnell fort wischte. Er rannte nicht um sein Leben, wusste er nun; er rannte um ihr Leben! In der Nähe war die Tankstelle, zu der der Weg führte, da musste er hin, dort konnte er die Polizei zu Hilfe rufen. Die Schreie seiner Freundin waren verstummt, Erneut sah Ulf-Martin sich im schnellen Lauf kurz um. Sie hielten ihr den Mund zu und zerrten sie in die Büsche neben den Fußweg. Toshiko strampelte mit den Füßen und wehrte sich aber die vier Typen, die sie alle um mindestens einen Kopf überragten, ließen ihr keine Chance. Ulf-Martin stolperte und konnte sich im letzten Moment fangen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, er keuchte und bekam nicht genug Luft. Nun griff auch noch eine eiskalte Hand nach seinem Herzen und presste es zusammen. Seine Freundin in den Händen der Schlägertypen zu sehen, bereitete ihm innerliche Schmerzen.
Kein Mensch war an diesem noch jungen Abend zu sehen. Minuten vorher war der Abend noch romantisch und voller Liebe gewesen. Nun entwickelte er sich zum Albtraum. Womit hatte er das alles nur verdient, dachte Ulf-Martin.

3 Monate vorher, im Sommer
Ulf-Martin saß bei Thalia im Einkaufscenter und las in der Leseecke in einem Buch. Er mochte das Center, es war schnell mit der Straßenbahn erreicht, hier gab viele Shops, eine Foodecke mit Pizza, Döner, Burger, und es gab Thalia. Hier war er oft, schaute in Bücher hinein und war unter Menschen. Er konnte die Leute, speziell Mädchen, beobachten, hatte Abwechslung und sein Wissensdurst wurde gestillt. Lieber war er hier als allein am See. Er hatte keine Freunde, sah durchschnittlich aus, war mittelgroß, schüchtern und kein Disco- oder Partytyp. Für Mädchen war er eine unscheinbare graue Maus, uninteressant. Nur gut, um die Hausaufgaben von ihm abzuschreiben, nicht gut genug für ein Date oder mehr. Eine Freundin hatte er bisher nur einmal für einen Tag gehabt; es war ein Joke gewesen, ein paar Mädchen aus der Parallelklasse hatten ihn verarscht.
Manchmal saß er hier mit einem Buch in der Hand, las aber nicht wirklich sondern beobachtete Mädchen und träumte, mit ihnen zusammen zu sein.
Ein Mädchen kam mit einem Buch heran und setzte sich neben ihn. Er hatte sie schon einige Male hier gesehen. Sie gefiel ihm. Ihr Gesicht hatte einen asiatischen Einschlag, er tippte auf Japan, wies aber auch europäische Züge auf. Ihr Gang hatte etwas katzenhaftes und passte gut zu ihrer schlanken Figur. Mit Freude sah Ulf-Martin, dass sie weder Make Up noch Schmuck trug und ihr langes schwarzes Haar offen und weich auf die Schultern fiel. Sie war keine Schönheit, die sofort alle Blicke anzog, ihre Kleidung war modisch aber unauffällig, alles an ihr strahlte Frische und unaufdringliche Weiblichkeit aus. Sie bemerkte seinen Blick und wie er ihr Buch musterte und sie fragte ihn, ob er es kennt und ob es gut ist. Er war einen Moment total überrascht. Noch nie hatte ihn ein Mädchen angesprochen. Klar kannte er das Buch. Er erzählte ihr den Inhalt, zuerst stockend und mit rotem Kopf, dann flüssiger, machte witzige Bemerkungen und verlor mehr und mehr seine Scheu. Er merkte, sie meinte es ernst und machte sich nicht lustig über ihn. Sie hörte ihm zu, stellte Fragen, warf Kommentare ein und musterte ihn mehrmals kurz. Das Mädchen, sie hieß Toshiko, hatte tiefsinnige braune Augen, die im Kunstlicht schwarz wirkten, wenige Sommersprossen, eine süße Stupsnase und eine Figur, die Ulf-Martin den Schweiß auf die Stirn trieb. Sie fühlte, dass der unscheinbare Junge gar nicht so übel war und ihr gefiel seine zurückhaltende Art und seine Stimme. Er hatte schöne Hände und sehr interessante Augen. Sie unterhielten sich an diesem Tag bis in den späten Abend. Die Zeit war rasend schnell vergangen und Ulf-Martin wollte sie nach Hause bringen aber sie lehnte dankend ab und sagte, sie suche zur Zeit keinen Freund. Wenn sie sich allerdings gelegentlich hier bei Thalia über den Weg liefen, wäre das ok. Ihre Augen blickten dabei etwas zu lange in seine. Von da an trafen sie sich öfter, unterhielten sich, lernten sich kennen und wurden bald ein Paar.

Gegenwart
Ulf-Martin hatte atemlos die Tankstelle erreicht und die Polizei und den Notarzt gerufen, die auch nach 9 Minuten eintrafen und dann von ihm zum Überfallort geführt wurden. Die Wartezeit an der Tankstelle kam ihm vor, wie eine Ewigkeit im Fegefeuer der Hölle. Der Angestellte hatte ihn telefonieren lassen und danach versucht, ihn zu beruhigen aber Ulf-Martin war in der Tankstelle wie ein Tiger im Käfig hin und her gelaufen und dann nach draußen gestürmt. Er wollte zurück laufen zu Toshiko aber da waren auch die vier bewaffneten Kerle bei ihr und der Polizist am Telefon hatte gesagt, er soll an der Tankstelle warten.
Toshiko lag, fast völlig nackt und verkrümmt am Boden und wimmerte leise. Ihr Gesicht war geschwollen, an der Brust und im Schritt war Blut. Niemand war weit und breit zu sehen. Die Beamten hatten ihn nicht zu ihr gelassen und ihn beiseite gezogen aber er hatte einen kurzen Blick auf seine Freundin werfen können. Der Krankenwagen nahm das Mädchen nach einer kurzen Untersuchung vor Ort mit ins Krankenhaus und die Polizisten brachten Ulf-Martin, nachdem er eine Beruhigungsspritze bekommen hatte, nach Hause. Er war völlig außer sich gewesen, hatte wirres Zeug gestammelt und in der Luft herum gewedelt. Seine Eltern sprachen nur kurz mit den Beamten. Halbherzig versuchten sie dann, mit ihm zu reden und ihn zu trösten aber er hatte keinen Nerv, ihr oberflächliches Gerede zu ertragen. Alles wird wieder gut. Ja, sicher…
Er nahm zwei Beruhigungstabletten, die er von dem Arzt bekommen hatte, ging auf sein Zimmer und schlief betäubt tief und fest die ganze Nacht.
Am nächsten Tag gab er im Präsidium seine Aussage zu Protokoll, fuhr eine Weile mit der S-Bahn durch die Stadt, um sich zu beruhigen und zu sammeln und besuchte dann Toshiko im Krankenhaus. Es fiel ihm sehr schwer, zu ihr zu gehen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Mit Mühe fragte er sich zu ihrem Zimmer durch, den langen Gang entlang wurden seine Schritte immer langsamer. Sein Mund war trocken, die Hände feucht und in seinem Kopf schwammen träge die Gedanken in dickem Sirup. Dann stand er an ihrem Bett. Aufgrund der Tat lag sie in einem Einzelzimmer.
Sie sah furchtbar aus. Klein und schmächtig lag sie da, mit blauen Flecken im geschwollenen Gesicht, das Haar stumpf und die Augen erloschen. Ihre Tränensäcke waren dunkel und dick. Die Arme lagen ausgestreckt auf der Bettdecke, die Finger zuckten leicht. Ein Infusionsschlauch ging vom linken Arm zu einem Tropf neben dem Bett. Sie reagierte nicht auf Ulf-Martins unbeholfene Begrüßungsworte und sah ihn nicht an, Ihr Blick war nach oben in weite Ferne gerichtet.
Ulf-Martin konnte sie nur kurz ansehen, dann irrte sein Blick durch den Raum und durch das Fenster nach draußen. Ihm kamen die Tränen und er fühlte wieder, wie sehr er dieses Mädchen liebte. Sie waren noch nicht so lange zusammen aber er war sich sicher, sie war DIE große Liebe seines Lebens und er hatte mit ihr zusammen alt werden wollen. Zusammen für immer.
Warum hatten die Typen sie nicht in Ruhe gelassen? Warum hatten sie Toshiko das angetan?
Ihr Anblick bereitete ihm Schmerzen, er wusste nichts zu sagen. Von der Polizei hatte er Andeutungen bekommen: Stichverletzungen, Prellungen, multiple Vergewaltigung… In seinem Kopf war nur der Gedanke, dass es nach diesem Geschehen nie mehr für sie Beide sein würde wie vorher. Ihre Beziehung war noch so jung. War nun alles zu Ende oder wie ging es weiter? Wie sollte er sie trösten können, nach so einer Tat. Und wie sollte er je damit fertig werden, dass er abgehauen war. Er hatte sich von seiner Angst und Panik mitreißen lassen und war weggerannt. Er hatte sie zurück gelassen, im Stich gelassen. Sie musste ihn doch hassen!
„Ich hasse dich nicht.“, sagte sie leise und teilnahmslos, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ihr Blick blieb weiter zur Decke gerichtet. „Ich hasse auch die vier Typen nicht. Ich fühle gar nichts mehr.“ Sie schloss kurz die Augen.
„Sie haben es alle vier getan. Einer nach dem Anderen. Es war so…“, sie überlegte kurz, schien nicht das richtige Wort zu finden. Ihre Hände strichen über die Bettdecke, als suchten sie etwas. Leicht schüttelte sie den Kopf, dann, nach einer Pause, sagte sie mit tiefer brüchiger Stimme: „Sie haben dann zu mir gesagt…“, sie brach wieder ab, schüttelte erneut den Kopf.
„Ich will, dass sie tot sind.“ Nun sah sie ihn kurz an, wandte aber gleich wieder den Blick ab. „Versprich mir, dass sie bald tot sind. Versprich es mir.“ Sie murmelte nur noch leise. „Versprich es mir. Hörst du? Versprich es.“
Er nickte heftig, froh, etwas tun zu können, auch wenn es nur ein Nicken war. In dem Moment, als sie es aussprach, hatte er den gleichen Gedanken und er kam ihm total normal vor. „Ich verspreche es!“

Wochen vorher
„Hey, was tust du?“ Toshiko schüttelte Ulf-Martins Hand ab, die mit einem Grashalm ihren nackten Bauch kitzelte. Sie hatte ihren neuen engen Bikini an, den sie vor kurzem zusammen gekauft hatten. Vor der Zeit mit Ulf-Martin hätte sie nie in der Öffentlichkeit einen Bikini angezogen. Aber das war vorbei, Vergangenheit. Ihr kam es vor, wie in einem anderen fernen Leben. Beide lagen auf einer Decke am See, umgeben von anderen Sonnenhungrigen und Badelustigen, die Sonne lachte vom Spätsommerhimmel und schickte Hitze hinunter auf die Erde. Wenige weiße Wolken schwebten am Himmel und verdeckten nur selten die Sonne. Ulf-Martin war glücklich. Er war selig, glücklich und hätte die Welt umarmen können. Am Abend zuvor hatten sie es getan. Sie hatten das erste Mal miteinander geschlafen und Toshiko hatte ihm die Unschuld genommen.
Ihre Mutter mochte ihn nicht aber sie mochte keine Jungs und keine Männer. Sie war von ihrem Mann verlassen worden und Toshikos erster Freund hatte sie sehr verletzt, nun war ihre Mom mit dem männlichen Geschlecht durch. Nie hätte sie erlaubt oder geduldet, was die Beiden am Abend zusammen getan hatten, nur war sie ihre Schwester in Dresden besuchen gewesen.
Ulf-Martin hatte sich angestellt, wie der erste Mensch, hatte panisch gedacht, tu ihr bloß nicht weh, komm bloß nicht zu früh, mach bloß alles richtig. Und nun, nach ihrem chaotischen Sex, den sie noch zwei Mal wiederholt hatten, wollte sie, Toshiko, ihn noch immer. Sie hatte gesagt, sie liebe ihn und wolle immer mit ihm zusammen sein. Er sei der Richtige, den sie haben wolle, bis zum Tode.
Bevor sie es taten, hatte sie von ihrem Freund vor ihm erzählt. Der war ihr erster Freund gewesen. Sie war 15, zwei Jahre war das nun her. Der Junge war schon in der zehnten Klasse, gut aussehend, beliebt, in seinem Handballclub der Beste. Die Mädchen lagen ihm reihenweise zu Füßen aber er schien sich echt für die kleine Streberin aus der Neunten zu interessieren und suchte erst ihre Hilfe in Mathe und ihre Gesellschaft, dann ihre Freundschaft. Als sie ein Paar waren hatte er sie nicht zum Sex gezwungen aber überredet, als sie noch nicht bereit gewesen war. Brutal hatte er sie entjungfert. Es tat sehr weh und als er seinen Spaß gehabt hatte, verlor sie den Reiz für ihn. Und die Jungen verloren den Reiz für sie. Lieber blieb sie allein. Dass sie sich doch noch einmal verliebt hatte, in ihn, war nun ein doppeltes Wunder.
Er grinste. „Was mache ich denn? Hey, ich kann nicht aufhören, an deinen tollen Körper zu denken. Was glaubst du, warum ich auf dem Bauch liege?“ Nun lachten beide und sie gab ihm einen langen unendlich verliebten Kuss.
„Ich will ins Wasser. Sag Bescheid, wenn du wieder kannst.“ Sie stutzte kurz und lachte dann herzlich. „Ich meine, wenn du wieder aufstehen kannst.“ Sie lachten wieder, er sah dabei das Grübchen auf ihren Wangen und wie sie die Nase kraus zog. Die Sommersprossen bewegten sich dabei wie kleine Käfer. Sie boxte ihm leicht gegen den Arm. „Was du immer denkst…“

Gegenwart
Am Abend hatte ihn sein Lehrer besucht und ihm frei gegeben. Die nächsten Tage brauchte er nicht in die Schule zu gehen, Er soll einen guten Psychologen aufsuchen, der wird ihm helfen können, das Geschehene zu verarbeiten, hatte der Lehrer gesagt. Seine Eltern hatten beipflichtend genickt. Viel gesagt hatten sie nicht. Sie sagten nie viel zu ihm.
Die Nacht hatte er schlaflos verbracht, hörte immer Toshikos Stimme, wie sie sagte, versprich es mir… Er lag wieder am Boden, spürte erneut die Schläge und Tritte, dann hörte er Toshikos Schreie. Er bereute so sehr, weggerannt zu sein aber hätte er etwas ändern können? Ihre Stimme sagte wieder: versprich es mir…
Diese verdammten… Warum hatte er nicht in der Straßenbahn seine Klappe gehalten! So wie immer. Aber nein, er sollte ja selbstbewusster werden, mehr seine Meinung sagen und sich nicht immer alles gefallen lassen, hatte Toshikos gesagt. Und nun?
Er musste etwas tun, er hatte es versprochen. Doch was sollte er tun? Was würde er tun? Stundenlang lag er da und grübelte, fühlte Hass, Wut, Zorn, aber auch Verzweiflung und Trauer. In seinem Kopf war der Anblick von Toshiko und was sie zum Abschied im Krankenhaus gesagt hatte. „Du hast es versprochen. Komm erst wieder, wenn es getan ist. Komm erst wieder her, wenn es vorbei ist. Hast du gehört?“ Dann hatte sie die Augen geschlossen und den Kopf zur Wand gedreht.
Am Morgen verließ er mit seinem Fernglas im Rucksack früh zu normaler Zeit das Haus, suchte und beobachtete die Gang um Ali. Er wusste, die Vier schwänzten oft die Schule, nun wartete er auf den richtigen Moment. In der Nacht war ein Plan in ihm gereift. Er hatte eine Aufgabe, war abgelenkt und musste nicht an Toshiko denken und die Leere in sich spüren.
Schon am Abend ergab sich eine Gelegenheit. Die Gang war umher gezogen und hatte lange bei Burger King gesessen, dann trennten sie sich und jeder ging in seine Richtung nach Hause. Ulf-Martin hatte sich den Kraushaarigen ausgesucht. Er war der Kleinste der Clique aber er war auch der Brutalste und Ulf-Martin dachte an den Tritt, den er von ihm bekommen hatte. Er hatte herausbekommen, dass der Kraushaarige hinter dem Park in einer dunklen Gegend in einem halb zerfallenen Altbau lebte, der nur von Ausländern bewohnt war. Die Gang war am Mittag kurz hier gewesen und er hatte seinen Eltern etwas gebracht. Nun war er wieder auf dem Weg nach Hause.
Es war schon dämmrig, die Sonne hatte sich bereits verabschiedet und war auf dem Weg zur südlichen Halbkugel. Ein lauer Wind wehte und liess die Blätter sacht rascheln. Kein Vogel war zu hören, nur das undefinierbare allgegenwärtige leise Brausen der Großstadt verstummte nie. Ulf Martin schlich hinter der dunklen Gestalt her, wie ein Jäger hinter seinem Wild. Bäume und Gebüsch gaben ihm Deckung, sein Herz hämmerte und sein Blut rauschte in den Ohren. Vor seinem inneren Auge sah er Toshiko in ihrem Krankenbett, sie sagte: versprich es mir!
Der Kraushaarige näherte sich seinem Haus und Ulf-Martin vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Aus dem Rucksack nahm er seinen Katapult und einen Stein, zielte und schoss. Ein leises schnappendes Geräusch, der Stein flog am Kopf des Typen vorbei und schräg gegen die Hauswand, wo er ein Stück Putz herausschlug. Verständnislos hatte dieser dem Stein hinterher gesehen und zuckte zusammen, als er die Putzwolke sah. Er wollte sich umsehen aber da hatte Ulf-Martin schon blitzschnell den nächsten Stein im Katapult. Er spannte, zielte, präzise wie eine Maschine – und Schuss. Mit einem „Tock“ traf der Stein den Kraushaarigen an der Schläfe. Wie vom Blitz getroffen fiel er um.
Ulf-Martin erwachte wie aus einem Traum. Ungläubig schaute er auf den am Boden liegenden herab, der sich nicht mehr rührte. Das wars? Das war es schon? Er hatte erreicht, was er wollte, fühlte aber keine Befriedigung. Den Katapult in seinen Rucksack steckend, sah er erstaunt auf seine zitternden Hände. Zu gern hätte er nachgesehen, ob der Kerl noch lebte, aber er traute sich nicht und glaubte auch nicht daran. Der Stein, den er mit seinem Katapult abgeschossen hatte, war Daumengroß gewesen und hätte bestimmt einen Ochsen niedergestreckt.
Noch war niemand zu sehen aber hinter einem Fenster im ersten Stock erklang Geschrei. Ein Mann und eine Frau stritten sich lautstark auf türkisch oder arabisch.
Schnell ging er nach Hause und hoffte, dass niemand ihn gesehen hatte. Er fühlte sich leer und ausgelaugt, wie nach einem 3000 Meter lauf. Seine Eltern fragten nicht, wo er gewesen war. Das taten sie nie. Sie erzogen ihn zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, glaubten sie. In Wirklichkeit wollten sie nach 8 Stunden Arbeit nur ihre Ruhe und ein wenig Entspannung vor dem Fernseher finden, bevor am nächsten Tag alles wieder von vorn anfing. Er ließ das Essen stehen, murmelte zu seinen Eltern etwas von Kopfschmerzen und Hinlegen und ging auf sein Zimmer. Den Rest des Abends und die ganze Nacht lag er mit seinen Sachen auf dem Bett und starrte zur Decke. Seine Augen brannten, doch Tränen hatte er keine.
Er hatte einen Menschen umgebracht. Wie leicht war es doch gewesen! Zielen und Schuss! Wie früher, als er mit seinem ersten Katapult auf alte Flaschen geschossen hatte. Aber nun hatte er auf einen Menschen geschossen. Er hatte einen Menschen umgebracht. Toshiko wollte es so und er hatte begonnen, sein Versprechen einzulösen.
Der Typ hatte es verdient. Alle vier hatten es verdient. Sie schlugen, quälten, raubten, bestimmt hatten sie schon einen Laden überfallen. Und nun die Vergewaltigung. Sie brachten nur Unheil und Schmerz, zerstörten das Glück anderer. Das waren doch keine Menschen.
Doch, es waren Menschen, dachte er weiter. Er hatte einen Menschen umgebracht. War das ok? War das eine gerechte Strafe? Auge um Auge und Zahn um Zahn, wie in der Bibel? Wäre die Menschheit dann nicht schon längst ausgestorben? Aber war der Typ überhaupt tot? Gegen 3 Uhr hörte er im Radio die Nachrichten. Der Sprecher sagte etwas non einem mysteriösen Todesfall, ein afrikanisch aussehender junger Mann war leblos vor seinem Wohnhaus aufgefunden worden. Der herbei gerufene Notarzt hatte nur noch seinen Tod feststellen können. Über Todesursache und ob es sich hier um den Beginn eines Bandenkrieges handele, lägen noch keine Informationen vor.
Er hatte einen Menschen umgebracht.
Aber nun war es genug, er konnte nicht mehr. Er war nicht Gott oder Richter und besser fühlte er sich auch nicht. Im Gegenteil! Er fühlte sich schlecht und schuldig. Noch drei Mal das Gleiche tun? Dazu würde er nicht fähig sein. Er war nicht wie diese Typen, er war auch kein Killer! Wie er das Toshiko erklären sollte, war ihm jedoch ein Rätsel.
Wann er in einen unruhigen Dämmerschlaf sank, wusste er nicht. Am nächsten Mittag besuchte er wieder Toshiko. Sie sah noch schlimmer aus als bei seinem ersten Besuch. Als sie ihn sah, kam für einen Moment Leben in ihre Augen. „Du hast es geschafft?“, fragte sie ungläubig. „Ich habe im Radio nur von einem afrikanischen oder arabischen Jungen gehört, der leblos aufgefunden wurde. Was ist mit den Anderen?“
Ulf-Martin schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mehr. Ja, ich habe einen von denen umgebracht. Aber mehr geht nicht. Es sind trotzdem Menschen!“ Er stockte, sein Blick wurde trotzig. „Es geht nicht. Mehr geht nicht. Die Polizei und das Gericht müssen sich um die Kerle kümmern. Ich kann keinen Menschen mehr umbringen.“
„Menschen?“, Das Mädchen starrte ihn entsetzt an. „Menschen?? Diese Schweine?“ Sie fing an, zu hyperventilieren, rote Flecken erschienen auf ihrem Gesicht. „Weißt du überhaupt was die mit mir gemacht haben?“ Ihre Stimme war schrill und kippte über. „Hier!“
Sie riss die Bettdecke weg, setzte sich auf und öffnete fahrig das Nachthemd. Es war von vorn zu öffnen, weil darunter der Verband war. Sie fetzte sich den Verband von der Brust und zeigte mit den Fingern auf die schorfige Wunde: „Hier haben die mich fast abgestochen! Und hier…“ sie riss ihr Nachthemd hoch und den Verband von ihrem Unterbauch. Auf ihren Innenschenkeln waren dunkle Striemen und um Ihre Scheide war alles verfärbt, geschwollen und voller Schorf. Hysterisch zeigte sie wahllos auf Brust, Beine, Bauch. „Hier! Hier! Und hier!“ Sie atmete ein paar Mal tief durch. „Was denkst du, was die mit mir gemacht haben? Karten gespielt? Menschen sollen das sein? Verdammte Schweine! Da unten ist alles kaputt! Und hier oben“, sie schlug heftig die Faust gegen die Schläfe und Ulf-Martin zuckte zusammen. „Hier oben ist auch alles kaputt!“ Sie wurde immer lauter. „Die Polizei war hier, die haben keine Spur, keine Zeugen und keine Ahnung. Falls sie die Kerle kriegen, steht Aussage gegen Aussage und es wird ein Indizienprozess. Du kennst die Scheißgesetze hier. Ein Jahr auf Bewährung oder so. Willst du das?“ Nun schrie sie, völlig außer sich. „Willst du das??“
Ulf-Martin stand starr und reglos da, schaute zu Boden. Was er gesehen hatte, trieb ihm einen Schauer über den Rücken und ihm wurde übel. Die Zimmerwände fingen an, sich zu drehen. Toshiko war verstummt. Zurück aufs Bett gesunken, atmete sie noch heftig, zeigte aber keine Gefühle mehr, kein Weinen, nichts. Ihre Augen waren offen und zur Decke gerichtet, sahen aber nichts und niemanden. Das erschreckte Ulf-Martin mehr als der Ausbruch vorher. Eine Schwester kam und führte ihn hinaus. Er ließ es geschehen, sagte kein Wort. Wie betäubt verließ er das Krankenhaus und lief durch die Stadt. Es ist vorbei, dachte er immer wieder, ihr Leben ist vorbei und damit auch meins. Alles ist vorbei. Das wars. Vorbei. Er fühlte sich leer, etwas war gestorben in seinem Innern, wie bei Toshiko.
Toshiko! Er hatte noch etwas zu erledigen! Er war es ihr schuldig, durch seine feige Flucht war er es ihr schuldig. Und er musste verhindern, dass so etwas erneut geschah, die miesen Typen durften nicht davonkommen. Vielleicht würden sie es wieder tun, bei einem anderen Mädchen oder sie prügelten jemanden ins Koma, zum Krüppel, zu Tode… Wäre er dann mitschuldig, weil er es nicht verhindert hat? Dann war da noch die vage Hoffnung, dass es wieder gut werden könnte mit Jasmin und ihm, wenn die restlichen drei Typen nicht mehr waren. An diesen Gedanken klammerte er sich wie Kleinkind an sein Stofftier.
Irgendwie kam er irgendwann nach Hause, griff er sich seinen Rucksack und begann mit der Suche nach Ali und den anderen Beiden. Lange brauchte er nicht suchen und ein paar Stunden Beobachtung später war er allein mit dem Unscheinbaren, der anscheinend etwas ohne seine Kumpel erledigen wollte. Ulf-Martin konnte ihm ungesehen im Sichtschutz der Straßenbäume folgen. Er holte seinen Katapult und einen Stein aus dem Rucksack, spannte das starke Gummiseil und wollte zielen, da legte sich eine Hand auf seine Schulter. „Hör auf, mein Junge, es ist vorbei.“ Der Polizist nahm ihm sanft den Katapult aus der Hand. „Es war doch gut, dich ein wenig im Auge zu behalten, nachdem gestern einer der mutmaßlichen Täter tot aufgefunden wurde.“
Ulf-Martin stand nur da und hörte zu. „Ab hier übernehmen wir. Zu dem zweiten mutmaßlichen Täter hast du uns jetzt geführt, die Anderen erwischen wir auch bald.“ Nun legte der Polizist den Arm um Ulf-Martins Schultern und gab den Kollegen einen Wink, sich um den Unscheinbaren zu kümmern. Der hatte von der Situation nichts mitbekommen und war weiter gegangen.
„Für deine Freundin kann es nun besser werden. Die tun ihr nichts mehr. Sie ist in Sicherheit und es kann nichts mehr passieren.
Ihren Freund kann sie aber leider auch längere Zeit nicht mehr sehen. Du weißt, wir müssen dich mitnehmen.“
Ein Dienstwagen fuhr vor und ein Beamter stieg mit ernstem Gesicht und einem Blatt Papier in der Hand aus.
„Eben kamen ein Anruf und ein Fax aus dem Krankenhaus“, begann er. „Ihre Freundin bat vor zwei Stunden um Papier und Stift und hat zwei Briefe geschrieben, einen an ihre Mutter, einen an sie, Herr Ulf-Martin Schmitt.“ Er fuhr sich durch das ergraute Haar und zögerte kurz. Dann gab er sich einen Ruck und sprach weiter: „Es waren Abschiedsbriefe.“
Ulf-Martin sah erst ihn erstaunt an, dann den anderen Beamten, dann wieder den Sprecher. „Abschieds…?“ Er konnte nicht weiter reden.
Ihre Freundin wurde etwas später gefunden, sie hatte sich mit dem Infusionsschlauch erdrosselt. Jede Hilfe seitens der Ärzte kam leider zu spät. Es tut mir sehr leid.“
Er reichte Ulf-Martin das Blatt Papier. „Dieser Brief ist für sie. Möchten sie ihn lesen?“
„Lesen…? Ja.“
Ulf-Martin hatte sichtlich Mühe, das Gehörte zu begreifen und zu verarbeiten. Er nahm das Papier und begann zu lesen.

Ulf-Martin
Etwas Schreckliches ist passiert. Noch viel schlimmer als das mit meinem Exfreund. Es hat die Gefühle in mir zerstört. Danach haben die Kerle zu mir gesagt, sie kommen wieder, immer wieder und finden mich, wo ich auch wäre und machen es mit mir, noch hundert Mal. Deshalb habe ich dich gebeten, das für mich zu tun, was du angefangen hast. Aber das war falsch. Genau so Unrecht und falsch wie das, was die Kerle getan haben. Die Polizei wird dich finden und dich einsperren, das ist klar und nur eine Frage der Zeit. Du kommst ins Gefängnis, viel länger als die Kerle, falls sie überhaupt hinter Gitter müssen. Und ich bin schuld, ich habe dein Leben und deine Zukunft zerstört. Ich habe nachgedacht. Nie hätte ich dich bitten dürfen, das zu tun. Mit dieser Schuld will, kann und werde ich nicht weiter leben.
Ich entbinde dich hiermit von deinem Versprechen, was die anderen Gangtypen betrifft.
Verzeih mir.
Toshiko

Ulf-Martin hatte mit versteinerter Mine den Brief gelesen und war immer blasser geworden. Er ließ die Hand mit dem Papier sinken und flüsterte: „Es waren nur ein paar Worte… ein paar Worte, die ich zu denen gesagt habe…Damit habe ich das alles ausgelöst?“
Es wurde schwarz um ihn. Der Beamte versuchte noch, ihn aufzufangen, aber er glitt wie eine 60 Kilo Puppe durch dessen Finger und schlug hart auf den Boden auf.

 
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Moin Heiko

Thematisch ansprechend und gut umgesetzt. Ich fand die Geschichte spannend und wollte wissen, wie es weitergeht, wie er reagiert und vor allem, wie das Ende ist. Das mal vorweg: Der Schluss hat mich enttäuscht, kann dir aber nicht sagen, was ich besser gefunden hätte. ;)

Deinen Protagonisten finde ich glaubwürdig, den hast du mit seiner Unsicherheit gut beschrieben. Bücherwurm und Abseitssteher, das geht immer. Der trifft jetzt ne Frau und für die will er aus seiner Haut raus, mal ein Mann sein. Der innere Zwiespalt, was sage ich, was nicht, treibt ihn ja zu seinem Kommentar und sorgt für die Schlüsselszene. Mit dem kann man mitfiebern, und sich tierisch über ihn ärgern, als er das Mädchen da allein lässt. Funktioniert.
Die Namen aber, tja, Ulf-Martin und Toshiko? Warum? WARUM?
Zwischendurch steht auch noch zweimal Jasmin, anscheinend haste ihren Namen im Nachhinein noch geändert. Mach das doch auch mit Ulf-Martin.

Die Beschreibung des Gang-Anführers ist doch einem amerikanischen Film über die Mafia entnommen. Und dann die Feststellung, so sehen auch Dealer oder Zuhälter aus. Ich würde den entweder in Alpha-Jacke und enge Jeans stecken, mit ner Insel-Frisur oder so rappermäßig ausstatten: Baggys, Kapupulli, Basecap oder Wollmütze ...

Grüße
Kubus

 

danke. Den schluss bearbeite ich noch mal, alles stand ja auch nicht hier, da nur 32000 Zeichen erlaubt sind. Ihr Name ist geändert, die Täter wurden auch von Türken zu Deutschen oder in D geborenen geändert, da mir Rassismus und Klischee vorgeworfen wurde. Der Anführer blieb von den Türken übrig, ist aber aus meinem Kopf, kein Buch.
Warum Stört alle der Name Ulf-Martin???????????????????

 

Nach Rücksprache mit dem Autoren nach Gesellschaft.

 
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danke. Den schluss bearbeite ich noch mal, alles stand ja auch nicht hier, da nur 32000 Zeichen erlaubt sind.
Auf dieser site gibt es keine Zeichenbegrenzung, solange die Form der Kurzgeschichte eingehalten wird. Allerdings würde ich eher zum prägnanten Kürzen als zum Ausbauen raten. Ich vermisse einen Spannungsbogen im Text, alles scheint gleich wichtig/dahinplätschernd, es gibt keine Gewichtung und wenig roten Faden für mich. Das lädt leider zum Überfliegen und Skippen ein.

Warum Stört alle der Name Ulf-Martin?
Weil das - wie diese englischen Namen - in Deutschland eine Moderichtung der letzten zehn Jahre ist, und eigenartige Assoziationen weckt (> Eltern, die mit ihren Kindern alles stundenlang im Ökoladen an der Kasse oder mitten auf der Straße ausdiskutieren, mit dieser komisch-ernsten Stimme, und das noch für anti-autoritär halten): "Anna-Lena, Du sollst nicht immer drei Eis hintereinander essen, da hatten wir doch bereits mit Papa drüber gesprochen!" - "Kevin-Timmisi (= Timothy), Dein Taschengeld hast Du aber schon am Montag bekommen, erkläre mir jetzt bitte, wofür Du heute schon wieder fünf Euro brauchst!" und so.
Genau das hat man im Ohr, wenn man diese Geschichte liest, und damit bekommt alles eine unfreiwillige Komik, was dem plot, der Erzählintention in keiner Weise nutzt.

Ansonsten denke ich, daß eine Geschichte, die von einem Türken erzählen sollte, nicht dadurch besser wird, daß der plötzlich zum Deutschen, das Mädel vllt zur Japanerin wird. Die Aussage wird damit nicht klar, völlig verwässert, die story chaotisch - steh zu dem, was anzuklagen, was realistischer Alltag ist, oder erzähle eine Geschichte um die Yakuza in Japan (aber bitte gut recherchiert, dann), wenn Dir Deutschland/Türken zu heiß ist.
Eine Geschichte sollte in setting, Protagonisten und plot eine Übereinstummung oder Harmonie bzw. Folgerichtigkeit aufweisen, die die Handlung/Aussage stützt.

Herzlichst,
Katla

 
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Hallo Heiko

Den Schluss hast du jetzt echt verhauen. Zu konstruiert, zu dramatisch, zu schlimm. Die Geschichte trägt das einfach nicht: Dass dein Prot zum Schluss mit einem Katapult einen der Vergewaltiger tötet, passte mE schon nicht mehr recht in die Geschichte. Jetzt hast du noch etwas dazugeschrieben, da steckt schon Arbeit drin, aber für mich geht die Geschichte mit dem neu hinzugekommenen noch ein paar Schritte weiter in die falsche Richtung.
Dass die Freundin sich mit dem Infusionsschlauch erdrosselte und Ulf genau in dem Moment davon erfährt, in dem er festgenommen wird, ist ziemlich unglaubwürdig. Allein die Gleichzeitigkeit, aber auch die Machbarkeit, sich mit so einem Schlauch zu erwürgen. Problematisch finde ich auch ihren Brief: Sie müsste schon sehr sehr dumm sein, um nicht zu sehen, dass dieser Selbstmord ihn natürlich mit Schuld belastet. Dass sie damit nichts besser macht. Dabei hat sie vorher doch vernünftige Sachen gesagt. Passt also nicht.
Wenn deine Protagonisten auf einmal alle so verrückte Sachen machen, geht die Nachvollziehbarkeit verloren. Die brechen unter diesem Haufen schlimmer Dinge zusammen und mit ihnen leider auch die ganze Geschichte.

Warum Stört alle der Name Ulf-Martin?

Ich finde, die beiden Namen passen nicht besonders gut zusammen, das klingt nicht und ist nicht einprägsam.

Ansonsten denke ich, daß eine Geschichte, die von einem Türken erzählen sollte, nicht dadurch besser wird, daß der plötzlich zum Deutschen, das Mädel vllt zur Japanerin wird. Die Aussage wird damit nicht klar, völlig verwässert, die story chaotisch - steh zu dem, was anzuklagen, was realistischer Alltag ist, oder erzähle eine Geschichte um die Yakuza in Japan (aber bitte gut recherchiert, dann), wenn Dir Deutschland/Türken zu heiß ist.

Ja, also, das bringt meine Schubladen wirklich durcheinander. Also wie Katla schreibt, die Protagonisten einfach in eine andere Kultur verfrachten kann nicht die Lösung sein, auch wenn ich darüber nicht gestolpert bin.

Grüße
Kubus

 

Moin und gesundes neues.
Nun habe ich es verschlimmert. Naja. Ich kommer auch erst mal nicht weiter. Habe Auf neobooks.com eine Wettbewerbsgeschichte geschrieben. Vergeltung kam dort in allen Versionen schlecht an.

 

Ich finde die Geschichte nicht "schlecht", die Grundidee ist gut. Aber die Dialoge wirken doch etwas hölzern, frag dich doch mal selbst, ob du so reden würdest.
Außerdem: In der Kürze liegt die Würze :)
Aber das haben meine Vorposter ja auch schon bemängelt.
Ich weiß nicht warum, aber dass Ali von der Polizei aus dem Hörsaal mitgenommen wurde und in den Jugendknast befördert wurde, passt nicht. Erstens sind die meisten Studenten alt genug, um unter das Erwachsenenstrafrecht zu fallen und eine Verhaftung vor Ort wird nicht leichtfertig vorgenommen und kommt daher sehr selten vor. Etwas viel Dramatik.

Lass den Kopf nicht hängen :)

 

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