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Verkannter Dichter
„Okay, Paul. Du weißt, dass wir jetzt nicht viel Zeit haben. Ist das bei dir angekommen?“
„Nee, schon klar. Hab verstanden.“
„Wir werden sehen. Etwas nach links treten bitte … Kamera ab!“
„Herzlich willkommen, liebe Zuschauer, zum heutigen Wetterbericht. Heute haben wir in Deutschland ein Herbstwetter, wie es typischer kaum sein kann. In Niedersachsen ziehen vom Norden her Gewitterfronten auf, und zu denen habe ich folgendes Gedicht geschrieben: ‚Oh, Wolken dräuender Finsternis, mit euch kommt Donnern und Beben. Und dennoch seid ihr unsere Freund’, denn ihr spendet Leben. Die Menschen …“
„Schnitt.“
„Wieso ‚Schnitt’? Da ist man gerade so gut im Rhythmus, und schon wird man abgewürgt. Das ist eine Unverschämtheit, jawohl, eine Unverschämtheit, wie ihr mich behandelt! Weißt du eigentlich, Dieter, wie lange ich daran gesessen habe? Wie viel Herzblut ich hineingesteckt habe …“
„Paul, jetzt halt mal die Luft an. Ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass du fürs Wetteransagen bezahlt wirst und sonst nichts. Klar? So, noch mal von vorne, und ab jetzt keine Zicken mehr. Haben wir uns verstanden?“
„Ja. Ja, schon klar. Ich mach jetzt nur noch die Ansage.“
„Kamera ab!“
„Herzlich willkommen, liebe Zuschauer, zum heutigen Wetterbericht. In ganz Deutschland ist Herbstwetter. In Niedersachsen ziehen vom Norden her dräuende Gewitterfronten auf, die sich Boten der Finsternis gleich über das Land legen und flammende Blitze herabsenden, den Unachtsamen zu strafen, der sich nicht in das sichere Heim zurückzieht …“
„Schnitt!“
„Also das ist jetzt ungerecht. Ich wollte den Bericht doch bloß ein wenig auflockern …“
„Ich habe gesagt, ansagen und nicht rumschwafeln! Da ist der Bildschirm! Darauf der Text! Und den sagst du auf. Kapiert?“
„Dieter, versteh doch, dieser Text hat keine Seele. Er ist vollkommen steril. So ein Wetterbericht muss auch poetisch sein können, damit die Zuschauer …“
„Herrgottnochmal! Wenn du nicht sofort tust, was ich dir sage, kannst du dir deine Scheißkarriere in die Haare schmieren. Du fliegst schneller, als du dir dein Gedicht in den Arsch schieben kannst!“
„Ha! Das könnte dir so passen. Willst du mal den Vertrag sehen? Hier, da steht es, Schwarz auf Weiß: Ich habe ein Recht auf kreative Mitgestaltung. Da staunst du, was? Und jetzt werde ich meinen Text so aufsagen, wie es mir gefällt.“
„Also schön, wie du willst. Kommt, Jungs.“
„Hey, was soll das?“
„Na, du willst doch deinen Text aufsagen. Hast jetzt Gelegenheit dazu, während wir uns 'ne Zigarettenpause gönnen. Dann hast du dich hoffentlich ausgetobt und wir können planmäßig weitermachen.“
„Das ist doch … Ich verlange, dass meine Vorschläge berücksichtigt werden!“
„Hab ich doch. Waren Scheiße.“
„Ich werde mich beim Vorstand beschweren.“
„Hab ich schon in deinem Namen. Die sagen, du sollst mal nicht so ’ne Heulsuse sein.“
„Das … Das kannst du nicht machen. Ich habe ein Recht darauf, meine Muse auszuleben. Ich weiß, dass ein großer Künstler in mir steckt. Ihr seid nur neidisch auf meine Inspiration, jawohl. Ihr wollt mir nicht die Chance geben, mich zu beweisen.“
„Dann geh doch nach Arte, da haben die ein Herz für Künstler.“
„ …“
„Ah, sorry, hab ich vergessen ... Und was wirst du jetzt machen?“
„Das ist … Ich werde … Du kannst nicht … Das … …“
„Na gut, Paul. Bevor du hier in Tränen ausbrichst, will ich mal nicht so sein. Du kannst die Ansage jetzt so gestalten, wie du willst. Ich nehme in dieser Zeit einfach meine Pause. Okay?“
„O … Okay.“
„Gut.“
„Danke, Dieter. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen. Ich werde euch beweisen, wie gut es bei den Zuschauern ankommt, wenn mal jemand ein bisschen Farbe und Leben in so eine öde Sendung bringt.“
„Wir werden sehen. Kamera ab.“
„Mann, der labert schon ’ne halbe Stunde und hat es immer noch nicht gecheckt.“
„Aber Sinn für Poesie hat er, das muss man ihm lassen.“
„Meinst du nicht, dass du ein bisschen zu weit gehst?“
„Wieso? Wenn er merkt, dass die Kamera nicht läuft, wird er erst mal rausrennen und sich ausflennen. Und nach ’ner Stunde wird er heulend bei mir angezappelt kommen und mir klarmachen, dass er ab sofort nur noch Dienst nach Vorschrift machen wird. Wie immer. Und was anderes soll er doch nicht, oder?“
„Ja, schon, aber …“
„Hehe. Weißt du noch, als ich ihm mal eingeredet hab, er soll doch bei der Aufzeichnung eine von diesen spitzen Clownshüten tragen? Und er danach allen erzählt hat, das wäre seine Idee gewesen?“
„Äh, ja …“
„Oder an dem Tag, als die Sendung mal ausgefallen ist und ich ihm erzählt habe, er müsse heute in Lack und Leder auftreten, aber könne dichten, soviel er will? Und wie er sich dann auf dem Klo eingeschlossen und gejammert hat ..."
„Ja, das war schon lustig …“
„Haha, und dann hat er zwei Stunden lang im Schwuchtelkostüm Liebesgedichte vorgetragen. Das war einfach göttlich. Wir haben uns so bepisst. Haha. Und der hat es bis heute nicht geschnallt. Hihihi!“
„Pst, nicht so laut.“
„Quatsch, der ist doch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Siehst du? Labert immer noch.“
„Sag mal, weißt du’s echt nicht?“
„Was weiß ich nicht?“
„Er wurde gestern für den Posten des Produktionsleiters vorgeschlagen. Die da oben meinten, er hätte sich ja immer reingehängt und so. Hab mich schon gewundert, dass er jetzt nicht selbstbewusster auftritt. Vielleicht weiß er noch gar nicht, dass er auf dem neuen Posten höher steht als du und dich kegeln kann …“
„ …“
„ …“
„ …“
„ …“
„Was?“
„Paul, Paul, warte mal, kleine Programmänderung. Das war jetzt wirklich gut und so, aber …“
„Was passt dir denn jetzt schon wieder nicht? Du hast mir versprochen, dass ich die Ansage machen darf, wie ich will. Und das werde ich jetzt auch. Das lasse ich mir nicht wieder nehmen, hörst du? Ich gehe hier nicht wieder weg, bis ich mein Gedicht zum südlichen Sonnenschein aufgesagt habe. Ob es dir passt oder nicht …“
„Jetzt warte doch mal. Ich meine ja nur, dass wir die Sache … noch mal machen sollten.“
„Wieso? Stimmte was nicht mit der Technik?“
„Doch, doch. Aber es ist doch gut, wenn wir zwei verschiedene Varianten zur Verfügung haben, dann können wir vergleichen.“
„Ich bin mit der einen ganz zufrieden.“
„Darum geht’s doch jetzt nicht. Ich meine, man sollte immer zwei Varianten aufnehmen, damit man eine hat, die gut, und eine, die besser ist.“
„Das haben wir noch nie so gemacht. Was hast du vor?“
„Nichts, verdammt. Ich will doch nur … das Beste für die Sendung.“
„Du willst mich wieder linken. Gib’s zu.“
„Nein, Paul, ich will dich nicht linken. Und du machst das doch gerne. Du kannst dasselbe noch mal vortragen, du kannst dabei dann die Mimik und Gestik variieren.“
„Doch, du willst mich linken. Das merke ich sofort. Du verbirgst etwas vor mir. Aber das lasse ich mir nicht bieten. Ich werde nachher beim Cutting mit dabei sein, und dann bestimme ich mit darüber, was in die Sendung kommt.“
„Aber … Aber Paul, das ist doch nicht nötig. Ich meine … das können wir ja nachher noch besprechen. Doch zunächst musst du die Ansage noch mal machen.“
„Das geht nicht mehr. Dann ist meine künstlerische Energie erschöpft. So gut krieg ich das kein zweites Mal hin.“
„Scheiß auf deine … Ich meine, das kannst du bestimmt. Du musst es nur richtig wollen.“
„Ich will es aber nicht richtig. Diese Darbietung war perfekt so. Besser wird es nicht mehr.“
„Verdammt, ich … Hör doch endlich mal auf mit dieser verfluchten Rumzickerei …“
„Wenn du mir so kommst, mach ich gar nichts mehr. Ich bin hier demnächst der Produktionsleiter, dann kannst du mich nicht mehr so leicht rumkommandieren, dann musst du dir meine Vorschläge anhören, weil die Zusammenarbeit sonst nicht funktioniert. Wir sprechen uns noch, Dieter.“
„Ich zeig dir gleich, wo du dir deinen Produktionsleiter hinschieben kannst!“
„Und auf Drohungen gehe ich schon gar nicht ein. Ich werde mich beim Vorstand beschw …“
„So, jetzt kannst du was erleben!“
„Hey, lass mich los, das ist Körperverletzung. Du hast … kein Recht … na warte …“
„Heeeh!“
„So, das hast du jetzt davon … Ich kann auch … gut würgen …“
„Ich werde dir … Autsch, verdammt!“
„Au, hey, was …“
„Scheiße, was hast du gemacht?“
„Die Kamera. Scheiße, die ganzen Aufnahmen …“
„Hast du ja toll hingekriegt. Und jetzt? Willst du mit der zerdepperten Kamera weitermachen?“
„Aber … du hast mich doch zuerst angegriffen. Wenn überhaupt, dann sind wir beide schuld!“
„Mann, Paul, wer will denn hier in nächster Zeit befördert werden? Ich oder du? Hm? Wie willst du denen da oben diese Scheiße erklären?“
„Das weiß ich nicht. Oh Gott, jetzt fällt die Sendung ins Wasser …“
„Tja, das wär’s wohl gewesen mit deiner Karriere. So ist das Leben. Hart, aber ungerecht.“
„Dieter, du weißt doch sonst immer einen Ausweg. Bitte …“
„Aber weißt du was? Du hast Glück im Unglück. Ralf, bring mal die Ersatzkamera aus dem Keller.“
„Oh Mann, und ich dachte schon …“
„Ja, du hast echt Schwein. Aber jetzt stehen wir ziemlich unter Zeitdruck. Und das bedeutet, dass du sehr stark sein musst.“
„Wieso stark sein? Was meinst du?“
„Paul … Die Ersatzkamera macht eine schlechte Bildqualität. Und die da oben werden wissen wollen, weshalb die Sendung plötzlich so seltsam rüberkommt.“
„Und?“
„Na, wir müssen ihnen erklären, dass das künstlerische Gründe hat, verstehst du?“
„Was für künstlerische …?“
„Paul, du musst heute eine ganz besondere Sendung machen. Eine, die Ironie rüberbringt, trashigen Humor, weißt du?“
„Was meinst du?“
„Du erinnerst dich doch an neulich, die Sendung, die nicht gebracht wurde?“
„Nein, Dieter, das kannst du mir nicht noch mal antun!“
„Paul, es geht nicht anders. Es gibt Momente im Leben, da muss man die Flucht nach vorn antreten. Wenn du’s auf die normale Art versuchst, stellen sie uns unangenehme Fragen. Wenn du es extravagant machst, kannst du sagen, du hast ’ne Superinspiration gehabt und alles wär’ Absicht. Klar?“
„Zum letzten Mal: Nein!“
„Hahaha! Sieh ihn dir an! Wie er da im Schwuchtelkostüm rumtänzelt … hihi … Und das bei ’ner Livesendung. Das ist einfach zuviel für mich … huhu … ich kann nicht mehr …“
„Hast ihn ja auch unheimlich motiviert. Musstest du ihm wirklich erzählen, dass er dich als Produktionsleiter feuern kann? Ich meine, wenn er jetzt wirklich …“
„Ach, Quatsch mit Soße, Mann. Schau ihn dir doch an. Wer würde so einen Hampelmann denn jetzt noch ernst nehmen?“
„Ja, schon, aber du als Aufnahmeleiter bist doch auch …“
„Hey, Mann, ich mach einen Job. Er ist der Karrierefreak. Und was für einer! Zum Totlachen. Hihi. Ich kann gar nicht mehr aufhören. Hahaha …“
„Na ja, er ist ja auch ’ne ziemliche Nervensäge …“
„War, meinst du wohl. Stell dir mal vor, was der für’n Gesicht macht, wenn die ihn da oben zusammenscheißen. Da erholt er sich sein Lebtag nicht mehr von. Hahahaa …“
„Ääh, Dieter, da kommt gerade ein Anruf von ganz oben. Der Boss will dich sprechen.“
„Bin nicht da. Sag, ich bin auf’m Klo.“
„Okay. Tut mir Leid, er ist gerade unabkömmlich, frisch machen … Ja … ja … hmhm .. Sag ich ihm. Alles klar. Wiederhören.“
„Und, was wollte der?“
„Och, nichts weiter. Wollte dich nur loben wegen der vielen begeisterten Anrufe, die wir derzeit bekommen für die Sendung.“
„Äh, tatsächlich?“
„Und dann sollst du Paul noch ausrichten, dass er den Job kriegt. So viel Einsatz muss belohnt werden, hat er gesagt.“
„ …“
„ …“
„ …“
„ …“
„Was?“