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Verwählt
Das Telefon klingelte. Häuptling fühlte sich moralisch verpflichtet, das Gespräch anzunehmen. Außerdem: Was konnte es schaden? Bester Dinge trat er aus seiner Single-Küche in den kleinen Flur und griff nach dem auf der Anrichte angerichteten Mobilteil des Telefons.
„Häuptling“, meldete er sich aufgeräumt.
„Hallo?“, sagte eine männliche Stimme am anderen Ende.
„Ja?“, erwiderte Häuptling. Und weil nichts weiter geschah, wiederholte er: „Häuptling.“
„Wo bin ich da?“
„Häuptling“, repetierte Häuptling erneut.
Stille am anderen Ende. Dann ein Knacken in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.
Häuptling schnaubte. So etwas konnte er ja gerade leiden. Wenn er sich verwählte, entschuldigte er sich immer. Und er beendete ein Gespräch niemals als erster. Aus Prinzip nicht. Aber nicht jeder hatte eben eine gute Kinderstube. Häuptling schüttelte mißbilligend den Kopf. Er wollte gerade das Telefon aus der Hand legen, als es erneut klingelte.
„Häuptling“, meldete er sich.
„Hallo?“, sagte eine männliche Stimme.
„Haben Sie gerade schon mal angerufen?“
„Ich, äh, wo bin ich da?“ gegenfragte die Stimme.
Im Hintergrund hörte Häuptling eine Frau etwas sagen: „Leg auf, ich hab Dir die falsche …“
„Bei Häuptling sind Sie da.“
„… das ist die Versicherungsnummer“, endete die Frau.
„Was? Wo bin ich da?“
„Häuptling.“ Inzwischen kam Häuptling sein eigener Name unsinnig vor. Er hatte vor kurzem in einem Magazin gelesen, dass man sich von Sprache absichtlich entfremden könne, indem man ein Wort wie „Telefon“ oder „Bausparvertrag“ einfach zehnmal hintereinander laut aussprach. Das Hirn erkenne die Worte dann nicht mehr so richtig und man frage sich notgedrungen, welcher Vollidiot Sprache eigentlich irgendwann einmal ersonnen hatte. Und wozu.
„Das ist nicht die Versicherung“, hörte Häuptling die Frau sagen.
„Ich hab doch die Nummer gewählt, die Du mir gegeben hast“, erwiderte der Mann.
„Entschuldigung“, brachte sich Häuptling ein. „Ich glaube, Sie haben sich verwählt.“
„Das ist aber die Versicherungsnummer“, sagte die Frau.
„Ja, die habe ich ja auch gewählt. Warum bin ich dann jetzt nicht bei der Versicherung?“
„Sie sind nicht bei der Versicherung. Es tut mir sehr leid, Sie müssen sich wohl verwählt haben. Sie sind bei Häuptling“, sagte Häuptling.
„Jetzt halten Sie mal bitte einen Augenblick den Rand“, musste sich Häuptling maßregeln lassen. „Ich spreche mit meiner Frau.“
„Hören Sie bitte, wie reden Sie denn mit -“
„Pscht, Ruhe“, unterbrach ihn der unverschämte Anrufer. Häuptling war sprachlos. „Warum erreiche ich die Versicherung nicht, wenn ich die Nummer der Versicherung wähle?“
„Weil Du nicht die Nummer der Versicherung gewählt hast, sondern die Versicherungsnummer“, erklärte die Frau.
Stille. Ein Rappeln in der Leitung. Dann: „Gib mir das mal her.“ Rascheln von Papier.
„Hallo?“ versuchte Häuptling zaghaft den Wiedereinstieg ins Gespräch. Er hatte kurz überlegt, ob er einfach auflegen solle, aber moralisch konnte er sich dazu nicht durchringen. Es ging ums Prinzip.
„Selber Hallo", raunzte ihn sein Gegenüber an. „Ich möchte jetzt bitte den ..." - Papier raschelte wieder - " ... den Herrn Däumling sprechen.“
„Sie sind hier bei Häuptling.“
„Jaja, das habe ich inzwischen kapiert, Winnetou. Haben Sie ja oft genug gesagt. Ich will aber mit Däumling sprechen“, insultierte der Mann ungehindert weiter.
„Ich kenne aber keinen Herrn Däumling.“
„Dann schauen Sie doch in Ihre Liste. Oder in den Computer. Irgendsowas werden Sie doch wohl haben in Ihrem Laden da!“ brauste ihn der Mann an.
„Sie – haben – sich – ver – wählt“, versuchte es Häuptling nun auf die ganz harte Tour. Es war ihm unbegreiflich, wie ein sprachbegabtes Lebewesen eine solche zerebrale Pachidermie aufweisen konnte, ohne bereits als medizinische Sensation gehandelt zu werden.
„Vergreifen Sie sich jetzt mal nicht im Ton!“ giftete der Mann vom anderen Ende der Leitung.
„Hartmut, das ist nicht die Versicherung!“ beschwor die Gattin des Amoktelefonierers ihren Angetrauten im Flüsterton.
„Hören Sie auf Ihre Frau“, klinkte sich Häuptling ein. „Ich bin nicht die Versicherung!“
„Sach ma, wollt ihr mich hier alle verarschen?!“ keifte Hartmut am anderen Ende der Leitung. Papier raschelte eifrig, übereifrig. „Ich hab doch hier … hier die Scheiss-Nummer gewählt. Hier die. Warum ist denn da nicht die Versicherung? Sie geben mir jetzt sofort den Däumling!“
„Es tut mir sehr leid, aber ich kenne keinen Däumling!“ wurde jetzt endlich auch Häuptling etwas lauter.
„Schreien Sie mich nicht an!“
„Ich schreie nicht, Sie schreien!“
„Verdammte Scheissversicherung! Wenn es ans Bezahlen geht, dann seid ihr alle nicht mehr zuständig, kenne ich doch! Dreckskerle! Augenblicklich verbinden Sie mich jetzt mit dem Däumling, Sie Scheissefresser!“
Häuptling hielt das Telefon vor sich und starrte es mit weit aufgerissenen Augen an.
„Sonst … Sie werden schon sehen! Ich kenne Mittel und Wege!“ monologisierte Hartmut weiter. „Hallo!? Hallo? Sind Sie noch da? Die Drecksau hat aufgelegt!“ Es knackte in der Leitung.
Wie angewurzelt stand Häuptling in seiner Diele, das Telefon weiterhin von sich gestreckt, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Er zuckte zusammen als das Telefon erneut klingelte. Und wieder, als es erneut klingelte. Und erneut, als es wieder klingelte. Dann hielt er den Apparat ans Ohr und nahm zögerlich das Gespräch an: „Bitte?“ fragte er vorsichtig.
„Spreche ich mit Däumling?“ fragte Hartmut.
„HOI!“ heulte Häuptling. „PÖ, TÖ!“ spie er hinterher, um abschließend „LING!“ zu schreien.
„Hören Sie mit der Scheisse auf und geben Sie mir Däumling!“ forderte Hartmut unverdrossen.
Häuptling schnaufte. Er war gefangen, dem wahnsinnigen Hartmut hilflos ausgeliefert. Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg, wie er zu hyperventilieren begann.
„Los, machen Sie, ich will mit Däumling sprechen. Holen Sie ihn ans Telefon, Sie Scherge!“
Häuptling schwindelte, der Sauerstoffgehalt in seinen Lungen, in seinem Blut nahm kontinuierlich weiter ab. Er brauchte Hilfe. Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung.
„Ich …“, hechelte er in den Hörer. „Ich verbinde.“
„Na also“, hörte er Hartmut im Brustton schwellenden Stolzes das Wort an seine Gattin richten. „Man muss nur wissen, wie man mit den Leuten reden muss.“ Häuptling öffnete derweil die Wohnungstür, trat in den Hausflur und lief eilends die Treppe in den ersten Stock hinab, während er sich Hartmut darüber beklagen hörte, dass der „Scheißladen nicht mal so ’ne Warteschleife“ hätte.
Häuptling kam vor der Wohnungstür der Schwerdthalters zu Atem und läutete. Herr Schwerdthalter war der mit Abstand ungehobeltste Mensch, den er jemals kennengelernt hatte. Jedenfalls vor seinem Gespräch mit dieser telefonischen Nemesis. Und die einzige Hoffnung, die Häuptling noch blieb, war, dass sich Feuer mit Feuer bekämpfen ließ. Um dem irrsinnigen Hartmut am Telefon Paroli bieten und ihn nachhaltig an einem weiteren Anruf hindern zu können, nahm es Häuptling sogar auf sich, Schwerdthalters Spott auf sich zu ziehen. Frau Schwerdthalter öffnete die Tür. Sie sah bedrückt aus, aber das kümmerte Häuptling für den Moment nicht. Er hatte ein wichtiges Anliegen.
"Hallo, guten Morgen, Frau Schwerdthalter", sagte Häuptling. "Ist ihr Mann vielleicht zu sprechen?"
Frau Schwerdthalter schüttelte den Kopf. "Er spricht gerade."
Und aus der schwerdthalterischen Küche und aus dem mitgebrachten Mobilteil vernahm Häuptling in Stereo: „Fällt mir jetzt erst auf, Hilde, aber der Drecksack von der Versicherung heißt genauso wie der Vollidiot über uns!“