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Vorhaben
Weiße, dicke Flocken fallen vom Himmel. Weich wie Watte scheinen die einzelnen Kristalle zu Boden zu schweben, werden vom Wind wieder aufgewirbelt, tanzen in unregelmäßigem Rhythmus.
Er mag solche Tage, mag die Stille, die sich mit dem Schnee über das Land niederzulegen scheint, mag das gedämpft knirschende Geräusch seiner weißen Turnschuhe. Einmal, erinnert er sich, als er noch klein war und das erste Mal Schnee lag, hatte seine Mutter es nicht geschafft ihn davon zu überzeugen Schuhe anzuziehen. Nach einiger Zeit der Diskussion ließ sie ihn barfuss hinaus laufen. Bis zum kleinen Gartentor war er gekommen, erst da spürte er die schmerzende Kälte. Verstört war er umgekehrt, blieb nach etwa der Hälfte des Weges stehen, schaffte es nicht zurück zur Haustür und fing an zu weinen.
Jetzt lächelt er bei dem Gedanken. Es ist ein hartes, verächtliches Lachen, das sogleich wieder von seinen Lippen verschwindet. So schnell, dass man sich als Außenstehender nicht sicher sein könnte, ob es je da gewesen ist und man sich letztendlich dagegen entscheiden würde, glaubte, man habe es sich nur eingebildet.
Mit schnellen Schritten läuft er weiter die dunkle Straße entlang, die rechte Hand aus seiner Hosentasche ziehend, nach der Schneeschicht auf der Mauer greifend. Dahinter liegt ein Friedhof, verschneit ragen die einzelnen Grabmale aus dem Boden und doch sieht auch dieses Szenario ruhiger, irgendwie weniger abschreckend aus, als sonst. Er drückt die Schneemasse zwischen seiner Faust zusammen, spürt wie sich die Kälte auf seiner Hand ausbreitet, doch bevor der Schmerz eintritt, schmilzt die Masse zu einem Eisklumpen und kleine Tropfen rinnen seine Haut entlang. Seine Finger pochen, werden warm. Plötzlich überkommt ihn das Verlangen sich wie damals seine Schuhe einfach auszuziehen und barfuss weiter zu gehen.
Aber nein, heute war ein wichtiger Tag, ein Tag, der so nie wieder geschehen würde. Sicher, das konnte man über jeden sagen, denn nie wiederholt sich ein Tag eins zu eins und doch, man braucht sich nur an das letzte Jahr zurückzuerinnern, welcher Tag ist einem da schon genau im Gedächtnis geblieben? Die meisten vergehen so schnell, gefüllt mit Belanglosem, dass man sie bereits am Abend schon wieder vergessen hat.
Schließlich erreicht er die Bushaltestelle, blickt auf die Uhr: noch 12 Minuten. Normalerweise ist er nie so früh, eigentlich sogar immer zu spät und so muss er des Öfteren auf den nächsten Bus warten, was bedeutet, dass er die erste Schulstunde verpasst. Doch das war nicht weiter schlimm. Schon lange hatte er aufgehört sich im Unterricht zu beteiligen. Die Hausaufgaben erledigt er sporadisch, je nach dem, ob ihm das Thema sinnvoll erscheint oder nicht. Es ist in der Tat merkwürdig, dass er bisher nie Probleme mit seinen Noten hatte. Zwar war er nie Klassenbester, aber immerhin im unauffälligen Mittelfeld.
Sein Blick fällt zurück auf den Weg. Im dumpfen Licht der Straßenlaternen kann er seine Fußspuren fast bis zum Anfang der Straße zurückverfolgen. Es würde das letzte Mal sein, dass ein solches Zeichen seiner Existenz zu finden sei, denkt er fast wehmütig. Andererseits, was bedeuteten diese Abdrücke schon? In spätestens einer halben Stunde würden sie von einer anderen Person gekreuzt, vom Wind verweht, vom Schnee vernichtet sein. Es war wie mit allem im Leben, es war vergänglich.
Müde lässt er sich auf dem kalten Eisensitz unter der Plastiküberdachung nieder, beobachtet die Autos, wie sie an ihm vorbeiziehen. Das helle Licht ihrer Scheinwerfer blendet ihn, seine Augen schmerzen, seine Ohren rauschen. Er hasst diese Autos dafür, dass sie ihm seinen Schneemorgen verderben, dass sie mit ihren groben Reifen den Schnee am Fahrbahnrand braun-dreckig verfärben, dass sie mit ihren lauten Motoren seine Gedanken vertreiben, um seinen Kopf völlig mit ihrem monotonen Brummen auszufüllen.
Als der Bus endlich kommt, schlägt ihm bereits beim Einsteigen die schwüle, drückende Luft entgegen. Von Kopfschmerzen gequält, zeigt er seine Fahrkarte und setzt sich in die vorletzte Reihe. Die Türen quietschen beim Schließen.
Vor ihm sitzen einige aus seiner Schule, vier sogar aus derselben Stufe. Zwei Mädchen und zwei Jungen, wobei Erstere sich zu Letzteren umgedreht haben und sich angeregt über etwas unterhalten. Eines der Mädchen blickt zu ihm herüber, die Gruppe lacht auf.
Er schließt die Augen. Natürlich kann er nicht mit Bestimmtheit sagen, dass sie über ihn reden und doch hat ihn die Erfahrung gelehrt, bei der kleinsten Andeutung oder Möglichkeit mit dem Schlimmsten zu rechnen. Er war sooft Mittelpunkt von Spott und Beleidigungen gewesen, dass er es beinahe nicht mehr anders kennt. Meistens versucht er sie zu ignorieren, er weiß, es gibt immer zwei Seiten, zum einen die Täter, die andere beleidigen, zum anderen aber eben auch solche wie er, die es mit sich machen ließen. Natürlich, theoretisch klang das einleuchtend, doch wie oft hatte er versucht diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Wie oft hatte er gedacht, wenn er bloß nicht ganz so verschlossen wäre, den anderen zeigen würde, dass er sich gar nicht so sehr von ihnen unterschied, vielleicht gar kein Einzelgänger sei, würde er die Situation ändern können? Es ist aussichtslos und er hat sich damit abgefunden, ja hat sich seiner Rolle angepasst, spielt mit. Man erwartet von ihm anders, unnormal zu sein und er ist es; trägt dunkle Kleidung, manchmal Sonnenbrillen, obwohl es draußen regnet und von der Sonne nichts zu sehen ist, lacht nie, sitzt in den Pausen alleine am Schulhofsrand, ist eigenbrötlerisch, ein Außenseiter, ein Looser. Einmal in der 10ten Klasse sollten sie in Deutsch das Buch „Die Outsider“ lesen. Die Lehrerin meinte, während sie Inhaltsangaben verteilte: „Ich dachte, das passt zu euch.“ Sogleich kam die Antwort: „Zu uns nicht, Fr Grieß. Zum Johannes!“ Und obwohl diese Antwort sehr laut und für alle zu verstehen gewesen war, tat Fr Grieß so, als habe sie nichts bemerkt. Mit Lehrern ist es doch immer das Gleiche! Auch sie sind in gewisser Weise von der Sympathie der Schüler abhängig, zumindest lebt es sich mit dieser weitaus einfacher, und deshalb ist es nur verständlich, dass die so genannten Lehrkräfte sich nicht gegen eine ganze Klasse auflehnen, nur um einen zu verteidigen, der sowieso nie etwas Konstruktives zum Unterrichtsgeschehen beiträgt.
Der Bus stockt, er öffnet die Augen. Noch zwei Stationen. Langsam wird er nervös. Seine Hände umklammern seinen Rucksack, den er bewusst auf seinen Knien liegend festhält. Nichts wäre schlimmer, als wenn er ihm herunterfallen würde, ein anderer nach ihm griffe und dabei womöglich den Inhalt fühlte. Allein der Gedanke daran lässt ihn schaudern.
Dabei hat er alles genau geplant, nichts will er dem Zufall überlassen. Schon seit Monaten hat er sich auf diesen Tag vorbereitet, hat den Spott und die Feindseligkeit der Anderen zuletzt nur so ertragen können, hat das Gefühl ihrer Unwissenheit und seiner Überlegenheit genossen.
Der Bus fährt erneut an. Wieder hört er das Gelächter der vorderen Gruppe. Sollen sie doch, bald schon würden sie nicht mehr über ihn lachen, denkt er und stellt erstaunt fest, dass es ihn nicht mehr verletzt, sondern im Gegenteil sogar ermutigt. Eine merkwürdige Vorfreude mischt sich unter die Anspannung.
Einen Abschiedsbrief an seine Familie hatte er nicht geschrieben, zwar einen allgemeinen, in dem er diese scheiß Gesellschaft kritisierte, die Schule verdammte und seine Beweggründe zu erklären versuchte. Persönliche Worte jedoch an seine Mutter oder seine Schwester, Sätze der Reue, denn die verspürt er, wenn er an die beiden denkt, können sie doch nichts dafür und müssen dennoch mit den Konsequenzen seines Handelns leben, hatte er nicht verfasst. Es kam ihm zu heuchlerisch, zu unecht vor. Sie würden es früher oder später auch so verstehen, würden wissen, dass er kein schlechter Mensch war, würden ihm vielleicht irgendwann sogar verzeihen können. Er merkt, dass er zu Zweifeln beginnt. Nicht sehr, denn um zurückzukehren ist es zu spät. Was, wenn sich das alles nicht lohnte? Wenn sich nichts verändern würde? Nein, diese Gedanken hatte er schon oft genug verfolgt und war letztendlich immer zu dem Ergebnis gekommen, dass es richtig sei, dass sie es nicht anders verdienten. Es war dieses permanente Gefühl schlechter als die Anderen, wertloser als sie zu sein, diese Verachtung in ihren Augen, die er nicht mehr aushalten konnte, die ihn zerstört haben.
Endstation. Er steht auf. Noch beim Verlassen des Busses fällt sein Blick auf die Masse der ins Gebäude strömenden Schüler. Ahnungslos. Vor dem Hoftor bleibt er stehen, lehnt sich an diese, wartet auf den Gong, darauf, dass die meisten in den Klassenräumen verschwunden sind. 8 Uhr 2. Noch drei Minuten. Wieder beginnt es zu schneien. Die Zeit steht still.
8 Uhr 5. Mit zitternden Händen greift er in seinen Rucksack, geht zielsicher in Richtung Eingang.