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Voyeur
Abends ging er zu den Mündern, zu den Zungen, die sich ineinander verschlangen, zu Händen, die sich unter Röcke schoben, die tasteten, fühlten, forderten.
Er wusste, was sie suchten, er wusste, wann sie ihr Ziel erreichten, erkannte es an ihren Seufzern und an ihren Schenkeln, die sich öffneten, Finger, die über seinen Schritt glitten, nein, nicht seinen, den des anderen, Finger, die streichelten, erregten, ihr Kopf, der sich senkte und hob und senkte, entblößte Haut, hell in der Nacht, manchmal beschienen vom Mond, ihre Arme, die sich um seinen Hals schlangen, wenn sie sich auf ihn setzte, ihr kreisendes Becken. Stoßen, heben und senken, Laute, manchmal erstickt, manchmal verhalten, manchmal sich Bahn brechend.
Er fasste sich nie an dabei. Aber er drang mit ein. Fühlte die Weichheit, in die der Andere sich zwängte. Ihre Lust trieb ihm das Blut in den Schwanz, ließ ihn pulsieren, sich aufbäumen. Er lieh sie sich. Lieh sich die anderen Hände, die das warme Fleisch unter ihrem Shirt kneteten, lieh sich seine Fingerkuppen, die Brustwarzen streichelten, rieben.
Hier, in seinem Gebüsch, fasste er sich niemals an. Erst danach, zu Hause, im Dunklen seines Schlafzimmers, lieh er sich mit geschlossenen Augen nochmal ihre Lust, ihr Leben.
Er ging immer den gleichen Weg, verließ seine Wohnung etwa eine halbe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, im Sommer später, im Frühling und im Herbst früher. Der Winter war die Zeit der vergeblichen Hoffnung, im Frühjahr ein anderer zu sein. Aber jetzt war Sommer.
Er trug Sportschuhe, die seinen Gang leise machten, ein zahnloser Tiger, der zwar nicht mehr das Erbeuten, aber das Anschleichen beherrschte. Meistens trug er eine bequeme Hose, ein kurzärmliges Hemd, beides in dunklen Farben, die in der Nacht verschwanden.
Sein Weg führte ihn vorbei an einem Abenteuerspielplatz mit verzweigtem Klettergerüst und einem Gestrüpp aus Seilen, er überquerte die Hauptverkehrsstraße an einer Ampel, betrat den Park, folgte einem Kiesweg. Manchmal war noch Zeit für eine Zigarette, wenn es noch nicht ganz dunkel war, bevor er seinen Ort aufsuchte. Seinen Platz und den von Frauen und Männern, die draußen in einer warmen Sommernacht ungestört sein wollten.
Ein Gebüsch hinter einer einsamen Bank, ein vergessener Ort, zugewachsen, tagsüber kaum besucht, weil große belaubte Bäume ihm die Sonne und die Aussicht nahmen.
Ausharren voller Ungeduld, voller Vorfreude, voller Verzweiflung, ohnmächtiger erregender Scham.
Heute musste er lange warten. Es war lau und einladend und sternenklar und voller lüsterner Schwüle. Die Unbequemlichkeit, das Stillhalten gehörten dazu. Manchmal hatte er, während er wartete, die Vision, Sarah würde mit einem Lover auftauchen. Ihm noch einmal zeigen, was er damals gesehen hatte, als er nach Hause kam. Erst geahnt, dann erlauscht, dann durch den Türspalt erlebt. Das Bild, sie kniend, ihr Hinterteil ihm, dem anderen, zugereckt, die anderen Hände, die sich in das Hüftfleisch seiner Frau krallten. Ihr Keuchen, das er geglaubt hatte zu kennen und das sich ganz anders anhörte. Fremd. Wie bei den Paaren auf der Bank vor ihm.
Eine Frau und ein Mann schritten über die Wiese und näherten sich der Bank, setzten sich eng aneinander. Sie flüsterten nur, ihre Worte drangen nicht bis zu ihm. Sie ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. Sein Arm legte sich um sie. Manchmal waren sie ganz still und er achtete darauf, sich nicht zu bewegen. Als ein Wind und eine kleine Nachtkühle aufkamen, zog der Mann seine Jacke aus und legte sie über ihre Schultern. Sie gingen nicht, sie taten nichts, sie blieben einfach. Irgendwann drehte der Mann seinen Kopf zu ihr, zog sie noch ein wenig enger an sich und küsste sie.
Seine Beine schmerzten, sein Hintern auch. Die beiden unterbrachen die Nachtstille kaum noch mit Worten, und ebenso still musste er sitzen.
Sie waren nicht gekommen, um etwas zu tun. Sie waren gekommen, weil die Nacht lau und schön war. Und weil es herrlich war für sie, an diesem verträumten Ort zu sitzen. Weil es nichts Schöneres für sie gab, als sich nah zu sein, als miteinander allein zu sein. Weil sie fühlten, dass alles ihnen gehörte, der Ort, die Zeit, das Leben, das vor ihnen lag.
An diesem Abend spürte er etwas, was er an diesem Ort noch nie gespürt hatte. Nicht nur seine steifen, unbewegten Glieder, in denen kaum mehr Blut zirkulierte. Er fühlte die Erniedrigung, die Scham, die Einsamkeit, die seine war, die ihm gehörte.
Die halbe Nacht war verstrichen, endlich standen sie auf, gingen ohne sich aus den Armen zu lassen.
Er blieb noch eine Weile in seinem Versteck. Dann kroch er aus dem Buschwerk, setzte sich auf die Bank, die dort, wo sie gesessen hatten, noch warm war. Und irgendwo tief im Inneren dieses Berges von Traurigkeit, der sich auf ihn gelegt hatte, spürte er, dass etwas begonnen hatte, sich Bahn zu brechen. Schmerzen, die seine waren.