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Wünschen darf man sich alles
Wichtel Tomte stand unter der Wunschzettelanzeige in Werkshalle II. Er sah vom gigantischen Monitor zu dem Klemmbrett in seinen Händen, hob das oberste Blatt an und schaute erneut zum Bildschirm. Rasant flossen die Wünsche abwärts, eine schier endlose Liste rot glühender Begrifflichkeiten. Er seufzte. Die Nachtschicht würde das Soll nicht erfüllen. Das bedeutete Mehrarbeit. Schon wieder.
Er hob den Blick. Zu Hunderten hantierten seine Leute an den Fließbändern, Stanzen und Kreissägen. Im Akkord hämmerten, löteten und leimten sie, ihre Zipfelmützchen wie grüne Bauteile im Getriebe einer Manufaktur. Es waren so viele. Wie sollte er ... weiter vorne staute sich der Warenfluss, die zwei zuständigen Wichtel zankten.
»Hei! Was ist hier los?«, rief er und zeigte auf den Stau.
»Ah… Mestari! Gut, dass du da bist«, sagte der eine. Die geäderte Nase zeugte von zu viel Met. Den anderen zeichnete eine Narbe vom Ohr bis zum Kinn.
»Kraft deines Amtes musst du einen Streit schlichten«, sagte Knollennase.
Tomte rückte die Mütze mit der Brosche zurecht. »In welcher Frage herrscht Unfrieden?«
»Was ist der beste Weihnachtsfilm aller Zeiten?«, fragte Narbengesicht, die Pupillen groß wie bunte Teller.
Tomte nickte. »Nennt mir eure Wahl. Du, fang an«, befahl er dem Trinker.
»Ist das Leben nicht schön?«
»Stirb langsam!«, schrie Narbengesicht.
»Äh, Stirb langsam ist kein Weihnachtsfilm!«, empörte sich Knollennase.
»Was! Fängst du jetzt wieder an? John McClane rettet den H-Day! Dieser deutsche Terroris…«
»Häh! Deutsch? Das wird nie erwäh...«
»In der Originalfassung ...!«
Tomte hob die Hand. »Das reicht!«
Die beiden Streithähne schlossen die Schnäbel.
»Werdet ihr meine Entscheidung akzeptieren, so wie die alten Bräuche es verlangen?«, rezitierte Tomte die Tradition.
Die beiden nahmen Haltung an. »Jawohl, Mestari«, antworteten sie unisono.
»Ich, als Zeremonienmeister, kenne die Antwort. Höret die Wahrheit! Der größte Film zum H-Day, ist ... (bedeutungsschwangere Pause) … Weihnachten bei den Kindern aus Bullerbü!«
»Ohhh …«, machten beide beeindruckt.
Tomte nickte. »Genau. Nun gehet in Frieden an die Arbeit und seid fleißig, auf dass die weiße Weihnacht über euch komme! Ich habe gesprochen!«, beendete er die Zeremonie.
Die zwei verbeugten sich und gingen zum Fließband, dabei fachsimpelten sie weiter über Achtziger-Jahre-Actionfilme.
Tomte wandte sich ab. Stirb langsam. Also ehrlich. Mit solchen Schiedssprüchen hatte sein Vater damals als Mestari bestimmt nicht zu tun. Als kleiner Wichtel hatte Tomte mit Pap jedes Jahr am Vorabend des H-Day die Abenteuer aus Bullerbü schauen dürfen. Auch diese kleinen Wesen wünschten sich weiße Weihnachten, wenn auch anders als wir heutzutage, dachte Tomte.
Ein Alarm ertönte und Förderband Fünf stoppte.
Zipfelmützen drehten sich, neugierige Blicke ob der Ursache der Sirene. »Auuu!« ertönte es, aus Richtung der Schneidwarenfertigung, dicht gefolgt von einem »So eine Kagge!«
Innerlich seufzte Tomte. Nicht das noch. »Weitermachen!«, rief er den Gaffern zu. »Legt euch ins Zeug! Kommt schon, hängt euch rein! Die weiße Weihnacht gibt’s nicht geschenkt!«, versuchte er sie zu motivieren. Und tatsächlich: Förderband Fünf ruckte und lief wieder, der Klangteppich schwoll an. Tomte klemmte das Brett unter den Arm und stiefelte los, zur Quelle des Gezeters.
Schon von Weitem sah er den Schreihals. Es war Snorre. Der alte Wichtel presste die Mütze mit einer Hand vor die Brust, das Gesicht käsig und glänzend. Eine Wichteline stand vor ihm, über die anderen Finger gebeugt.
»Hei! Was ist passiert?«, rief Tomte.
Snorres Kopf fuhr herum. »Was passiert ist? Das kann ich dir sagen, Mestari! Der da oben, mit seinem Druck-Druck-Druck, den Quoten und Dädleins, der ist passiert! Das hätt’s früher nich’ gegeben, das sach’ ich dir! Wenn dein Pap das noch erlebt …«
In Tomtes Kopf verschmolz die Tirade mit dem Hallenlärm zu einer Monotonie. Er sah auf zum höher gelegenen Panoramafenster. Von dort, hinter der Scheibe, hatte man die Werkshalle gut im Blick. Doch das Büro lag im Dunkeln. Je näher der H-Day rückte, umso seltener sah man den Alten. Das war schon so, als sie den 24. noch Heiligen Abend nannten und Tomte ein kleiner Wichtel war, gerade groß genug, um übers Fließband zu gucken. Ein Schrei von Snorre katapultierte ihn zurück in die Gegenwart.
»Verdammt, Emmi! Nicht so fest!«
»Halt still, sonst kann ich die Blutung nicht stoppen!«, ermahnte sie ihren Patienten und bastelte weiter am Druckverband, bestehend aus Geschenkpapier und Tesafilm.
Snorre gehorchte halbherzig, fuchtelte mit der Zipfelmütze vor Tomtes Gesicht herum. »Und überhaupt!«, schrie er ihn an, »welches Kind wünscht sich ein Battaflaimesser? Und dann noch so‘n Schäbiges!« Tomte öffnete den Mund, doch Snorre hob die gesunde Hand: »Schon gut, schon gut. Wünschen darf man sich alles«, sagte er feierlich.
Tomte nickte und sah zum Halleneingang: Wie immer, wenn ihr Credo auf Maloche erklang, glitt sein Blick automatisch zu den gusseisernen Lettern über den Toren der Werkstatt: Wünschen darf man sich alles. Tomte spürte einen Stich, als würde sein Herz mit einer angespitzten Zuckerstange gepikst.
Snorre atmete durch. »Guck ma’ bitte, ob du meinen Finger findest, der muss da irgendwo liegen.«
Das Körperteil lag unter dem Förderband, er pustete kurz und kräftig drauf, befreite es von Pastikfusseln und Staub. Es war der Mittelfinger, sauber abgetrennt unter dem ersten Glied.
Snorre hielt die Zipfelmütze wie ein Säckchen auf und Tomte ließ den Mittelfinger hineinfallen.
»Danke, Mestari«, sagte Snorre und schaute grimmig zum Panoramafenster. »Den brauch ich noch, wenn ich den Alten das nächste Mal sehe!«
»Das war’s.« Die Wichteline klopfte dem Patienten auf die Schulter.
»Dank dir, Emmi«, sagte Tomte. Sie lächelte ihn aus müden Augen an und ging zurück ans Fließband. An Snorre gerichtet, fuhr Tomte fort: »Hast du noch Flocken?«
Der alte Wichtel sah betreten zu Boden. »Hab vorgestern den Rest vom November geschnieft«, nuschelte er.
»Geh an meinen Spind«, sagte Tomte, »im obersten Fach findest du ein Tütchen Neuschnee. Nimm dir ein Näschen. Nicht alles, hörst du?«
Snorre grinste schief und die unsichtbare Zuckerstange stach erneut in Tomtes Brust. Unwillkürlich dachte er an seinen Vater. Pap und Snorre waren zu Lebzeiten Freunde gewesen, hatten jahrelang Spielzeug nach Maß gefertigt. Was Pap jetzt sagen würde, wenn er seinen Kumpel sehen könnte: mit fahler Haut und schlechten Zähnen, die Hand in blutigem Geschenkpapier?
Tomte räusperte sich. Schluss damit. Er hatte eine Pflicht zu erfüllen. Dem Alten gegenüber und seinem Volk. »Zwei Stunden, dann will ich dich und deine acht Finger wieder an Station Fünf-Zwo sehen. Verstanden?«
»Geht klar, Mestari.« Mit hängendem Kopf trottete der Wichtel zum Ausgang.
Tomte kam ein Gedanke. Rasch blätterte er durch die Papiere auf dem Klemmbrett. Er fuhr mit dem Finger über die Zeilen, fand, was er suchte und pfiff hinter Snorre her. Der drehte sich um. »Kevin Bauer!«, rief Tomte und zeigte auf das Brett.
Snorre schüttelte fragend den Kopf.
»Siebeneinhalb Jahre alt, lebt in Berlin-Neukölln!«, rief Tomte. »Er hat sich das Butterflymesser gewünscht!«
»Kann’s dem Hosenscheißer nicht verübeln! Manchmal ist genug einfach genug!« Snorre winkte zum Abschied und schlurfte davon.
Tomtes Blick wanderte vom Verletzten zur Wunschzettelanzeige und endete beim dunklen Bürofenster des Alten. Genug ist genug. Tief in in ihm drin, verknüpfte er mit diesen Wörtern etwas ... etwas Wichtiges, doch Tomte kam nicht auf die Lösung.
Am Ende der Halle entdeckte er Ruprecht. Wie ein Riese ragte der glatzköpfige Knecht aus der Masse an Mützen heraus. Gerade hielt er einen von ihnen kopfüber am Fuß und drosch mit seiner Rute ›Balthasar‹ auf den blanken Popo. Die Schreie des Wichtels gingen im Kreischen der Kreissägen unter.
Tomtes Magen knurrte. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, daher verschob er die Ermittlung, wessen jetzt roter Hintern am Band zu langsam gewesen war und machte sich auf den Weg zu den Automaten.
Der Pausenraum stank nach Schweiß, Nikotin und verbrannten Mandeln. Aus den Deckenlautsprechern schräbbelte Bing Crosbys White Christmas. Tomte stand vor dem Snackautomaten, doch die Gedanken kreisten nicht ums Essen. Seit dem Vorfall mit Snorres Finger gingen ihm die letzten Worte einfach nicht mehr aus dem Kopf.
»Hei, Mestari, wird das noch was?«, tönte es hinter ihm. »Die Pause is’ zu kurz zum Schlangestehn! Und Verspäten is’ nich’, die weiße Weihnacht gibts nich’ geschenkt!«
»Jau, sorry, bin schon weg.« Wahllos drückte Tomte drei Ziffern, ein Snack plumpste in das Ausgabefach. Er fischte ihn heraus und ging zum Sofa, jeder Schritt entlockte dem Resopalboden ein klebriges Rpp-rpp-rpp. Tomte besah sich seine Wahl: ein Tetrapak Eierlikör. Der Strohhalm fehlte. Und … abgelaufen, seit vier Jahren. Tomte seufzte, warf den Snack in den von Verpackungsfolien überquellenden Mülleimer und ließ sich in die Polster fallen, die Federung zwickte fies am Hintern. Er rieb die juckenden Augen und merkte erst jetzt, im Sitzen, dass die Erschöpfung ihn begrüßte wie einen langjährigen Freund.
»Hei, Mestari? Wie sieht’s aus?«
Müde sah Tomte auf. »Hm?«
Am Tisch saß eine Wichteline, sie nagte an einem kandierten Apfel-am-Stiel. Vor ihr eine halb leere Flasche Schwarzwasser, das rot-weiße Etikett an den Ecken abgeknibbelt, die Knibbelkügelchen lagen in einer Linie wie zusammengeschobener Schnee.
»Wie ist die Lage?«, fragte sie. »Meinst du, wir schaffen das Pensum?«
Tomte warf einen Blick auf den Wandkalender: Miss Dezember räkelte sich oben ohne vor einer geschmückten Nordmanntanne, an den Nippeln der Elfe baumelten klitzekleine H-Day-Kugeln. Siebzehn Tage bis zur Deadline.
»Ist es das, was du dir wünschst?«, fragte er und erntete ein heftiges Nicken.
»Das wünsche ich mir sooo sehr«, sagte sie und nuckelte am Strohhalm, »Meterhoch reines Weiß für alle, so viel, dass man ... ich weiß nicht ... Schneemänner daraus bauen oder Schlitten fahren könnte!«
Er musterte sie. Durch das Untergewicht, die Tränensäcke und die schwieligen Hände wirkte sie älter. Sie brauchte dringend eine Dusche. Das Nasenpiercing setzte Rost an. Sie ist ja beinahe noch ein Kind, dachte er. »Bist du nicht zu jung für reinen Neuschnee?«
»Pffrt«, machte sie, winkte ab und biss die letzten, großen Stücke aus dem Apfel. »Alla dö öch könnö wönschn söch daf!«, sagte sie.
Tomte verschränkte die Arme vor der Brust. »Aha. Und wenn alle, die du kennst, Rudolph umschubsen, machst du das dann auch?«
»Du klingst wie mein Pap, echt jetzt.« Ihr Grinsen enthüllte mangelhafte Zahnfleischpflege. Sie leckte den kandierten Holzstiel ab.
Kopfschmerzen erblühten in Tomtes Schläfen, er kniff mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel. »Wer ist dein Pap? Vielleicht kenne ich ihn.«
»Ach, Pap ist schon lange tot«, sagte sie im Plauderton.
»Das tut mir leid. Arbeitsunfall?«
»Nö. Diabetes.« Ihr Zeige- und Mittelfinger formten eine Schere. Schnipp-Schnapp. »Typ-Zwei.«
Tomte war nicht überrascht. Zucker war eine der häufigsten Todesursachen, zusammen mit Arbeitsunfällen und ›Tod durch Balthasar‹. Auf Platz Eins stand natürlich Selbstmord.
»Du solltest vorsichtiger sein, mit dem, was du dir wünschst«, ermahnte er die Wichteline.
»Wünschen darf man sich alles«, erwiderte sie feierlich und hob die Arme an, als wäre der Holzstiel ein Basketball, zielte auf den Mülleimer und traf exakt den Verpackungshaufen. Sie nahm die Schwarzwasserflasche und schlenderte aus dem Pausenraum.
Tomte kratzte sich am Bart. So jung. Snorres letzte Worte mäanderten hinter dem Kopfschmerz durch seinen Geist.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Pausenraum für sich hatte. Er atmete durch. Da war sie wieder, die angespitzte Zuckerstange.
Neuschnee für alle, als Belohnung zum gelungenen Fest. Wann hatte das angefangen? Er versuchte sich an Snorres Erzählungen zu erinnern: Die Frau des Alten war damals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwunden und der Alte selbst kam von einer Geschäftsreise aus Amerika zurück. Den Schlitten beladen mit rot-weißen Getränkekisten, voller Flaschen prickelnden Schwarzwassers. Es musste um diese Zeit gewesen sein, dass den Alten neue Freunde aus Kolumbien, China und Bangladesch besuchten. Sie brachten Kisten und Päckchen, der Alte schenkte ihnen Schwarzwasser ein; lachend stießen sie an.
In der folgenden Weihnacht tauschte er die braune Pelzjacke und den Schlapphut gegen ein rotes Gewand und eine Zipfelmütze ein. Eines Morgens stand das erste Fließband in der Werkshalle und damit begann das automatisierte Einlesen der Wunschzettel, angeblich durch moderne Technik aus Asien, die der Alte hinter verschlossenen Türen im Büro hatte errichten lassen.
Das musste in dem Jahr gewesen sein, als Tomte mit Pap zum letzten Mal Bullerbü schaute. Tomtes letzte und die erste weiße Weihnacht für alle. »Genug ist genug!«, hallte es aus den Tiefen der Erinnerung empor. Doch es war nicht Snorres Stimme, sondern der Bariton seines Vaters. Was ...?
»Hei, Mestari! Da bist du ja!« Emmi stand in der Tür, mit Flecken auf den Wangen, ihr Atem ging schwer.
Tomte schüttelte die Vergangenheit ab. »Bitte nicht noch ein Unfall!«
»Nee, schlimmer! Es ist Ruprecht! Er bestraft Floki!«, rief sie und düste schon wieder los.
»Ich komme!« Tomte sprang auf und rannte hinterher, »Was ist passiert?«
»Bin mir … nicht sicher«, japste sie, »glaubt man … dem Flurfunk … hat es was … mit … Geheimnachrichten … zu tun!«
Geheime Nachrichten? Tomtes Gedanken rasten wie Schlitten auf einer vereisten Piste: Floki, Floki … malochte der nicht in Halle IV? Bediente eine der Nähmaschinen? Wie sollte er da geheime … Tomtes Herz machte einen Satz, als einer der metaphorischen Schlitten den Huppel der Erkenntnis erwischte. Verdammt, Floki.
Sie erreichten Ruprechts Refugium. Hinter der geschlossenen Doppeltür der ›Man-Cave‹ lief brachialer Viking-Rock. Emmi hielt sich am Türrahmen fest und stöhnte: »Hgh … ich muss mit dem Rauchen aufhören.«
»Gute Idee«, sagte Tomte und griff nach der Klinke. Doch Emmi hielt ihn auf.
»Ich kann nicht. Muss wieder los, Greta vertritt mich an der Kreissäge.«
»Greta?« Tomte zog eine Grimasse.
»Niemand anderes hatte Zeit, okay? Die weiße Weihnacht gibt’s nicht geschenkt.«
»Na los, ab mit dir. Und Greta soll sich wieder hinlegen, das Kind kann jeden Tag kommen!«
Emmi flitzte los. »Danke, Mestari! Und hol unser’n Floki da raus!« Weg war sie.
Tomte atmete durch und öffnete die Tür. Der Lärm krachte ihm entgegen. So mussten Trolle nach zu viel Met und Flocken klingen.
Ursprünglich war der Raum das Luxus-Fitnessstudio des Alten gewesen, doch nachdem seine Frau mit diesem grünhaarigen, die Feiertage hassenden Miesepeter durchgebrannt war, ließ der Alte sich immer mehr gehen. Und so war sein Handlanger irgendwann eingezogen, hatte es zur ›Männerhöhle‹ erkoren und heruntergerockt:
Es standen nur noch wenige Trainingsgeräte herum, in der Ecke hing ein mit Panzerband geflickter Sandsack. Die Wände zierten Tierschädel, Trophäen von Ruprechts Jagdausflügen: viele Widder, aber auch ein beeindruckender Zwölfender. Auf dem Boden lagen Amarettoflaschen und fleckige Unterwäsche neben Fast-Food-Kartons, der Gestank nach Marzipan, Moschus und Müll war kaum zu ertragen.
Ruprecht stand mit dem Rücken zur Tür, der Hüne hatte Tomtes Ankunft nicht bemerkt. Er war mit etwas (oder jemandem?) vor sich beschäftigt, doch seine breite Statur verdeckte die Sicht. Auf dem geschorenen, tätowierten Schädel sah Tomte eine frisch gestochene Rune glänzen.
»Hei, Knecht!«, rief Tomte laut, weil er wusste, dass der Bastard den offiziellen Titel hasste.
Ruprecht hielt inne und wandte sich um. Als er Tomte erkannte, grinste er und griff nach der Fernbedienung. Der Krach endete abrupt. »Was willst du hier?«, grollte Ruprecht, »bist gekommen, um deinem Kumpel zu helfen, hm?« Er lachte leise, es klang, als würde Geröll durch einen Tannenwald rauschen.
»Tritt zur Seite, Knecht! Du hast kein Recht …«
»Nenn mich nicht so!«, donnerte der Waldschrat und langte nach ›Balthasar‹, dem vor Kerben strotzenden Knüppel. Ruprecht richtete ihn auf Tomte. »Ich bin das Recht, du jämmerlicher Wicht!«, brüllte er und machte einen Schritt.
Und da sah Tomte ihn. Floki. Der Wichtel hing entkleidet und regungslos an einer Lichterkette, an den Händen gefesselt und mit erhobenen Armen an einer Klimmzugstange aufgehängt. Im Blinklicht leuchteten die Blutergüsse grün, lila und blau, Tomte glaubte, ein Rinnsal zu sehen, das von den Lippen troff. Er, Tomte, war zu spät. Die Bestrafung hatte stattgefunden. »Oh, nein … Floki«, hauchte er.
»Kannst deinen Kumpel mitnehmen, wir sind fertig mit ihm, Mestari.« In Ruprechts Worten lag Spott, als er ein Jagdmesser aus einer Scheide am Gürtel löste. Der Knecht stellte ein Bein auf einen Subwoofer, legte ›Balthasar‹ übers Knie und schnitzte eine Kerbe hinein, zufrieden brummte er die Melodie von Last Christmas.
»Was hat er getan? Was wirst du ins Buch schreiben?«, fragte Tomte, als er die Leiche von der Stange befreite.
Ruprecht vollendete die Kerbe und blies auf den Schläger. »Unartiges Verhalten, Anstiftung zur Verschwörung und Widerstand bei der Urteilsvollstreckung!«
»Verschwörung?«, fragte Tomte.
Ruprecht wies mit dem Holz auf einen Papierschnipsel, der auf einer Hantelbank lag. »Erst dachte ich, der Wicht will die Maschine mit eigenen Wünschen füttern«, sagte er und schwang den Schläger wie beim Baseball.
Tomte ließ den Leichnam behutsam zu Boden sinken, trat zur Hantelbank und hob das Zettelchen auf.
›sos – wir arbeiten bis zur erschöpfung im ausbeuterbetrieb des weihnachtsmannes – schickt hilfe – sos‹ las er.
»Doch dann stellte sich heraus, dass dein Kumpel doch nur ein weinerlicher Feigling war. Kann halt nicht jeder das Genie des Alten haben, erst recht keiner von euch«, schloss Ruprecht.
Tomte hörte gar nicht mehr zu. Ach, Floki! Warum hatte der Wichtel ihn nicht um Hilfe gebeten? Hatte er? Tomte versuchte sich zu erinnern, doch bis auf Sommersprossen, ein ehrliches Lächeln und blonde Locken wollte es ihm nicht gelingen. Es waren einfach zu viele Wichtel! Wie hatte Vater das nur so lange und vor allem so gerecht hinbekommen?
»Hei, Winzling!«, rief Ruprecht, »jetzt nimm deinen Kumpel und verpiss dich, bevor ›Balti‹ dir auch den Schädel bricht!«
Tomte steckte das Zettelchen ein, schulterte den Toten und ging hinaus. Hinter ihm setzte der Lärm wieder ein.
»Ruhe, Leute, seid doch bitte mal ruhig!« Tomte stand in Halle II auf der zum Rednerpult improvisierten Drehbank und versuchte, bei aberhunderten Wichteln Gehör zu finden. Doch es war zum Rentiermelken! Sie waren so aufgekratzt vom Schnee und Zucker, dass sie pausenlos quasselten. Das außerplanmäßige ting war wie brennbarer Rum, vergossen über eine eh schon lodernde Feuerzange.
Snorre trat an seine Seite. Er hob das tragbare Bedienfeld der Alarmsirene und drückte darauf. Warnleuchte und Tonsignal sprangen an. Rasch verstummte das Geschnatter.
»Danke«, sagte Tomte.
Snorre nickte. »Mestari.« Ton und Lampe erloschen.
»Brüder und Schwestern!«, begann Tomte, »Ich habe euch versammelt, um eine Entscheidung zu verkünden!«
Alle blickten ihn an. Vernarbte Gesichter, die Augen tief in den Höhlen. Mürrische Mienen unter den Mützen. Darsteller im traurigsten Weihnachtsmärchen aller Zeiten.
War das seine Schuld, dass es soweit gekommen war? Auf jeden Fall war er der falsche Wichtel für diese Position. Er war nicht sein Vater. Tomte holte tief Luft. »Ich habe entschieden! Mit dem heutigen Tage … werde ich nicht länger euer Zeremo…«
»Laaangweilig!«, rief jemand dazwischen.
»Jau, komm’ zur Sache! Du verhinderst noch die weiße Weihnacht!«, tönte ein anderer.
»Genau, ich muss noch fünfhundertachtundreißig Handtaschen nähen!«, schrie eine Wichtelin.
»Na und?«, brüllte ein weiterer, »Bei mir sind es fünfhundertvierzig!«
»Sei doch froh! Du darfst nähen! Dieser Kleber stinkt wie Rentierkacke!«
»Du stinkst!«, ertönte es anonym.
»Wer hat das gesagt?«
Die Aufmerksamkeit war dahin. In dem Meer aus Mützen brandete Unruhe auf, die Wichtel zankten miteinander, stritten, wer welche Arbeit hatte, wie viel davon anstand und wie unangenehm sie stank. Hie und da starteten Rangeleien.
Gedankenverloren kramte Tomte in den Taschen, doch fand nur Flokis Zettelchen. Er drehte es zwischen den Fingerspitzen, dachte angestrengt darüber nach, was Ruprecht gesagt hatte. Was war es noch gleich …?
Dann blitzte es auf wie eine Sternschnuppe am Weihnachtsabend. Hastig betätigte er die Sirene. »Hört mir jetzt zu!«, rief er aufgeregt, »Wer von euch in den letzten Jahren hochwertiges Holzspielzeug fabriziert hat, der hebt die Hand!« Er überlegte kurz. »Wer keine Hände mehr hat, ruft ›hier‹!«
Das Herumschubsen endete. Niemand hob die Hand oder rief etwas..
Tomte bekam Gänsehaut. »Wer in den letzten Jahren irgendetwas hochwertiges hergestellt hat, das es wert ist, an Weih… am H-Day verschenkt zu werden, hebt die Hand!«
Sie starrten ihn bloß an. Die Zuckerstange stach durch sein Herz.
Tomte wurde schwindelig, die Drehbank schien auf einmal aus Plumpudding zu bestehen. Hitze brodelte in seinem Innern wie kochend heißer Glühwein, seine Sicht verschwamm, er wankte und das Bedienfeld fiel aus der Hand.
Da waren Snorre und Emmi an seiner Seite. »Mestari! Alles in Ordnung?«, fragte die Wichtelin und stützte ihn.
»Nichts ist in Ordnung.« Er schüttelte den Kopf. Der Schwindel ließ nach und Tomte löste sich von ihr. »Es geht schon.« Er blinzelte und sein Geist fokussierte die gusseisernen Buchstaben hinter dem wogenden Mützenmeer: Wünschen darf man sich alles.
Da wusste Tomte, was zu tun war. Hochgradig riskant, es würde die Welt dieser naiven Wichtel auf den Kopf stellen. Doch er sah keine andere Chance.
»Emmi, du beruhigst diese eingeschneite Bande! Dann verteilst du die Nüchternsten auf Stationen an Förderband Fünf-Zwo! Danach stellst du die Anlage auf Reset. Als Nächstes …«
»Aber, Mestari! Das löscht alle offenen Wunschzettel!«
»Ich weiß«, antwortete Tomte. »Vertrau mir. Wenn die Anlage auf Werkseinstellung steht, wartest du auf mein Zeichen.«
Sie war ein wenig blasser, nickte jedoch tapfer.
»Gut. Danke. Snorre, du suchst einen bestimmten Wichtel und bringst ihn rasch zum Büro. Bring Papier und Stifte mit!«
»Ist gut. Wen soll ich finden?«
Tomte überlegte. Mist. »Er arbeitet am Band und hat eine große Narbe im Gesicht. Oh, er liebt Filme, diese amerikanischen Action-Blockbuster!«
Snorre knurrte: »Den Rabauken kenne ich! Das ist Tony!«
»Tony, das Narbengesicht. Den meine ich!«
Es war der Morgen des 24. Dezember.
Tomte, Snorre, Emmi, Tony und weitere Wichtel verharrten im dunklen Büro, versteckt hinter Plastikpflanzen, Vitrinen und im toten Winkel des Eingangs, als sich der Tür Geräusche näherten:
»Was? Nein, nein, da mach dir mal keine Sorgen! Pablo ... hab ich es jemals nicht geschafft?«, sagte der Alte und lachte. »Dank eurem Pulver sind die wie diese Häschen aus der Batteriewerbung! Die kannst du den ganzen Tag laufenlassen! Unkaputtbar! Was? ... Ja, bisschen Schwund ist immer! Jaha!«
Der Schlüssel kratzte im Schloss, die Tür ging auf. »Hm? Neues Produkt? ... Abfall? ... Gestreckt?« Der Alte schaltete das Licht an und ging mit dem Smartphone am Ohr zum Schreibtisch. »Womit? ... Backpulver?«
Der große Raum war überfrachtet mit Schwarzwasser-Merchandise. Da gab es Wimpel und Flaggen, in den Vitrinen standen rot-weiße LKW-Modelle. Von der Lampe bis zum Aschenbecher, nahezu alles zierte das Konzernlogo in Schnörkelschrift.
Der Alte lachte. »Na dann bring deinen gelben Backpulver-Piss-Schnee mit, ich jubel den meinen fleißigen Äffchen als weiteren Bonus unter! Die werden es lieben! Hm? Jau, tschüssikowski!« Er hängte die Lederjacke über den Chefsessel, steckte die Sonnenbrille in die Brusttasche des Hawaiihemdes, nahm Platz und tippte mit gesenktem Kopf auf dem Smartphone herum.
Die Tür fiel langsam von selbst zu, Tomte kam zum Vorschein.
Die Wichtel traten lautlos aus den Verstecken hervor, gekleidet in Kevlarwesten und Cargohosen, die Zipfelmützen eingetauscht gegen olivgrüne Stirnbänder. Sie richteten ihre fabrikneuen Pistolen, Schrotflinten und Sturmgewehre auf den bärtigen Alten im Stuhl.
Tomte räusperte sich.
Der Alte sah auf … und erstarrte. »Was, zum Teufel ...?«
Tomtes Miene war hart wie Stein. »Sei still. Hör nur zu.«
»Ho-Ho-Ho,Tomte! Das muss ein Miss...«
Tony feuerte seine Beretta ab. Die Kugel flog haarscharf am Kopf vorbei und fetzte ein Loch in den Sessel. »Mach, was unser Mestari dir sagt«, knurrte das Narbengesicht.
»Schon gut, schon gut. Wow«, murmelte der Alte und schwieg.
Tomte senkte die Waffe. »Wir wissen jetzt, was du hier abziehst. Damit ist ab sofort Schluss. Du hast genau zwei Optionen. Bist du bereit für Option A?«
Der Alte lächelte scheinheilig.
»Option A: Du wirst sauber. Und damit meine ich rein wie frisch gefallener, echter Neuschnee. Du schickst deine Ausbeuter-Partner und Schneelieferanten in die Wüste und stellst die Produktion wieder um, auf echte Kinderwunschzettel und Maßarbeit, so wie früher. Des Weiteren sorgst du für ein Entzugsprogramm und ordentliche Bedingungen im Betrieb. Ich spreche von geregelten Arbeitszeiten, gesundem Essen, Urlaubstagen und Zahnersatz.« Tomtes Seitenblick strich über die Wichtel-Guerilla: »Jede Menge Zahnersatz«, endete er.
Der Alte legte betont vorsichtig das Smartphone auf den Schreibtisch und senkte die Hände unter die Platte. »Und Option B?«
Tomte sah ihm in die Augen. »Wir zwingen dich dazu.«
Der Alte starrte zurück. »Was habt ihr mit Ruprecht gemacht? Gibt’s den noch?«
Tomte ließ sich mit der Antwort Zeit. »Er hat den Tod verdient. Viele Male. So zahlreich wie die Schnitzer auf seinem Kerbholz.«
Auf der Stirn des Alten glänzte jetzt Schweiß.
»Doch er lebt«, erlöste Tomte ihn, »wir haben deinem Knecht das Werkzeug abgenommen und ihn in den Wald gejagt. So wie ich den Mistkerl einschätze, schafft er es bis nach Korvatunturi. Also, wie lautet deine Entscheidung?«
»Wie seid ihr an die Knarren gekommen?«, fragte der Alte und nickte in Richtung der Gewehrläufe.
Tomte gestattete sich ein Schmunzeln. »Unser Tony hier hat eine Weihnachtsfilmtradition: Er kennt Stirb langsam auswendig. Keine Herausforderung, die genaue Bezeichnung der Waffen auf unserem Wunschzettel aufzulisten (In Wahrheit musste Tomte Tony sogar bremsen, der Wichtel hatte bereits ›Raketenwerfer‹ und ›C4‹ notiert).«
»Yippie-kay-yeh, Motherfucker«, sagte Tony.
Der Alte zog die Brauen empor. »Wünschen darf man sich alles«, sagte er leise.
Tomte nickte nur.
»Du erinnerst mich an deinen Vater, Mestari.« Der Unterarm des Alten bewegte sich ganz langsam weg vom Oberschenkel. »Hast denselben Schneid.« Seine Zunge leckte über die Lippen. »Als er damals herausfand, was ich mit den Amis, den Schlitzaugen und den kolumbianischen Schneemännern ausheckte, war er ganz aufgebracht.« Der Arm des Alten kroch weiter, nur ein, zwei Millimeter, »er faselte davon, mich ›zur Strecke zu bringen‹ und ›sein Volk zu beschützen‹.«
Tomte glaubte, unter dem Schreibtisch ein metallisches Klicken zu hören.
Der Alte grinste. »Eine Phrase hat dein Pa immer und immer wieder geschrien, willst du wissen, welche es war? Er sagte …!«
Ein monströser Knall und der Schädel zerplatzte in Blut, Gehirnmasse und Knochensplittern, rote Fetzen spritzten umher, Zähne perforierten das Panoramaglas.
Der Torso kippte hintenüber, nur die Füße in Flip-Flops ragten hinter dem Schreibtisch hervor.
Ein matschiger Blutklumpen fiel von der Decke, das Fenster zerbarst in Myriaden von Scherben.
Grimmig schaute Snorre über den qualmenden Lauf seiner Pumpgun. »Genug ist genug.«
Tomtes Wichtelohren klingelten. Er umrundete den Schreibtisch. Unter der Tischplatte hatte der Alte nach einer gut versteckten Maschinenpistole greifen wollen.
364 Tage später versammelten die Wichtel sich am Abend in der Werkshalle II.
Am Ende einer feierlichen Zeremonie löste Tomte die Mestari-Brosche von der Zipfelmütze und überreichte sie Emmi, die sie unter Jubel und Applaus ansteckte. Sie hatten abgestimmt und entschieden: Jedes Jahr am 23. Dezember würden sie ein neues Oberhaupt wählen.
Stolz schaute Tomte auf seine Leute. Gemeinsam hatten sie den Betrieb umgekrempelt und fertigten wieder echte Kinderwünsche in Maßarbeit an. Herausforderungen, wie das Lenken des Schlittens – Tony fluchte auf dem Kutschbock wie ein Kesselflicker – sahen sie mit Aufregung entgegen. Es würde schon gutgehen.
Die neue Kantine spendierte einen traditionellen Weihnachtsschmaus, der Beginn einer besinnlichen Feier in den heiligen Tag hinein. Die Wichtel, deren Insulinwerte es erlaubten, gönnten sich Glühwein, Nüsse und Printen. Es wurde gelacht und getanzt, über einen Projektor schauten sie erst Weihnachten bei den Kindern aus Bullerbü und im Anschluss Stirb langsam.
Und sie überreichten sich selbstgebastelte Geschenke. Wie der Zufall es wollte, hatte Tomte dabei den Namen Svea aus der Mütze gezogen, eben jene, die er vor über einem Jahr im Pausenraum getroffen hatte.
Sie war nicht mehr so dürr, die Haut besaß eine gesündere Farbe und ihre frisch gewaschenen Haare dufteten nach Honig.
Er überreichte ihr sein Wichtelgeschenk: drei selbst gedrechselte Zahnbürsten, mit handverlesenen Rentierborsten.
»Danke, Tomte«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln.
»Gern geschehen«, sagte er. »Es gibt aber noch eine Überraschung für dich.«
»Was? Noch eins?« Verwirrt schaute sie auf seine leeren Hände.
Er schmunzelte. »Komm mit, ich zeig’ es dir.« Er führte sie zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Draußen schneite es dicke Flocken, die Umgebung lag bereits unter einer glitzernden, weißen Decke und das Treiben nahm gerade erst Fahrt auf.
»Wünschen darf man sich alles«, sagte Tomte und erwiderte ihre stürmische Umarmung. »Frohe Weihnachten.«