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Warten
Der Hund müsste dringend nach draußen. Er kratzt an der Wohnungstür, winselt, kommt zu Johanna gelaufen und wirft sich vor ihr auf den Bauch. Die großen braunen Augen flehen. Sie krault ihn hinter den Ohren und schiebt ihn beiseite. Sie hat jetzt keine Zeit für den Hund, kann nicht fortgehen, sie muss warten. Johanna hat schon so oft gewartet. Vielleicht lohnt es sich heute.
Ziellos wandert sie durch die Wohnung, der flauschige Teppich kitzelt ihre bloßen Füße. Vom Wohnzimmer in den Flur, durch die Küche. Ihre Hand streift sacht über die sauberen Armaturen, sie öffnet die Kühlschranktür, sieht in den glänzenden Innenraum und lässt sie wieder zufallen. Hunger hat sie jetzt nicht, schon den ganzen Tag nicht. Essen ist zweitrangig.
Zurück in den Flur, ins Arbeitszimmer. Der Bildschirm strahlt ein Aquarium in den Raum. Sie beobachtet die Fische für einige Minuten, bevor sie sich abwendet. Sie könnte ihre Emails abrufen, aber sie fürchtet sich davor. Es könnte so sein wie immer.
Flur und Schlafzimmer. Das breite Bett, sauber gemacht. Beiges Leintuch, orangefarbene Bettwäsche. Johanna hat sie gewechselt, heute morgen. Ein Schaudern läuft über ihren Rücken, als sie an den letzten Abend denkt. Seine Hände auf ihrer Haut, sein Geschmack auf ihren Lippen, sein Körper an ihren gedrückt, als sie einschliefen. Gestern Abend war es Zuneigung, Wärme, Nähe.
Heute sind es nur noch diffuse Eindrücke, verschwommene Körper im Kerzenlicht. Wie Ereignisse aus einem Film. Etwas, das nur anderen passiert. Ihr Geist hat die Nähe aufgetrunken und nun ist sie verbraucht.
Das Wohnzimmer ist dunkel und kühl. Die Balkontür steht noch offen. Sie tritt hinaus, spürt die Kälte auf ihren bloßen Armen, unter den Sohlen ihrer Füße, wie sie sich in ihren Körper frisst.
Gestern hat Johanna nicht gefroren. An seinen Körper gelehnt, seine Arme um sie geschlungen hat sie die Kälte nicht gespürt, obwohl der Wind die Härchen auf ihrer Haut aufstellte. Zuckendes Blaulicht, das von der Straße heraufblitzte, erleuchtete seine Züge, als er sie zu sich umdrehte, sie küsste, auf die Stirn, die Nase, den Mund. Sie konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht nehmen, fragend, ängstlich, während seine Hände schon über ihren Rücken liefen, ihre Hüften streichelten, nach empfindlichen Stellen suchten.
Erst, als sie ins Schlafzimmer zurückgekehrt waren, konnte Johannas Körper wieder die Kontrolle über sie übernehmen. Seine Nähe war so real, so intensiv, dass sie ihren Geist täuschen konnte, der es besser wusste. Sie schaffte es, die Augen zu schließen, sich den Berührungen hinzugeben und sich von Wärme überschwemmen zu lassen. Ohne ihn anzusehen, war es leichter, jemand anderes zu sein. Sie konnte hören, wie er ihr einen fremden Namen gab, ohne dass es allzu sehr schmerzte. Sie musste keine Wärme in seinem Blick suchen, sie hörte sie in seiner Stimme. Für einige Zeit konnte Johanna Lisa sein. Geborgen.
Der Balkon wird ihr zu kalt. Johanna kehrt in die Wohnung zurück. Sie glaubt, ihn noch riechen zu können, eine Mischung aus Schweiß, Wein und dem Geruch längst gelöschten Kerzenlichts. Wahrscheinlich bildet sie sich das nur ein.
Der Hund hat eine Pfütze vor der Eingangstür hinterlassen. Er selber ist unter das Sofa gekrochen und macht ein betretenes Gesicht. Johanna holt Eimer und Lappen, wischt auf, will ins Wohnzimmer zurückkehren.
Ihr Blick fällt auf einen Zettel auf dem Boden. Sie hebt ihn auf, ein karierter Fetzen Papier, darauf in ihrer eigenen Schrift, ihre Telefonnummer, ihre Emailadresse. Gestern hat sie sie aufgeschrieben, hoffnungsvoll. Auf dem Weg von der Kneipe zu ihrer Wohnung hat sie ihm den Zettel in die Hand gedrückt. Als er aufgehört hatte, von seiner Freundin zu erzählen, und dem Streit, den sie gehabt hatten. Als er nur noch Johanna ansah und ihr sagte, wie schön sie sei.
Sie nimmt die Leine vom Haken, schlüpft in Mantel und Winterstiefel, pfeift den Hund. Es hat keinen Sinn, zu warten, auch er wird nicht wiederkommen.
Die vorgegebenen Wörter waren: Hund, Nase, Kerzenlicht, Balkon, Blaulicht