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Weihnachtliche Nebenwirkungen
Ich habe Menschenmengen schon immer gehasst. Ins Kino gehe ich nie, zum Glück kann man die neuesten Filme schon kurz nach der Premiere anderweitig bekommen und sie sich in Ruhe auf dem Sofa zuhause anschauen. Konzerte besuche ich auch nicht, genausowenig, wie ich zu anderen Zeiten als frühmorgens oder so spät wie möglich einkaufen gehe, damit ich bloß nicht in einer Schlange anstehen muss. Dass man heutzutage alles online bestellen kann, kommt meiner Veranlagung sehr entgegen. Ich bekomme fast alles geliefert, was man im Alltag braucht.
Wenn es doch mal passiert, dass ich in einer Menschenansammlung sein muss, schlimmstenfalls auf beengtem Raum, muss ich meine ganze Kraft aufbringen, um ruhig zu bleiben. Dann versuche ich, im Kopf Rechenaufgaben zu lösen oder konzentriere mich auf irgendein Detail in meinem Blickfeld und lenke mich so gut es geht von den Gedanken und Gefühlen der Panik ab, die in mir hochkommen. Ich fange an zu zittern und mir wird übel. Allein der Geruch von anderen Menschen hat mich schon einmal in einem Bus ohnmächtig werden lassen. Berührungen von Personen, die ich nicht gut kenne, vermeide ich weitmöglichst. Ich habe die verschiedensten Taktiken entwickelt, um andere nicht umarmen oder ihnen die Hand geben zu müssen.
Wenn es mir nicht gelingt, mich abzulenken und auf andere Dinge zu konzentrieren, während Leute ganz nah bei mir stehen, wenn ich mich eingeengt fühle und die irrationale Angst, erdrückt zu werden, Besitz von mir ergreift, gehen die seltsamsten Fantasien in meinem Kopf los. Ich sehe vor mir, wie ich um mich schlage, jeden niederdrücke und zur Seite dränge, über Leiber und Köpfe renne, um heraus an die Luft, in die Freiheit zu gelangen. Manchmal ist es so schlimm, dass ich in Gedanken sogar Waffen benutze, meine Tasche auf den Schädel des einen haue, dem anderen einen Kugelschreiber in den Hals ramme oder mir Schusswaffen wünsche.
Hätte ich in solchen Momenten ein Gewehr zur Hand, würde ich wie wild um mich ballern, so viele wie nur möglich dieser Eindringlinge in meine Privatsphäre erschießen, und zur Abwechslung mal die Panik derjenigen genießen, die sich über meine Furcht vor Kontakten lustig machten. Es würde mich in solchen Momenten nur noch interessieren, meine Freiheit wieder zu erlangen und mich zu rächen. Das Einzige, das dann noch zählen würde, wäre, es ihnen heimzahlen zu können, dass sie mich wie ein Stück Vieh eingezwängt haben. Ich könnte sie von ihrem nutzlosen Dasein mit einem Gnadenschuss befreien und würde den anderen lachend bei der Flucht zusehen, denn die bekäme ich beim nächsten Mal.
Eigentlich bin ich ein gewaltfreier Mensch. Ich hasse Horror -, Kriegs - und Actionfilme. Ich bin gegen Waffenbesitz und verabscheue Fanatismus jeglicher Art, Kampfhunde und sogenannte Selbstverteidigungstechniken eingeschlossen. Meine Interessen sind eher wissenschaftlicher Natur, wobei ich einen guten Roman und erlesenes Essen ebenfalls zu schätzen weiß. Beruflich schreibe ich Computersoftware, natürlich nicht für Spiele, außer sie haben einen historischen oder kulturellen Hintergrund. Das kann ich von meinem Schreibtisch aus ganz selbstständig tun, ohne dass jemand mir sagt, was ich wann zu tun habe. Von meinem Büro aus sehe ich nach draußen auf eine ruhige Einliegerstraße, es gibt keine Geschäfte und keine Staus, hier leben viel ältere Menschen und es ist nie etwas los.
Gestern überwand ich mich und ging zu Mark, einem guten Freund, zu Besuch, obwohl er in einer Fußgängerzone wohnt. Trotz des Regenwetters war ich die paar Kilometer zu ihm gelaufen, damit ich nicht in die übervolle Bahn steigen musste. Bei schlechtem Wetter sind zum Glück nur wenige Leute auf der Straße, dachte ich mir, aber in der Einkaufsstraße wäre ich doch fast ausgeflippt wegen der Dutzenden von Regenschirmen all der an mir vorbei hastenden Menschen. Ziemlich atemlos erreichte ich seine Wohnungstür und war froh, mich in seinem ruhigen Zimmer ausruhen zu können. Er machte mir einen Kaffee, während meine Jacke über seiner Heizung dampfend trocknete, ich rubbelte mir die Haare mit einem Handtuch trocken und sah aus dem Fenster auf die Straße herunter.
„Schau dir die Massen an, die bei dem Wetter unterwegs sind. Was wollen die bloß alle hier? Es ist doch ein stinknormaler Arbeitstag? Ich werde das nie verstehen, warum man „shoppen“ geht“ , sagte ich zu Mark, als er mit dem Kaffee hereinkam.
„Es ist doch fast Weihnachten, mein Lieber. Das ist noch gar nichts gegen morgen, am Heiligabend selbst, da kommst du nur mit Gebrauch von Ellbogen bis zur Straßenbahnhaltestelle.“
„Ach? Hatte ich ganz vergessen. Wenn ich überhaupt etwas verschenken würde, dann einen Gutschein, damit man sich etwas online kaufen kann. Ist doch viel praktischer.“
„Ich weiß. Du hast echt ein Problem. Ein echter Einsiedler bist du. Schade, dass du nicht öfter in unsere Kneipe kommst. Übrigens, Leila hat nach dir gefragt.“
„Was heißt Problem? Für wen? Ich bin zufrieden, und die sollen mich in Frieden lassen, dann ist alles in Ordnung. Leila? Wirklich? Sie ist… nett,“ meinte ich zögerlich.
Leila war Marks Schwester und ich hatte sie bereits drei Mal mit Mark bei unseren Stammtischtreffen getroffen. Ich ging dort nur unregelmäßig hin. Der Stammtisch bestand aus Leuten, die ich noch vom Studium kannte, und mit denen ich mich über neueste Entwicklungen auf technischem Gebiet unterhielt. Leila war sehr hübsch, und längst nicht so oberflächlich wie die meisten anderen Frauen, die ich kannte. Ziemlich intelligent war sie auch, und das gefiel mir, auch wenn sie für meinen Geschmack zu sarkastisch über gewisse Dinge redete.
Das letzte Mal hatten wir ziemlich intensiv über ein philosophisches Thema diskutiert, bis die anderen uns baten, endlich aufzuhören. Mark hatte gesagt, wir sollten uns vielleicht mal alleine verabreden, um dieses Thema tiefer auszuloten, und das war sicher als Witz gemeint – Leila hatte doch bestimmt Besseres zu tun. Doch sie hatte mich seltsam angesehen, was mich ein wenig beunruhigte. Irgendwie herausfordernd und mit diesem schönen Lächeln, das mich an Katrin erinnerte.
Katrin war meine bisher einzige Freundin gewesen, wir haben drei Jahre lang, während und nach dem Studium, zusammengelebt. Sie war sehr klug und obwohl viele sie langweilig fanden, war ich fasziniert von ihrem Verstand. Wir hatten uns getrennt, weil ich von ihr zu oft Sex verlangte, behauptete sie. Leider war sie nun mal sehr verkopft und lehnte es ab, die Kontrolle zu verlieren, während ich die Befriedigung meiner körperlichen Bedürfnisse als willkommenen Ausgleich zu meinen ansonsten rein geistigen Aktivitäten ansehe. Mein Therapeut ist sehr zufrieden damit, dass ich ein sehr gesundes und reges Interesse an Sex habe. Es ist oft die einzige Triebfeder, die mich überhaupt unter Leute bringt.
Leila war interessant und ich gebe zu, dass ich des öfteren daran dachte, wie es wohl sei, sie zu küssen und sie nackt im Arm zu haben, aber sie war außerhalb meiner Liga. Viel zu hübsch, umgänglich und begehrt. Ich hatte ihr nichts zu bieten, und sie hätte mich bestimmt ausgelacht, wenn ich Annäherungsversuche gestartet hätte. Umso verwirrender war dieses Lächeln, und dass sie überhaupt mit mir redete. Und jetzt sollte sie sich nach mir erkundigt haben?
Ich war verwirrt, als Mark mehr von ihr erzählte, dass sie Single sei, dass ihr Freund ein Mathematikprofessor gewesen wäre. Dass sie intelligente Männer mochte und ihr kaum einer das Wasser reichen könne, was sie sehr bedauere. Dass sie einsam sei und schon viel zu lange allein.
„Mark, warum erzählst du mir das alles? Soll ich dir etwa helfen, deine Schwester zu verkuppeln? Ich kenne niemanden, den du nicht auch kennst. Und so wie Leila aussieht, wird sie schon keine Kontaktschwierigkeiten haben, das ist uns doch beiden klar.“
"„Dummkopf. Das ist mal wieder typisch. Dich muss man mit der Nase drauf stoßen, was? Sie mag dich. Das hat sie mir gesagt. Du solltest morgen Abend mit uns etwas trinken gehen und mit ihr flirten. Du hast doch bestimmt nichts vor, außer zuhause herumhängen, wie ich dich kenne. Ich habe lange drüber nachgedacht, ob ich das gut fände, wenn zwischen euch beiden was liefe, aber ich denke, ich könnte damit leben, und ihr würdet eigentlich ganz gut zueinander passen. Vielleicht holt sie dich ein wenig heraus aus deinem Eremitendasein. Und du kannst mithalten, wenn sie sich mal wieder für ein Mathematikproblem interessiert oder über den Zustand der Welt reden will.“
Ich war ziemlich baff von seinen Worten. Mark war ein guter Freund und sah scheinbar Qualitäten in mir, die ich mir nicht mal selbst zugeschrieben hätte. Leila und ich, was für ein Gedanke! Ich wurde schon erregt bei der Vorstellung, und zwar nicht von dem zu erwartenden, sicher anregenden Gedankenaustausch. Eine eventuelle Liebesbeziehung mit einem interessanten Menschen, nicht mehr alleine sein, nicht mehr allabendlich allein essen und Filme sehen, einschließlich Sex. Mit Leila. Was mir da für Bilder in den Kopf kamen, kann ich gar nicht erzählen.
Ich verließ Mark mit dem Versprechen, morgen in die Kneipe zu kommen und gelobte, nicht mit meinem Star-Wars-T-Shirt aufzutauchen. Auf dem Weg nach Hause war ich so in Gedanken vertieft, dass ich sogar jemanden anrempelte, was mir sonst nie passiert. Ich machte einen großen Bogen um alle belebten Straßen und rannte durch den Park zu meinem Haus, pitschnass, aber aufgeregt wie ein Schuljunge. Leila mochte mich. Ich musste mich morgen unbedingt von meiner besten Seite zeigen.
Am nächsten Morgen, nach Erledigung meines Arbeitspensums und ausgiebiger Körperpflege, bemerkte ich, dass meine Medikamente zur Neige gingen. Die von meinem Therapeuten verschriebenen Beruhigungspillen nahm ich unregelmäßig ein, immer nur dann, wenn ich mich zu schwach fühlte, den Anforderungen des Alltags ohne Angst entsprechen zu können. Wenn ich allein war, konnte ich tagelang ohne auskommen, aber wenn ich aus ging, immer wenn Kontakte bevorstanden, bei denen ich Bedenken hatte, es durchzustehen, brauchte ich ein paar. Heute war sicher so ein Tag, aber es war unerwartet, da ich die Feiertage eigentlich ganz gemütlich vor dem Fernseher hatte verbringen wollen. Nun hatte ich nur noch eine einzige Pille, die ich sofort nahm, als ich Atemnot bekam bei dem Gedanken, Leila schwitzend und stotternd begegnen zu müssen.
Zu meinem Pech kam, dass der Anrufbeantworter meines Therapeuten mich darüber informierte, dass er in Urlaub sei. Der Notdienst, den ich daraufhin kontaktierte, weigerte sich, mir das übliche Rezept auszuschreiben – ich könne doch leichtere Sachen rezeptfrei bekommen, sagte man mir. Diese spezielle Arznei dürfe man nur nach belegbarer Diagnose bekommen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in die Apotheke zu gehen und mir etwas zu besorgen, das mir über das Gröbste hinweg helfen würde.
Als ich von diesem Gang zurück kam, war ich fix und fertig und musste mich noch einmal lange unter die heiße Dusche stellen, um mich zu beruhigen. Die Pillen halfen kaum, mein Kopf schmerzte vor Eindrücken, mein Körper war verkrampft davon, wie ich mit meiner eng um mich geschlungenen Jacke versucht hatte, den Leuten draußen auszuweichen. Sogar in der Apotheke konnte man dem Weihnachtswahn nicht entgehen. Offensichtlich waren sogar Fieberthermometer beliebte Geschenke. Wie kam jemand nur auf die Idee, sich für die Feiertage mit Dingen von der Pharmaindustrie einzudecken? Es war unerträglich gewesen, mit all den hunderten von feierlich gestimmten Familien über die Gehsteige zu gehen, egal, wie sehr ich mich an die Häuserwände drückte. Ich musste Minuten warten, bevor ich die Apotheke überhaupt betreten konnte, weil dauernd irgendwelche Leute herein oder heraus gingen.
Mit mehr Stoff in mir, als laut Packungsbeilage gut für mich war, und noch mehr in den Hosentaschen, war ich gegen acht Uhr abends nicht wirklich bereit, mich unter das Volk zu begeben, aber es musste sein. Die Gelegenheit, Leila zu treffen, konnte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ein letztes Mal kämmte ich mir vor dem Spiegel mein störrisches, selbstgeschnittenes Haar mit meinem alten Nadelstielkamm. Ein Überbleibsel aus meiner Jugend, als ich zeitweilig Elvistolle trug, lang ist´s her. Aber er erfüllte seinen Zweck, also warum mich davon trennen?
Ich nahm den Bus, setzte mich ganz hinten in eine Ecke und sah nach draußen, um mir nicht zu sehr bewusst zu werden von den Menschenmengen, die ein- und ausstiegen. Ich musste eine Haltestelle weiter fahren als geplant, weil gerade bei meinem Stopp eine Traube von Jugendlichen den Eingang verstopfte und ich nicht das Risiko eines Zusammenbruchs riskieren wollte, sondern lieber abwartete, bis es leerer wurde. Dann ging ich in die Eckkneipe, in der die Jungs sein würden, sicher schon mit den ersten Bierchen intus. Und Leila.
Ich sah sie sofort, als ich den Raum betrat und konzentrierte mich auf ihren Anblick, auf ihr Gesicht, um es ohne Panikattacke durch die Leute zu schaffen, die überall zu sein schienen. Es war ziemlich voll, für meinen Geschmack zu voll.
„Warum sind die Leute nicht mit ihrer Familie zu Hause und feiern Weihnachten?“, fragte ich dann auch, als ich endlich am Tisch meiner Freunde ankam.
„Scheinbar alle Singles, oder Loser wie ich, die von niemandem eingeladen wurden,“ scherzte Georg, als ich mich schwer atmend auf die Bank setzte, wo Leila mir einen Platz frei räumte, wieder mit diesem geheimnisvollen Lächeln um ihren hübschen Mund. Freute sie sich, mich zu sehen?
„Oder Atheisten, wie wir, die ihren Protest gegen diesen Brauch ausdrücken wollen“, merkte Leila an.
„Wie wir? Gib zu, du hast doch bestimmt einen Baum zuhause, da wette ich drauf“, konterte ich.
„Willst du vielleicht nachher mit zu mir gehen, um das zu kontrollieren?“
Die ging aber ran. Die Gespräche blieben in diesem leichten, scherzhaften Ton, und es wurde viel getrunken. Ich hatte mich unter Kontrolle und amüsierte mich, leicht aufgeregt wegen der zweideutigen Versprechen und eindeutigen Blicke von Leila, die fantastisch aussah. Ich fühlte mich wohl und siegesgewiss.
Bis es passierte.
Es gab einen lauten Knall, der alle zusammenfahren ließ. Über die Musik hörte man plötzlich Menschen schreien. Alle fingen an, aufgeregt hin und her zu laufen und auf einmal wurde es dunkel. „Feuer!“, schrie eine Frau, und dann war alles nur noch Chaos. Wir sprangen auf, doch ich fiel sofort über jemanden, der auf dem Boden lag, und andere stürzten über mich. Jemand trat auf meine Schulter und ich wehrte weitere Fußtritte mit den Armen ab. Mir schlug das Herz bis zum Hals und als ich endlich sicher stand und versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren, griff ich sofort zu meinen Pillen und warf ein paar ein. Die Elektrizität war ausgefallen, doch mit einem Mal wurde es gleißend hell und ich sah durch den sich schnell verbreitenden Qualm eine Stichflamme aus der Theke schießen, die die Decke und alles in Brand setzte, was ihr in die Quere kam.
Im Licht der Flammen sah ich Menschen verzweifelt zum Ausgang rennen, sie drängten alle gleichzeitig zu der schweren Tür, die wegen der Kälte mit einem Vorhang verhangen war. Das Gekreische der Menschen und das immer lauter werdende Knistern des Feuers an den Holzstühlen und der Theke wurden ohrenbetäubend. Ich sah mich nach meinen Freunden um, nach Leila, doch die Bank war leer. Sie rannten irgendwo ebenfalls auf der Suche nach einem Ausgang herum.
Dann fing der Vorhang an der Tür an zu brennen. Ich sah schockiert und bewegungsunfähig zu, wie ein Mann von den Flammen erfasst wurde und wie eine Riesenfackel herum lief. Einige versuchten, ihn umzuwerfen und mit Jacken das Feuer zu ersticken, doch er stolperte wild um sich schlagend weiter und setzte alles in Brand, das er berührte. Er kam auf mich zu, was mich endlich dazu brachte, mich wieder bewegen zu können. Ich rannte zur Tür, kämpfte mich wie wahnsinnig durch die schreienden Menschen, doch obwohl der brennende Vorhang weggerissen worden war, verstopfte etwas den Ausweg. Die Panik in mir loderte hoch wie die züngelnden Flammen, ich bekam Atemnot, meine Lungen brannten vom Rauch, meine Augen schmerzten, meine Muskeln zitterten am ganzen Körper. Doch ich schlug um mich, stampfte über Mäntel oder Menschen, trat wimmernde Haufen zur Seite und schaffte es nach vorne, nur um zu sehen, dass die schweren Balken der Holztür quer und lichterloh brennend den Ausgang versperrten. Zurück, zu einem Fenster. Ich musste es schaffen. Wo war Leila? War sie schon draußen?
Sirenen heulten draußen auf, Hilfe war nah, doch noch immer waren Dutzende von Leuten mit mir in dem rotleuchtenden Raum eingesperrt, und alle rannten panisch zu den Fenstern. Glas zersprang, Menschen kreischten, rannten herum, heulten panisch. Vor einem der Fenster, die dummerweise aus lauter kleinen, dicken Butzenscheiben bestanden, die schwer zu zerschlagen waren, kämpften Männer mit den stabilen Rahmen, um ein Loch zu schaffen, das groß genug für uns war, während hinter uns die ersten brennenden Deckenbalken einstürzten.
Der Qualm wurde dicker, ich hustete mir die Seele aus dem Leib, aber schlimmer noch war es, dass ich bedrängt wurde von allen Seiten, eingezwängt von warmen, unbekannten, stinkenden Leibern. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu sammeln, doch die Panik überkam mich. Ich stieß diese unbequemen Körper weg von mir, warf jeden zur Seite, der mir zu nah kam, aber ich musste beim Fenster bleiben, sonst könnte ich nicht mehr atmen und käme nie hier raus.
Es waren zu viele, sie waren zu schwer, zu stark, zu verzweifelt vor Angst, um mir Platz zu lassen. Ich griff wieder in die Hosentasche, um noch eine Pille zu finden. Meine Finger fühlten den Kamm, den Nadelstielkamm mit seiner langen Metallspitze. Das würde sie lehren. Ich riss ihn heraus und stach auf den erstbesten Körper ein, der schwer an mir lehnte. Er fiel zu Boden, ich konnte wieder etwas besser atmen. Dann rammte ich die Spitze wie ein Messer in den Nacken des dicken Mannes vor mir, schob seinen schweren Leib zur Seite und kämpfte mich weiter nach vorn, wo ich Feuerwehrleute hinter den Scheiben sah, die uns zuriefen, wir sollten zurückgehen, damit sie die Öffnung ins Freie von außen vergrößern könnten.
Hinter uns züngelten die Flammen bedrohlich nah, brennende Tische und Stühle stürzten übereinander, die restlichen Männer und Frauen drängten sich auf die paar verbleibenden, nicht brenndenden Quadratmeter vor dem Fenster. Die hinten drängten weiter nach vorne, in Todesangst rufend und wie wahnsinnig um sich schlagend, während die vorderen sich vor den Äxten in Sicherheit zu bringen versuchten, mit denen die Feuerwehrmänner auf die Rahmen einschlugen. Ich drehte mich um und stach dem nächstbesten Typen, der auf meinen Rücken einschlug, meinen Kamm ins Gesicht, ich sah zu, wie die lange Spitze sich in seinen Schädel senkte, wie sein Ausdruck sich von panischer Angst zu Verwunderung änderte, bevor er mit blutendem Kopf zusammensackte. Wir würden sowieso alle verbrennen.
Ich brauchte Luft, ich brauchte Raum, ich musste sie beseitigen, alle, die mir im Weg standen, sie würden es nie lernen, wie wichtig es war, jedem seinen Freiraum zu lassen. Wenn wir doch alle verbrennen würden, wäre es ein gnädiger Tod, wenn ich sie zum Schweigen bringen könnte, wenn sie nur endlich aufhörten, zu schreien und sich auf mich zu stürzen. Ich stach immer wieder zu, einige brauchten bis zu zehn Stiche mit meinem Metall, bevor sie endlich Ruhe gaben. Die leblosen Körper stieß ich mit dem Fuß näher an das Feuer heran, um mir Platz zu verschaffen. Ich merkte, dass sie noch weiter kämpften und auf mich fielen, wenn ich nur in den Bauch oder in die Brust hieb. Einfacher war es dagegen, gleich in den Kopf zu stechen. Nach einem gezielten Treffer in die Mitte der Stirn waren sie sofort ruhig.
Schließlich waren nur noch vier oder fünf Menschen vor dem Fenster, die mir den Ausgang versperrten, ich ließ sie die Scherben zur Seite drücken und sich todesmutig durch die Öffnung quetschen, durch die die Feuerwehr Wasser auf uns spritzte. Ich keuchte und stieß mit den Füßen die Leichen vor mir weiter in den Raum, wie eine Schutzmauer vor den näher kommenden Flammen. Jeder Atemzug schmerzte und ich zitterte unablässig, ungeduldig, wann ich endlich hinaus brechen, weg von hier, weg von all dem sein könnte.
Dann fiel mein Blick auf lange blonde Haare, die ausgebreitet über den versengten Haufen Kleidung lagen, die meine Raserei hinterlassen hatte. Leila. Ich kniete mich vor sie hin und drehte ihre Schultern zu mir, achtete nicht auf die Flammen, die bereits an ihren Füßen leckten. Ihr Kopf fiel zur Seite und ich sah das Loch, das kleine, runde Loch, das mein Kamm zwischen ihren weit aufgesperrten Augen hinterlassen hatte. Ich setzte mich neben sie, hielt mir ihren Schal vor den Mund und wiegte sie in meinen Armen.
Durch den Rauch sah ich wie die letzten durch das Fenster gezogen wurden und Schaum und Wasser hineinspritzten. Es war nicht mehr wichtig, herauszukommen. Ich blieb einfach sitzen. Feuerwehrmänner mit Gasmasken versuchten jetzt, durch das Fenster zu uns hineinzusteigen, doch das Feuer hatte inzwischen auch die Fensterbänke ergriffen. Vom ersten Stock fielen immer mehr Balken und Bretter glühend herunter und schon bald konnte ich nichts mehr sehen.
Ich war ganz ruhig. Allein mit ihr. Wie ich es mir gewünscht hatte. Ich nahm den Stoff von meinem Mund und küsste Leila, das erste und letzte Mal, bevor ich bewusstlos wurde.