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Weihnachtsabend

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31.03.2014
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Weihnachtsabend

Bernhard Wiemann schloss die Tür der kleinen Leihbücherei.
Er stand am Fenster und schaute hinaus, beobachtete all die Menschen, die durch die Straßen hasteten, um ihre in letzter Minute gekauften Geschenke nach Haus zu bringen.
Ein sehnsüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. Er wünschte, er hätte jemanden, dem er ein Weihnachtsgeschenk kaufen konnte. Damit hätte er sicher nicht bis zur letzten Sekunde gewartet. Mit einem traurigen Seufzer schloss er die Fensterläden.
Die Welt war ausgesperrt.

Bernhard ging zu einem kleinen Tisch, breitete eine weihnachtlich aussehende Serviette auf ihm aus und schaltete das Radio ein. Er öffnete seine alte, abgewetzte Aktentasche und packte nacheinander ein paar Weihnachtsplätzchen und eine Thermosflasche mit heißem Tee aus. Beides hatte er am Nachmittag vorbereitet, bevor er hierher kam.
Auch eine Kerze stellte er auf den kleinen Tisch – immerhin war ja Weihnachten, nicht wahr?
Er zündete die Kerze an und machte es sich in dem alten, abgewetzten Ohrensessel, der seit ewigen Zeiten seinen Platz in der kleinen Bücherei hatte, bequem.

Jetzt fühlte er sich behaglich.
Nun, jedenfalls so behaglich sich ein Mensch fühlen kann, der weder Verwandte noch Freunde hatte, mit denen er den heiligen Abend verbringen konnte.

Diese Leihbücherei, in der er arbeitete, war seit dem Tod seiner Frau Marie vor etwa 25 Jahren gewissermaßen sein Zuhause.
Die Bücher und die Figuren in den Geschichten wurden seine Familie.
Manchmal sprach er zu einigen von ihnen und hin und wieder hatte er sogar das Gefühl, als antworteten sie ihm.

Er kletterte auf die schmale Leiter, die an einem hohen Regal lehnte, und fuhr mit dem Finger beinahe zärtlich an den Buchrücken entlang. Endlich hatte er gefunden, was er suchte, ein Lächeln erhellte sein Gesicht und legte es in tausend Falten.
Es war eine sehr alte Ausgabe von Paddington Bär, die schon lange niemand mehr in der Hand gehabt hatte.
Dies war als Kind sein Lieblingsbuch gewesen. Er bedauerte es sehr, dass die Kinder heutzutage den kleinen Bären nicht mehr bei seinen Abenteuern begleiteten.
Vorsichtig pustete er den Staub vom Einband und fühlte den Staub in seiner Nase kitzeln.

Er stieg die Leiter hinab und nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz.
Er öffnete die Thermosflasche mit dem Tee, in den er zur Feier des Tages einen gehörigen Schuss Rum gegeben hatte, und goss sich eine Tasse ein.
Dann öffnete er das Buch und begann zu lesen, während er ein paar Plätzchen knabberte und seinen Tee genoss.

Und während er in diesem wunderbar altmodischen Buch las, dachte er, wie schön es doch wäre, wenn er jemanden wie Paddington in dieser besonderen, doch für ihn einsamen Nacht zur Gesellschaft hätte.
Da plötzlich war es ihm, als hörte er ein leises Geräusch hinter sich. Er drehte sich um und versuchte herauszufinden, was die Ursache dieses Geräuschs war.

Er konnte jedoch nichts ausmachen, und so drehte er sich wieder um.
Er erschrak halb zu Tode, als er Paddington Bär an dem kleinen Tisch stehen sah. Paddington, mit seinem blauen Mantel und dem roten Hut, den alten Koffer in der Hand. Mit diesem Koffer stand er einst an der Paddington Station und ohne ihn verließ er niemals das Haus.

Bernhard wischte sich über die Augen.
Das...das musste doch ein Traum sein, dachte er.
Oder ich muss aufhören, Tee mit Rum zu trinken.

Während dessen lupfte Paddington seinen Hut.
"Guten Abend, Sir," sagte Paddington höflich.

Bernhard war vollkommen verdattert und antwortete: "G-g-g-guten A-a-a-abend... Mr. Brown."
Er hatte gerade die Seite gelesen, wo dem Leser erzählt wurde, dass Mr. Gruber Paddington immer "Mr. Brown" nannte – nach der Familie, bei der der kleine Bär lebte.
Paddington lächelte freundlich.
"Würde es Ihnen etwas ausmachen, Sir", fragte Paddington, "wenn ich Ihnen eine kleine Weile Gesellschaft leistete?"
"Aber selbstverständlich nicht!" gelang es Bernhard zu erwidern. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Er schob Paddington einen Stuhl hin und der kleine Bär nahm Platz.
"Oh, ich sehe, Sie essen gerade zu Abend, Sir", sagte Paddington erfreut. "Darf ich mich dazugesellen?"
Bernhard nickte nur, immer noch vollkommen perplex ob der Geschehnisse. Immerhin gelang es ihm, Paddington seine Weihnachtsplätzchen anzubieten.
Doch der kleine Bär schüttelte freundlich lächelnd den flauschigen Kopf, öffnete seinen Koffer und nahm ein Marmeladenbrot heraus.
"Mir genügt dies hier vollkommen, Sir, vielen Dank." sagte Paddington. "Ich habe immer ein paar bei mir, falls ich unterwegs in Schwierigkeiten gerate."
Bernhard schmunzelte.
Er hatte als Kind die Paddington-Bücher geliebt und natürlich wusste er alles über Paddington und seine Marmeladenbrote.
"Ich kann kaum glauben, dass du wirklich hier bist, Pad... Mr. Brown", verbesserte er sich schnell. "Noch vor einer Minute dachte ich, wie schön es wäre, jemanden wie Sie hier als Gesellschaft zu haben und schon sind Sie da! Wie kann das nur angehen?"

Paddington lächelte ein geheimnisvolles Lächeln.
"Es ist die heilige Nacht, Herr Bernhard. Diese Nacht ist voller Magie..." antwortete er und kaute vergnügt sein Marmeladenbrot.
"Ja aber... wo kommst du denn her?" fragte Bernhard.
"Zu viele Fragen zerstören die Magie, Sir", antwortete der kleine Bär mit einem Augenzwinkern.
Bernhard nickte und knabberte weiter an einem Keks.
Sie unterhielten sich noch eine Weile über dies und jenes und als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, hüpfte der Bär von seinem Stuhl und klopfte sich die Krümel vom Mantel.

"So sehr ich Ihre Gesellschaft auch genossen habe", sagte Paddington und setzte seinen Hut wieder auf, "ich muss jetzt leider zurück zur Familie Brown. Es ist Weihnachten, wie Sie ja wissen."
"Das verstehe ich selbstverständlich", sagte Bernhard mit einem freundlichen Lächeln. "Und von Herzen Dank dafür, dass Sie hier waren. Das bedeutet mir sehr viel!"
"Es war mir ein großes Vergnügen, Sir", sagte Paddington.
Er verbeugte sich, hüpfte auf den Tisch und Bernhard hätte jeden Eid geschworen, dass der Bär in dem Buch verschwand.
Wieder rieb er sich die Augen.
Er fragte sich noch immer, ob er das alles nur geträumt hatte, beschloss dann jedoch, sein Glück ein weiteres Mal zu versuchen.
"Schließlich ist es die heilige Nacht", flüsterte er lächelnd, "...und diese Nacht ist voller Magie..."

Er las gerade in einer Biografie über Mark Twain, als er glaubte, den Geruch einer brennenden Zigarre wahrzunehmen.
Als er den Kopf hob, stand Mark Twain leibhaftig neben ihm.
"Guten Abend!", sagte Bernhard freundlich. Er hatte bereits Paddington Bär zu Gast gehabt, wieso sollte ihn also der Besuch von Mark Twain überraschen?

"Ihnen auch einen guten Abend!" antwortete Twain mit einem Lächeln und zog an seiner Zigarre. Bernhard unterdrückte ein Husten, als der Rauch in seine Richtung geblasen wurde, und bot dem Schriftsteller einen Stuhl an.
"Obwohl das alles hier nur irgendeine Illusion sein kann", dachte Bernhard.
"Trenne dich nicht von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben." sagte Twain, als habe er Bernhards Gedanken gelesen.

Bernhard bot ihm eine Tasse Tee an, die dankbar angenommen wurde, und sie plauderten darüber, wie es war, auf dem Mississippi zu leben und was der Autor an seinen späteren Reisen am meisten mochte.
Der berühmte Schriftsteller verfiel in eine seltsam melancholische Stimmung, als er Bernhard von den "guten alten Zeiten" erzählte.
Bernhard ließ sich von der Stimmung anstecken und erzählte im Gegenzug wehmütig von seinem eigenen Leben und der Zeit, als seine Frau noch lebte.
Ich vermisse sie sehr..." gestand er und wieder einmal wurde ihm bei dem Gedanken an Marie die Kehle eng.
Beide Männer schwiegen eine Weile und hingen ihren Erinnerungen nach.

Nach einer Weile stand Twain auf und lächelte Bernhard an.
"Herzlichen Dank für den Tee, Sir," sagte er. "Und für die inspirierende Unterhaltung. Ich würde gerne noch bleiben aber unglücklicherweise werde ich anderenorts erwartet. Es ist Heiligabend, Sie verstehen..."
"Selbstverständlich verstehe ich das, Sir", beeilte sich Bernhard zu sagen.
Sie verabschiedeten sich wie alte Bekannte und Mark Twain schien in seiner eigenen Biographie zu verschwinden.

In dieser Nacht diskutierte Bernhard eine Weile mit Aristoteles, dessen Gedankenansätze zur Logik ihn schon immer faszinierten und die noch heute angewendet werden. Er traf Robert Oppenheimer und fand in ihm einen zutiefst verzweifelten Mann, der nicht darüber hinweg kam, was seine Atombombe angerichtet hatte. Und er erlebte mit Fritz Walter noch einmal das Wunder von Bern.
Schließlich traf er noch auf Glenn Miller, dessen Musik er liebte. Marie und er hatten oft und gerne zu ihr getanzt.
Sein Tee mit Rum schien nicht leer zu werden und so war er schon ein kleines bisschen angeschwipst, als er mit Miller die "Moonlight Serenade" sang.
Er saß wieder in seinem Ohrensessel und ließ glücklich den Abend noch einmal Revue passieren, als er eine warme, weibliche Stimme hörte.
"Guten Abend, mein Schatz – und fröhliche Weihnachten!"
Der Klang der Stimme elektrisierte ihn und er sprang förmlich aus dem Sessel.
Diese Stimme würde er unter tausenden heraushören.

"Marie!"

Seine Frau nickte, lächelte ihn zärtlich an und trat aus dem Schatten zu ihm.
"Marie..." sagte er noch einmal und ein warmes Gefühl von Liebe durchflutete sein Herz, während ihm Tränen über das Gesicht rannen.
Er streckte seine Hände nach ihr aus und sie nahm sie in die ihren.
"Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe", flüsterte er und noch immer rannen die Tränen. "Da war nie mehr eine andere Frau für mich in all den Jahren."
"Ich weiß", antwortete sie mit einem Lächeln und streichelte sanft sein altes Gesicht. "Ich war immer bei dir und es hat mir fast das Herz gebrochen, dich all die Jahre so einsam zu sehen."
Bernhard fühlte sich mit einem Mal sehr müde.
Müde, aber auch erleichtert. Als wäre eine schwere Last von seinem Buckel genommen worden.
"Ich liebe dich", sagte er schlicht. Und dann fragte er: "Wie lange wirst du bleiben können heute Nacht?"
"Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, mein Schatz. Zusammen." entgegnete sie.
Er nickte, nahm ihre Hand und folgte ihr.

* * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *

"Hast du das von der Bücherei gehört, Tommy?" fragte Herbert und biss herzhaft in sein Butterbrot.
Die beiden Müllmänner saßen in ihrem Wagen und machten Frühstückspause. Herbert las gerade die Tageszeitung.
"Nee", meinte Tommy, "was ist damit?"
"Die ist abgebrannt."
"Du machst Witze! Wie konnte das denn passieren?"
Herbert zuckte die Schultern.
"Sie schreiben hier, der alte Wiemann sei dort gewesen. Er sei eingeschlafen und eine Kerze sei runter gebrannt und habe dabei alles in Flammen gesetzt."
Tommy seufzte.
"Was für eine Schande, auf so eine Art und Weise am heiligen Abend zu sterben..."

 

Hallo flammbert,

zunächst danke für die rasche Antwort. Dies ist ist mein erster Versuch einer Kurzgeschichte und von daher wohl noch sehr täppisch und unausgereift.
Deine Kritik wird mir sicher helfen, es beim nächsten mal besser zu machen!
Es hat mich allerdings erstaunt, dass du meine Erzählweise als zu nüchtern und sachlich empfunden hast. Ist mir gar nicht so vorgekommen, aber man selbst schaut vermutlich viel zu selbstverliebt auf sein "Werk", und ich bin ja hier um zu lernen :)
Insofern: danke nochmals!

 

Hallo buchstabensalat

Ich fand die Geschichte unterhaltsam und für mich ist sie nicht zu nüchtern.
Die Idee, dass Figuren lebendig werden, gefällt mir.

Paddington hast du gut wiedergegeben, seine Antworten passen zu der Figur, so wie ich sie kenne.

Paddington lächelte ein geheimnisvolles Lächeln.
"Es ist die heilige Nacht, Herr Bernhard. Diese Nacht ist voller Magie..." antwortete er und kaute vergnügt sein Marmeladenbrot.
"Ja aber... wo kommst du denn her?" fragte Bernhard.
"Zu viele Fragen zerstören die Magie, Sir", antwortete der kleine Bär mit einem Augenzwinkern.
Bernhard nickte und knabberte weiter an einem Keks.

Hier finde ich, dass es nicht so zu dem kleinen Bären passt. Für mich ist er eigentlich immer sehr einfach und nicht geheimnisvoll. Aber ich habe die Geschichten von Paddington schon lange nicht mehr gelesen und habe sie deswegen nicht mehr so präsent.

"Hast du das von der Bücherei gehört, Tommy?" fragte Herbert und biss herzhaft in sein Butterbrot.
Die beiden Müllmänner saßen in ihrem Wagen und machten Frühstückspause. Herbert las gerade die Tageszeitung.
"Nee," meinte Tommy, "was ist damit?"
"Die ist abgebrannt."
"Du machst Witze! Wie konnte das denn passieren?"
Herbert zuckte die Schultern.
"Sie schreiben hier, der alte Wiemann sei dort gewesen. Er sei eingeschlafen und eine Kerze sei runter gebrannt und habe dabei alles in Flammen gesetzt."
Tommy seufzte.
"Was für eine Schande, auf so eine Art und Weise am heiligen Abend zu sterben..."

Das finde ich eine gelungene Erklärung, wie es mit Herrn Wieland zu Ende ging. Schade nur, dass die Bücherei abbrennen musste und damit eigentlich auch die Figuren, die ihm an seinem letzten Abend Gesellschaft geleistet haben.

"Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe," flüsterte er und noch immer rannen die Tränen.

Ich dachte, die Satzzeichen werden umgekehrt gesetzt. "Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe", flüsterte er…

Diese Leihbücherei, in der er arbeitete, war seit dem Tod seiner Frau Marie vor etwa 25 Jahren gewissermaßen sein zuhause.
Zuhause müsste gross sein.

Er stieg die Leiter wieder hinab und nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz.

Hier störe ich mich, dass in einem Satz gleich zweimal wieder vorkommt (ein Detail, ich weiss).

Vielen Dank für die Geschichte, ich habe sie gerne gelesen.

Liebe Grüsse
Jane

 
Zuletzt bearbeitet:

Halle Jane,

vielen Dank für deinen Kommentar!
Du hast natürlich Recht mit der Stellung der Satzzeichen, dem doppelten "wieder" und dem Rechtschreibfehler.
Hab zwar verschiedentlich drübergelesen, aber das ist mir dennoch durchgerutscht.
Ich freu mich aber, dass dir die Geschichte gefallen hat :)
Paddington, und da hast du wieder Recht, ist natürlich an sich einfach gestrickt. Aber immerhin ist es die heilige Nacht... und die ist voller Magie... alles ist möglich... ;-)
Ich wollte eigentlich nur Bernhard davon abbringen, Paddington zu löchern. :D
Und ist es nicht eigentlich so, dass die Figuren in unseren Köpfen und Herzen wohnen, statt in der Bücherei...? ;-)

 

Hallo Buchstabensalat,

das habe ich schon vermutet, dass du auf diese Weise verhindern wolltest, dass Paddington zu viel erklärt und natürlich hast du Recht, dass in der Heiligen Nacht vieles möglich ist. Aber vielleicht hätte Bernhard ja einfach nicht soviel fragen zu brauchen…? ;)
Und das wegen der Bücherei. Da hast du natürlich völlig Recht, dass die Figuren in uns drinnen wohnen und nicht in den Büchern.

Liebe Grüsse
Jane

 

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