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Weihnachtsmann mit Nebenwirkungen

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19.06.2001
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Weihnachtsmann mit Nebenwirkungen

"Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Im günstigsten Fall bringen sie sich gegenseitig um!"
Manfred Klein schwang sich vom Schreibtisch seiner Sekretärin.
"Schick Mahler gleich zu mir. Und sag den Umzugsleuten Bescheid, dass sie inzwischen seine Sachen in Doras Büro transportieren."

Wilfried Mahler frühstückte bei weit geöffnetem Fenster und lauschte einer frisch eingetroffenen CD. 'Brad Mehldau, zeitgenössisch das Maß aller Dinge am Jazzpiano', formulierte er in Gedanken seine Rezension, als der Anruf von Kleins Sekretärin kam. Sofort meldete sich sein Magengeschwür.
Vor Schmerz von 1,90 auf durchschnittliche 1,75 zusammengekrümmt, schlich er ins Chefbüro.
Klein musste trotzdem zu ihm aufsehen und bot ihm sofort den Sündersstuhl vor seinem Schreibtisch an. Ein Drittel der Redaktionsmannschaft hatte er in seinem halben Jahr als Chefredakteur schon gefeuert.
Wilfried atmete durch. Ihm konnte nichts passieren. Schließlich war er seit fünfzehn Jahren dabei. Zehn davon als Betriebsratsmitglied.
Klein wanderte hinter seinen Tisch auf und ab:
"Sie sehen krank aus, Mahler."
Wilfried verneinte mit einem matten Kopfschütteln.
"Ein bisschen Abwechslung wird Ihnen gut tun!"
Klein stoppte seine Wanderung:
"Ab sofort übernehmen Sie die Rätsel!"
Wilfried sackte zusammen. Klein holte zum letzten Schlag aus:
"Und Sie ziehen zur geschätzten Kollegin Weuble!"

Die Möbelpacker hatten ganze Arbeit geleistet. Seine penibel sortierten CD’s lagen zusammengewürfelt mit Büchern und Papieren in vier Kisten, obenauf die Yucca-Palme und sein angebissenes Frühstücksbrötchen.
Dora würdigte ihn keines Blickes. Sie thronte in ihrer ganzen Massigkeit auf ihrem Stuhl, telefonierte und stopfte sich unablässig Apfelschnitze in den Mund.
"Das Wasser muss erst kochen, dann kommen die Spaghetti rein."
Sie legte auf, verschloss die Tupperdose und rollte Richtung Tür:
"Ich gehe jetzt in die Pause. Wenn jemand für mich anruft, schreib es bitte auf!"
Wilfried klemmte sich hinter den Schreibtisch. Das Telefon klingelte in adrenalinfördernder Lautstärke.
"Wie lange müssen die Dinger denn drin bleiben?" herrschte ihn eine junge Frauenstimme an.
"Sie möchten bestimmt mit Frau Weuble sprechen."
"Wer sind Sie denn? Meine Mutter hat mir nicht gesagt, wie lange diese blöden Spaghetti kochen müssen."
"Steht auf der Packung."
"Klugscheißer!" brüllte sie und knallte den Hörer auf.
Wilfried ließ sich zurückfallen. Sein Kopf knallte gegen die Wand. Eindeutig ein Fall für den Betriebsrat. Er brauchte dringend frische Luft. Das Fenster ließ sich nur schwer öffnen. Die Schranktür umso leichter. Er konnte die Tüten, die ihm entgegen fielen gerade noch auffangen. Eine Lichterkette verfing sich an seinem Gürtel. Das Telefon schlug wieder Alarm. Wilfried eilte zum Tisch, die Lichterkette im Schlepptau. Dora kam zur Tür herein, bellte "Das ist für mich", und nahm ihm den Hörer aus der Hand.
"Ja, Schatz. Das macht nichts. Geh essen. Das Geld gebe ich dir heute abend zurück."
Wilfried stopfte die Tüten wieder in den Schrank.
"Schnüffelst Du etwa in meinen Sachen?"
"Ich suche nur Platz für meine Utensilien!"
"Da muss ich wohl etwas freiräumen. Machst Du das Fenster zu? Ich vertrage keinen Zug!"
In der Kantine sprach Jo Müller, der Chef vom Dienst, Wilfried an:
"Bist du jetzt zum Crossword Verifying Director aufgestiegen, Wilfried? Die Seiten müssen übrigens morgen raus!"

In der Nacht träumte Wilfried von einer dicken Schlange, die all seine Seiten auffraß und sich dann langsam immer enger um ihn herumwickelte.

Hochrot, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, kam Dora am nächsten Tag aus ihrer Pause zurück.
"Ich habe ihn gefunden – den ersten Weihnachtsmann! Sogar zwei Tage früher als letztes Jahr!"
Wilfried kämpfte gegen den Impuls, ihr das dreißig Zentimeter große Prachtexemplar aus der Hand zu schlagen.
Liebevoll drapierte sie die Trophäe auf ihrem Monitor.
"Die Jalousien müssen wir jetzt aber runter lassen. Sonst schmilzt er ja!"
Wilfried stöhnte. Er sehnte das Wochenende herbei.

Am Montag bekam der Schokomann Gesellschaft. Vier Wochen später bevölkerte eine Großfamilie den Monitor. Dora telefonierte Spekulatius mümmelnd mit ihrer Tochter.
"Ich habe kein Make-up mehr!", hatte Jenny Wilfried ins Ohr gebrüllt, und Dora erkundigte sich lieber genau nach dem gewünschten Produkt, bevor sie in ihrer Pause in die Parfümerie hetzte.
Wilfried kramte in seinen Kisten nach einer Keith-Jarrett-CD und nahm den Kampf mit den Rätselseiten auf. Er war so vertieft, dass er Doras Rückkehr nicht bemerkte.
"Mach das sofort aus! Von dem Krach kriegt man ja Kopfschmerzen!"
Sie packte ihre Einkäufe aus. Die beiden Rauschgoldengel fanden keinen Platz mehr auf ihrem Monitor. Sie wurden die ersten Weihnachtsbotschafter auf Doras Schreibtisch.
Wilfried hatte das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette, das er jetzt nur noch im Pausenraum stillen konnte. Wie immer lauerte Klein ihm dort auf.
"Rauchen Sie nur, oder arbeiten Sie auch mal?"

Ab Mitte November rüstete Dora richtig auf. Die Weihnachtsmänner mussten ihren Stammplatz auf dem Monitor für einen künstlichen Tannenkranz räumen. Die Lichterkette und ihre vier Schwestern aus den Tüten kamen an Fenster, Wand und Decke zum Einsatz. Für die Räuchermännchen aus dem Erzgebirge wurde sogar das Rauchverbot aufgehoben. Und auch Dora hatte eine CD-Sammlung: die wahrscheinlich größte Weihnachtsliedersammlung Europas.

Nach acht Stunden Dauerberieselung hätte Wilfried alles gestanden. Noch nie war ihm seine Wohnung so paradiesisch erschienen. Drei Zimmer unterm Dach, spärlich und überwiegend Schwarz möbliert. Die Krönung war sein privater Konzertsaal: Eine Musikanlage, für die er einen Jaguar bekommen hätte, als einziges Möbelstück ein lederner Liegesessel mitten im Raum. Auf dem hatte er sich gerade niedergelassen, als das Telefon klingelte. Seine Mutter.
"Hast Du Dir schon Gedanken gemacht, wie wir Weihnachten verbringen?"
Wilfried träumte wieder von der Schlange.

Am ersten Adventsmontag schob Dora Wilfrieds Papier zu einem Haufen zusammen und baute einen Adventskranz in Reifengröße auf dem Tisch auf.
Klein kam herein und langte in den Bunten Teller.
"Kennen Sie die Bedeutung des Wortes ‚vorgezogen‘, Mahler?"
Er stopfte sich einen Dominostein in den Mund.
"Ich frische Ihr Gedächtnis gerne noch einmal auf. Vorgezogene Termine heißt, die Seiten früher als sonst abzugeben! Sie haben noch eine halbe Stunde. Wenn Sie dann nicht fertig sind, können Sie die Druckkosten zahlen!"
Wilfried schluckte seinen Kommentar hinunter.

Er nahm sich Arbeit mit nach Hause. Sein Konzertsaal blieb geschlossen. Am Sonntag ging er zum Adventskaffee bei seiner Mutter. In der Nacht schlief er überhaupt nicht.

Am Montag waren seine Kisten weg. Seine heißgeliebten CD’s verschwunden. Eine Lampe hatte ihren Platz eingenommen. Nicht irgendeine Lampe. Ein mindestens 1,50 hoher, dicker, roter Weihnachtsmann, der von innen erstrahlte und alle halbe Stunde "I Wish You a Merry Christmas" sang
Dora sang mit. Jedesmal.
"Möchtest du auch ein Stück Stollen?". Ein großes, scharfes Küchenmesser glänzte in ihrer Hand.
Die Schokoladenmänner grinsten Wilfried an.
"Nein," mit der Faust zertrümmerte er den ersten Weihnachtsmann, "ich will nichts von deinem verfluchten Stollen!" Zack, zack, zack fuhr seine Faust auf die Nikoläuse hernieder.
"Was machst du? Hör sofort auf damit!", kreischte Dora.
"Ich fange gerade erst richtig an!"
Mit einer einzigen Handbewegung fegte er die restliche Weihnachtsmenagerie vom Tisch. Dora stürzte sich auf ihn.
"Nein, hör auf!"
Wilfried riss ihr das Messer aus der Hand. Er hob den singenden Santa Claus hoch über seinen Kopf. Klein stürmte zur Tür herein auf Wilfried zu.
"Schluss damit, Mahler!"
Wilfried ließ den Weihnachtsmann fallen, packte Klein, dachte nicht an das Messer in seiner Hand.
Der leuchtende Nikolaus zerschellte mit einem letzten "I Wish You a Merry Christmas" Klein sank neben ihm zu Boden. Das Messer steckte tief in seinem Hals.

Ein Jahr später. Dora zündet die vierte Kerze auf ihrem Adventskranz an. Der neue Chef findet nicht nur ihren Stollen köstlich. Er hat sie auch zur Redakteurin befördert. Ob Wilfried sich über ihre Weihnachtskarte freut?

"Post für Mahler. Soll ich sie ihm geben?"
"Ich bewahre sie für ihn auf. Wir wollen doch keinen Rückfall riskieren."
Dr. Wildesleben lässt die Karte in seiner Kitteltasche verschwinden.
Die Schwester eilt davon. Ihre Gummisohlen quietschen auf dem Linoleum.
Wildesleben sieht durch das Guckloch nach seinem Patienten.

Wilfried sitzt im Schneidersitz auf dem schmalen Bett und lächelt die weißen Wände an. Sein Oberkörper schaukelt sanft im Rhythmus des Liedes, das er summt: "I Wish You a Merry Christmas"

Copyright © 2004 Susanne Henke

 

Hallo Susanne,

jaja Kollegen können einen schon in den WAHNSINN :eek1: treiben! :D Schöne Geschichte, sauber und pointiert geschrieben. Hier ein paar Anmerkungen:

1) Titel: Könnte treffender sein

2) Anfang: man kommt als Leser schlecht rein. Wer macht gerade wo was? Ein paar Infos mehr wären hilfreich. Auch der sofortige Sprung von einem Prot zum nächsten ist immer etwas heikel, Thema: Identifikationsfigur.

3) Ausbruch des Wahnsinns. Ist mir zu abrupt, ein oder zwei Sätze mehr wären besser.

4) Lieblingsstelle:

als der Anruf von Kleins Sekretärin kam. Sofort meldete sich sein Magengeschwür.
:D


Weihnachtliche Grüße

Dante :xmas:

 

Hallo Susanne,
eine tolle Geschichte, in der ich gerne auch Doras langsames und schmerzhaftes Sterben erlebt hätte. :aua:
Ob die Geschichte mir geholfen hat in weihnachtliche Stimmung zu kommen.... weiß ich nicht?!
Dein Stil hat mir gefallen, sachlich und bissig. :thumbsup:

Eine Kleinigkeit:
...............
und stopfte sich unablässig Apfelsschnitze in den Mund.
................ „Apfelsschnitze“?

Gruß
3

 

Hallo Dante, hallo Dreimeier,

freut mich, dass Euch die Story gefallen hat.
Was den Titel anbelangt – für knackigere Vorschläge bin ich immer zu haben!
Bei der Kürze von Anfang und Wahnsinnsausbruch möchte ich bleiben. denke, sonst müsste auch alles dazwischen intensiver werden
Apfelschnitze – ein Ausdruck für Apfelscheiben.

Eine schöne Woche und beste Grüße
Susanne

 

Du hattest "Apfelsschnitze" geschrieben. Dreimeier (?) meinte damit die Rechtschreibung. Aber egal, nur so als Anmerkung ;)

Also ich finde die Geschichte gut. Witzig und amüsant, vor allem die Arbeitskollegin des Mahlers, die ihn in den Wahnsinn treibt. :) Nun, wo ist er da am Ende eigentlich? Ich vermute, in einer Psychatrie.
Ich finde es auch gut wie du dieses frühweihnachtliche beschrieben hast.
Die Arbeitskollegin kommt schon im November mit Weihnachtsmännern zur Arbeit, hat nachher das ganze Büro in ein einziges Weihnachtszimmer verwandelt. Hilfe kann ich da nur sagen!! ;)
Ein wenig Kritik an das frühe Weihnachten finde ich, daran, dass schon im November alle Arten von Weihnachtsplätzchen und andere Süßigkeiten verkauft werden und überhaupt alles schon so früh beginnt, in Geschäften, Bäckereien usw.
Super :thumbsup:

MfG
Leana

 

Hallo Dreimeier,
nach Leanas zartem Hinweis habe ich die Apfelsschnitze in Apfelschnitze geändert - sorry und dank!

Hallo Leana,

Apfelsschnitze - au weia, selbst wenn man mich mit der Nase drauf stößt, merk ich's nicht - Danke für den Wink mit dem Epmpire State Buidling ;-)
Freut mich, dass Dir die Story gefallen hat Mahler landet in der Psychiatrie - aber da muss er wenigstens keine Rätselseiten mehr betreuen – und Besuch von Dora ist verboten ;-)

Herzliche Grüße
Susanne

 

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