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Wie auch immer
Alle reden sie über ihn. Manche hinter seinem Rücken, die anderen ganz offensichtlich. Lars wusste nicht, was schlimmer war. Er bekam es immer mit, egal ob er es mitbekommen sollte oder nicht. Sie redeten, das war Tatsache. Sie redeten über ihn. Über ihn und seine Mutter.
Wäre das ganze jemand anderem passiert, dachte Lars, würde ich sicher auch darüber reden. Die ganze Situation schrie doch nur danach, dass man über sie quatschte. Etwas dazu erfand, an allen Ecken und Enden zu dramatisieren und Lars noch lächerlicher hinzustellen.
Irgendwo war die ganze Sache auch lächerlich.
Nein, sie war eher lächerlich geworden. Ursprünglich war die ganze Sache äußerst ernst.
Lars hatte seine Mutter nicht gekannt. Er war in die Babyklappe gesteckt worden.
Klappe auf, Baby rein, klappe zu, gut ist. Ein Problem weniger. So hatte Lars es sich immer vorgestellt.
Er wurde dann adoptiert. Klappe auf, Baby wieder raus aus der Kiste, Türe auf, klein Lars ab ins Reihenhaus zu Adoptivmama und Adoptivpapa, Türe zu, gut ist. Wieder ein Problem weniger.
Lars wuchs auf wie ein ganz normales Kind. Er spielte mit der Adoptivmama, er spielte mit dem Adoptivpapa, er spielte mit den Adoptivgroßeltern.
Er erinnert sich an lange Nachmittage im Garten. Mit dem Planschbecken und dem großen Wasserball, den Adoptivopa aufgeblasen hatte.
Und an die gelben Blumen, die man ja nicht essen durfte. So hatte es die Adoptivoma jedenfalls gesagt.
Und er erinnerte sich an das Gartenhäuschen. Er durfte dem Adoptivpapa den richtigen Schraubenzieher geben, wenn der daran rum werkelte.
Und dann gab es abends den Schokopudding von Adoptivmama. Zum Nachtisch. Lecker!
Und dann? Irgendwann war diese Zeit vorbei. Lars war zu groß für das Planschbecken und Adoptivopa zu alt, um den Wasserball aufzublasen.
Lars wollte gar keine Blumen mehr essen, und die Adoptivoma hätte es sowieso nicht mehr gesehen, weil sie fast nichts mehr sah.
Plötzlich stand Lars im Wege, wenn der Adoptivpapa das Häuschen weiter baute, weil dieser es scheinbar gar nicht so lustig fand, wenn Lars ihm aus Spaß einen falschen Schraubenzieher reichte.
Und auf den Schokopudding war auch kein Verlass mehr.
Wann genau sich das alles änderte wusste Lars nicht. Er hatte es jedenfalls nicht gleich mitbekommen. Er bemerkte es erst, als alles anders war. Dann war es eh zu spät, etwas zu ändern. Und kurz darauf war Lars auch zu cool dazu.
Türe auf, ab auf die Realschule, Türe zu, gut ist. Lars, sei nun cool! Deine Mitschüler erwarten das.
Okay. Das war kein Problem für Lars. Er fand es wirklich cool, heimlich in der großen Pause auf dem Klo zu rauchen. Er fand es wirklich cool, die Lehrer zu verarschen. Er fand es wirklich cool, nach der Schule dem kleinen Jungen aus der fünften die Süßigkeiten weg zu nehmen, und wenn der Junge noch sein Taschengeld drauf legte... Warum nicht?
Irgendwann war es dann nicht mehr genug, die Strafen für die Bubenstreiche waren schon alle angewendet worden, und außerdem wurde es langweilig. Das Rauchen auf dem Klo brachte es schon lange nicht mehr. Nicht nur, weil man es sowieso schon längst nicht mehr auf dem Klo tat, sondern weil es andere Dinge außer Zigaretten zu rauchen gab.
Lars wurde immer cooler. Von Tag zu Tag, so schien es.
Irgendwie war er da rein geraten und keiner kam, wie bisher. Keiner machte irgendeine Klappe auf, Lars raus. Gut ist. Nein, so lief das dieses Mal nicht. Lars schien sich sogar immer weiter von der Klappe weg zu bewegen. Freiwillig, ohne etwas dagegen zu tun..
Warum auch? Er hatte Ansehen in seiner Schule. „Der Junge, der von seiner Mutter abgeschoben worden ist. Dem ist alles zu zutrauen.“
Seine Adoptiveltern hatten immer gut für ihn gesorgt. Lars hatte alles an sich abprallen lassen.
Ich habe schon als Baby niemand gehabt, der nach mir geguckt hat, dachte er, wozu dann jetzt?
Doch auch, wenn Lars nach außen hin der coole, starke Junge war, der alles alleine auf die Reihe bekam, auch wenn jeder vor ihm Respekt hatte und auch wenn jeder mit ihm befreundet sein wollte, wenn Lars abends kurz vorm Einschlafen an seine Mutter dachte – und das machte er immer, egal wie viel er gekifft hatte – dann war er jedes Mal kurz vorm Weinen.
Er vermisste sie. Fragte sich, was für eine Frau sie wohl sei. Wie sie aussehe. Allein ihren Namen hätte er so gerne gewusst. Und vor allem, warum sie ihn weg gegeben hatte.
Er hatte sich schon tausend Gründe ausgemalt. Wenn nicht mehr.
Vielleicht hatte sie nicht genug Geld. Oder sie war gerade mal zwölf Jahre alt gewesen, vielleicht auch dreizehn. Oder sie war streng christlich erzogen worden und keiner durfte wissen, dass sie beim Sex vor der Ehe schwanger geworden war.
Was auch immer, nichts ergab für Lars einen Sinn. Wie konnte man sein eigenes Kind weg geben?
Lars wünschte sich immer, irgendwann die wahren Gründe zu kennen. Ihr gegenüber zu stehen, ihr in die Augen sehen, sie kennen lernen und erfahren, von wem er abstammt.
Er hatte sich die ganze Sache nur nicht so lächerlich und peinlich vorstellt.
Eines Tages klingelte das Telefon. Ein Tag, wie jeder andere. Irgend so eine Tusse war in der Leitung und Lars war viel zu breit um zu checken, was sie ihm erzählte. Er hielt alles für einen schlechten Witz.
Eine Talkshow. Im Fernsehen. Eine Überraschungssendung. In einer Woche.
Lars nahm die Frau am anderen Ende der Leitung nicht ernst.
„Willst du mich verarschen?“
„Bitte?“, die Frau schien verwirrt, „Nicht wirklich, ich spreche doch mit Lars Liebig?“
„Ja …“
Eine Woche lang zerbrach er sich den Kopf. So breit und verwirrt wie er gewesen war, hatte er einfach der scheiß Talkshowtusse zugesagt.
Wer wollte ihn Überraschen? Und mit was?
Dass es seine Mutter sein könnte, daran traute er sich nicht zu denken. Er hatte Angst davor.
Auch seine Kumpels fragen, als Lars ihnen davon erzählte.
„Ist doch sicher deine Mom, oder?“
„Ach Quatsch …“, antwortete Lars jedes Mal.
Und dann saß er plötzlich da. Nach Nächten voller Albträumen. Nach verschwitztem Aufwachen morgens. Nach vielem, vielem Grübeln. Nun saß er da.
Er hatte unmittelbar vor der Sendung zwei Tüten geraucht. Auf der Zugfahrt hatte er eine Flasche Sekt getrunken. Zuhause hatte er nichts anderes gefunden.
Ihm war schlecht und er war ziemlich fertig.
Was mache ich hier?, fragte er sich.
Es begann sich wieder alles um ihn zu drehen, während die Moderatorin mit ihm redete. Was er antwortete weiß er nicht mehr.
Er weiß sowieso alles nur noch verschwommen. Er weiß, dass ihm Y.M.C.A. von den Village People durch den Kopf ging. Warum auch immer.
Und dass er sich fragte, was wohl passieren würde, wenn er mitten in der Sendung plötzlich auf den Boden kotzen würde.
„Ich glaube, ich muss kurz raus.“, sagte Lars.
Seine Kumpels, die die Sendung aufgenommen hatten, spulten diese Stelle immer wieder zurück.
Ich glaube, ich muss kurz raus. Ich glaube, ich muss kurz raus.
Dann lachten sie sich halb tot.
Ich glaube, ich muss kurz raus. Ich glaube, ich muss kurz raus. Ich glaube, ich muss kurz raus.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte die Moderatorin. Sabrina. Oder Sandra. Oder Sabine. Was auch immer. Sie ließ ihn gar nicht antworten, „Jetzt wollten wir doch gerade deine Überraschung rein holen.“
Lars ging es immer schlechter. Er weiß nichts mehr. Er weiß nur noch, dass sie plötzlich vor ihm stand.
Sie roch nach billigem Aldi-Parfüm. Und als er ihr kurz in die Augen sah, sah er, dass sie genau so zugeknallt war wie er.
Renate hieß sie, das bekam er mit. Und sonst? Jugendamt … bla bla bla … ging nicht anders … bla bla bla … schön dich zu sehen … bla bla bla.
Lars war plötzlich völlig gefühlskalt. Wer war diese Frau da, die nach Aldi-Parfüm roch? Renate war es. Aber sonst? Es war unter Garantie nicht seine Mutter.
„Ihr habt sicher viel zu besprechen“, sagte Sabrina, Sabine, Sandra, was auch immer.
Lars stand auf. So geht das nicht, dachte er. „So geht das nicht.“, sagte er dann auch.
Alles rückgängig, oder wie? Alle Klappen wieder auf und wieder zu? Lars wieder raus aus der Realschule, raus aus der Adoptivfamilie, raus aus der Babyklappe, gut ist? Ein Problem weniger?
Lars musste hier raus. Kaum war er Backstage kotze er endlich.
Geändert am 6. November 2007