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Wie ein Herbstblatt
Wie ein Herbstblatt
Langsam hebe ich den Blick. Es ist kalt geworden, Wind weht, zerzaust mir meine langen Haare, die ich offen trage. Eine beiläufige, längst zur Gewohnheit gewordene Handbewegung streicht sie hinter die Ohren zurück.
Ich lasse meinen Blick über die Wasseroberfläche des Sees vor mir gleiten. Blätter, braune, gelbe, rote, treiben auf dem See, drehen sich um die eigene Achse.
Das erinnert mich ein wenig an mich, ich drehe mich auch im Kreis. Egal, was ich mache, was ich nicht mache, immer wieder kehren meine Gedanken zu ihm zurück.
Den Versuch, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, habe ich schon lange aufgegeben, auch kann ich ihn nicht aus meinem Kopf verjagen, und eigentlich will ich das auch nicht.
Mein Herz will es nicht, allein mein Verstand sagt mir, dass es sein muss. Doch mein Herz wehrt sich gegen den Verstand ... und scheint zu siegen.
Der Wind weht stärker, wirbelt die Blätter auf. Die Bäume sind schon fast ganz kahl. Mir wird kalt und ich stehe auf. Mit ruhigen, langsamen Bewegungen streiche ich die trockenen, schönen Herbstblätter und den Dreck des Bodens von meiner Kleidung ab.
Ich wende dem See den Rücken zu und gehe gemächlich den schmalen Sandweg entlang. Immer weiter. Ich weiß, dass ich bald auf eine große Wiese kommen werde. Sie ist mein Ziel. Nein, etwas hinter ihr ist mein Ziel.
Der Wind wird immer stärker, lässt die Äste aneinander schlagen, reißt kleinere, schwache Zweige ab und lässt sie achtlos zu Boden fallen.
Auch in mir tobt ein starker Wind, fast ein Sturm.
Er ist nicht bei mir, wird es nie sein, er ist unerreichbar. Dieses Wissen tut mir so weh, oft kann ich den Schmerz ignorieren, aber manchmal bricht er einfach durch. Plötzlich, unerwartet.
Ich habe keine Jacke an, mir ist kalt, schlinge die Arme um meinen Körper. Durch den Pullover spüre ich meine Rippen, deutlich, sie stechen geradezu hervor.
Dort steht sie. Die eben noch empfundene Wärme treibe ich aus ihr heraus, ich lasse ihr Haar wehen, streiche um sie herum, greife ihr unter die Kleider, fühle ihre Haut.
Ein entfesselter Sturm, für niemanden zu greifen, zerstörende Naturgewalt.
Ich seufze einmal tief, doch das höre ich noch nicht mal selbst, so leise ist es, so laut heult der Sturm inzwischen.
Ich bleibe stehen, drehe meinen Kopf in den Wind. Der Wunsch zu kämpfen wird deutlicher, größer. Doch mein Körper ist schwach, bald drehe ich meinen Kopf wieder weg, der Wind ist zu stark für mich geworden.
Ich habe es nicht schwer weiterzugehen, muss nicht gegen ihn ankämpfen. Nein, er scheint mich vorwärts zu schieben, als wenn ich ihm nicht schnell genug ginge.
Ich treibe sie vor mir her, versuche sie aufzuhalten, kann meine Richtung aber doch nicht steuern, bin zu sehr in meinen eigenen Gesetzen gefangen. Ich spüre ihren schmalen Körper, der schon zu sehr ausgezehrt ist, energieverloren, ohne Liebe zu sich selbst. Ich möchte sie anheben, forttragen, ihr die Entscheidung über ihr Leben abnehmen. In ihren Augen sehe ich mich wirbeln, sehe Strudel ihrer und meiner Selbstzweifel.
Ich erreiche die Wiese. Die Grashalme sind lang, doch nun drückt der Sturm sie flach auf die Erde, lässt ihnen keine Chance, ihre Größe zu zeigen, ihre Stärke. Sie wirken so schwach.
Mein Schritt federt auf dem weichen Untergrund, ich gehe immer weiter, weiter geradeaus.
Und noch immer ist er in meinem Kopf. Ich höre seine Stimme, sehe sein Gesicht, spüre seine Nähe, seine Wärme. Und doch ist er nicht hier.
Wütend rase ich über den See, peitsche das Wasser auf, will meine Umwelt dafür bestrafen, dass ich bin, wie ich bin, will mich in der Sonne auflösen, die schon lange keine Wärme mehr spendet.
Ich bahne ihr einen Weg über die Wiese, drücke die Halme herunter, um die zu schützen, die ich liebe, um sie sanft auf ihrem Weg zu begleiten.
Ich habe mein Ziel erreicht. Die Sonne steht tief, scheint mir rotgolden ins Gesicht. Ich fühle die Nähe des Abgrunds, höre das Meer rauschen. In mir findet ein Kampf statt. Wie soll ich mich entscheiden, was soll ich machen?
Ich kann nur zusehen und das Ergebnis abwarten.
Ich schließe die Augen, ohne Zeitgefühl stehe ich da und warte. Ich höre, wie sich die beiden Seiten anschreien, sich bekämpfen, und ich bin zwischen ihnen.
Irgendwann ist es ganz still, die kämpfenden Seiten, ja selbst der Wind scheint den Atem anzuhalten. Nur er ist in meinem Kopf, ich sehe sein Bild vor mir.
Sie bleibt stehen, denkt nach, senkt den Kopf und entscheidet. Ich wehe sacht, spiele ein letztes Mal mit ihren Haaren und warte.
Und dann fälle ich eine Entscheidung.
Um sie aufzufangen.
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