Wir sitzen doch alle im selben Boot
Meine Hand in der linken Westentasche hält das kleine Bündel guter Dollars fest, drückt es dabei immer wieder, rollt es zusammen, entrollt es, knickt es, drückt es wieder.... – Es ist alles, was uns vom Vater meiner Frau blieb, er hat es sich wahrlich hart erarbeitet und vom Mund abgespart. Zum Glück hat er es noch zu besseren Zeiten umgewechselt, denn jetzt bezahlt man mehr als die Hälfte des Wertes allein nur für den Tausch, am Schwarzmarkt. Er hob es schon lange auf, für schlechte Zeiten, „für sehr schlechte Zeiten“, wie er immer betonte. Nun sollte es uns ein neues Leben bringen, ich bin sicher, das wäre auch sein Wunsch gewesen.
Für Trauer blieb uns nicht viel Zeit, wir mussten ihn schnell begraben. Immerhin hat er ein Grab. Wenn ich daran denke, wie viele wohl in Massengräbern landen werden.... Wir ahnten, daß die nächsten Bomben bereits in Stellung gebracht würden – Fernseher hat in unserem abgelegenen Dorf niemand und bis mal eine Zeitung bei uns landet, ist sie mehrere Tage alt. Gestern wurde mein Schwiegervater von einer Bombe getroffen, wenige Minuten nachdem wir in der für uns frischen Zeitung lasen, daß der Krieg begonnen hat.
Also begebe ich mich nun mit weichen Knien in die finsterste Spelunke im Umkreis von mehreren Kilometern und treffe dort den Mann, der sich bei uns als „Convoy“ vorstellte. Wir wissen, daß dies nicht sein richtiger Name ist, aber in unserer Angst ist uns der Name ja auch egal, soll er sich doch nennen, wie er will – solange er uns in Sicherheit bringt, das ist das Wichtigste.
Er gibt mir die Hand, ich freue mich über die nette Geste, doch er sieht, als er losläßt, die Innenseite seiner Hand an, dann ein fragender Blick auf mich, er läßt in kurzen, schnellen Bewegungen seine Finger über den Daumen fahren, ich verstehe – ziehe die linke Hand aus der Weste und gebe ihm die zerknitterten Scheine.
Jetzt lacht er mich an, bedeutet mir, mich an seinem Tisch niederzulassen, bietet mir Tschandu und Tee an, und meint einleitend und grinsend: „Wir sitzen doch alle im selben Boot.“
Er zählt ferne Länder auf, durch die wir durchfahren werden und nennt mir den Treffpunkt, an dem wir pünktlich zu erscheinen haben, weil er sonst ohne uns fährt. Ich nicke, nicke nochmals, verabschiede mich ebenfalls mit einem Kopfnicken und verlasse das Lokal.
Während ich meinen Fußmarsch nach Hause antrete, geht mir der Satz, den Convoy sagte, im Kopf herum. Ich betrachte jede Möglichkeit, ihn zu verstehen, doch sowie ich glaube, den Sinn erkannt zu haben, sehe ich auch schon den Haken dran.
Zweifel überkommen mich, sollen wir wirklich alles hier verlassen, in eine uns völlig fremde neue Welt gehen? Ist es wirklich so schön dort, wie alle sagen? Werde ich dort wirklich Arbeit finden? Können wir dort wirklich Kinder bekommen, ohne uns Sorgen machen zu müssen, was am nächsten Tag mit ihnen sein wird? Essen und Kleidung in rauen Mengen? Wenn es das wirklich gibt, ist es das Erbe meines Schwiegervaters wert, ja. Hoffentlich. – Ach was, es ist gar keine Frage, wir werden fahren und unser altes Leben durch ein neues ersetzen.
Die Gegend wirkt wie ausgestorben, alle Menschen sind in ihren Häusern, ein paar schon geflüchtet, um ihr Leben gerannt. Wo sie jetzt wohl sein mögen, ob sie durchgekommen sind, schon außer Gefahr? Alles haben sie hiergelassen und wir werden es ebenso tun. – Es ist nicht leicht, die Heimat zu verlassen, aber was sollen wir sonst tun, wenn die Herrschaften sich streiten müssen und mit ihren Kriegsmaschinen aufzutrumpfen, die einzigen Argumente sind, die ihnen einfallen? Hier können wir nicht unsere Kinder bekommen, sie sollen leben wie die anderen auch. „Jeder Mensch ist frei und gleich an Rechten geboren.“ Ja, wo gilt das denn?
Meine Frau hat bereits eine kleine Tasche mit Dingen für unterwegs gepackt und sitzt auf unserer hölzernen Bank, mit Tränen in den Augen. Ich nehme sie in den Arm, tröste sie, streiche ihr über den Kopf und drücke sie schützend an mich. Ich frage sie nicht, was schwerer wiegt, der Verlust ihres Vaters oder der, der Heimat, sondern beruhige sie: „Morgen früh ist es soweit. Unsere Reise beginnt und alles wird gut, du wirst schon sehen.“ Für sie muß es wohl am schwersten sein. Ich kann ja immerhin Englisch, ich war Journalist, solange wir die alte Regierung hatten – solange wir Demokratie hatten. Aber sie kann nicht einmal schreiben, sie hat es nie gelernt, wie viele bei uns. Auch, war es hier niemals wichtig, denn die Menschen sprechen miteinander. „Komm, essen wir noch den letzten Rest Brot und dann legen wir uns schlafen, wir müssen zeitig raus.“
Wir können alle beide nur schwer einschlafen, dies ist die letzte Nacht in der Heimat. Viele Gedanken gehen in meinem Kopf herum, doch als ich bemerke, daß mein Schatz auf meinem Arm bereits eingeschlafen ist, finde ich auch die Ruhe und falle ins Land der Träume.
Um drei Uhr sind wir wieder wach, noch eine Stunde, bis zur Abfahrt. Wir stärken uns mit Kaffee und besuchen noch kurz das Grab, bevor wir uns auf den Platz begeben, wo Convoy mit seinem LKW wartet. Er sieht auf die Uhr, als er uns erblickt, nickt zufrieden und öffnet das Verdeck des Anhängers. „Rein da, mit euch – und hinter die Kisten!“ Dort sitzen bereits acht Landsleute, die nun ein Stück enger zusammenrücken, um uns auch noch Platz zu machen.
Kurz darauf fahren wir los, halten nach einer Weile an und nehmen noch eine Familie mit zwei Kindern auf. Sie wollen eine größere Tasche mit auf die Reise nehmen, doch Convoy lässt ihnen die Wahl: „Entweder die Tasche bleibt da, oder einer von euch - und das wollt ihr doch nicht.“ Eine Flasche Wasser erbetteln sie sich noch, herausnehmen zu dürfen. In meinem Kopf tauchen Zahlen auf, Geldscheine multipliziert mit „Reisenden“.
Jetzt wird mir die Bedeutung des Satzes von Convoy immer klarer, es fehlte nur ein Stück. Es mußte heißen: „Wir sitzen alle im selben Boot, nur manche rudern und andere angeln.“
Die Fahrt geht richtung Grenze und wir brausen ganz schön dahin. Wir haben Mühe, uns im Inneren des Anhängers so zu verkeilen, daß wir nicht alle umherfallen. Convoy bremst, bleibt stehen, kommt nach hinten: „Jetzt schlichtet euch mal in die Kisten, wir sind bald an der Grenze.“ Wir müssen uns in die Kisten zwängen und er ist dabei, eine nach der anderen zu schließen. Ich frage, ob er uns auch nach der Grenze wieder herausläßt und er versichert uns, sobald wir außer Sichtweite sind, stehen zu bleiben.
Wir fahren nun schon seit einer Stunde und haben noch immer nicht angehalten. Durst quält meine trockene Kehle, das Wasser hat meine Frau bei sich. Ich versuche, mich abzulenken, an belanglose Dinge zu denken, dann versuche ich wieder, mir die Landkarte vorzustellen und wo wir wohl gerade sein mögen. Ich denke an früher, male mir die Zukunft aus, versuche, Nichts zu denken – endlich quietschen die Bremsen. Convoy befreit uns, gibt uns sogar Wasser, nach dem die ganze Menschen-Ladung dürstet. Beim Anblick des Wassers haben alle ihren Zorn vergessen, den sie in ihrer Kiste aufgebaut haben, einer nach dem anderen labt sich an einer der beiden Flaschen, atmet auf und bedankt sich bei Convoy.
Die Fahrt dauert eine Woche, viermal haben wir etwas zu essen bekommen, bevor Convoy uns jetzt einen Sack voller McDonald´s-Hamburger in den Laderaum schiebt. Einige essen sie aus Hunger, andere, die sehr an ihrer Religion haften, essen nur das Drumherum. Die Fahrt ist jetzt ruhig, die Straßen sind nicht mehr holprig und es ist schon beinahe angenehm, als wir schon wieder in die Kisten müssen, wie vor jeder Grenze. Wir hören von Convoy die erlösenden Worte: „Die letzte, dann steigt´s aus.“
Nach kurzer Fahrt steigt Convoy plötzlich wie ein Irrer auf´s Gas, fährt um die Kurven, daß es uns samt den Kisten herumschleudert. Irgendetwas muß passiert sein, wir können nur geschehen lassen und uns in den Kisten festhalten. Die Fahrt wird wieder langsamer, wir halten. Convoy kommt nach hinten, um nachzusehen. Hilft uns heraus, wir machen Pause, er reicht uns wieder mal eine Flasche Wasser. Ich beginne eine Diskussion, ob es nicht besser wäre, die letzte Grenze zu Fuß zu überqueren. „Die arbeiten hier mit Nachtsichtgeräten und Hunden, da kommt ihr niemals durch. Ich bringe euch schon sicher über die Grenze, vertraut mir. Ich hab´euch doch auch bis hierher gebracht. – Und jetzt ab in die Kisten! Versucht, noch ein bisschen zu schlafen, wenn ihr wieder aufwacht, beginnt eure Zukunft.“
Ein Lichtstrahl blendet mich, nachdem der Deckel über mir gehoben wird. Ich werde begutachtet, ausgefragt – wie auch die anderen, Convoy hat uns kurz nach der Grenze auf einem Feldweg abgestellt und ist mit der Zugmaschine zurückgefahren. Wir können duschen, bekommen frisches Gewand und Essen, man füllt mit uns Asylanträge aus, danach dürfen wir uns ausschlafen. Am nächsten Morgen werden wir ins Flüchtlingslager gebracht. Menschen vieler Länder leben hier, alle sind gekommen mit der Hoffnung, auf ein schönes Leben, ein menschenwertes Leben. Hier bekommen wir einmal das Allernotwendigste. Ich bekomme sogar Schuhe aus einer Kleidersammlung, weil sich bei meinen alten bereits die Schuhsohlen vom Oberleder lösen.
Aber es gibt hier auch viel Haß gegen uns, was mich doch sehr bedrückt. Sind wir am Ende hier genauso der Gewalt ausgeliefert, wie in unserer Heimat? Man sagt, wir seien Heckenschützen, Vergewaltiger, Plünderer und Massenmörder, fragt nicht näher nach und schlägt manchmal einen von uns so nebenbei zusammen. Man beschreibt uns, welchen Leuten wir besser aus dem Weg gehen sollen – ansonsten sei dies ein „sehr zuvorkommendes Volk“. Ich höre, daß es einen Wahlspruch der jetzt regierenden Partei gab, der lautete „Österreich zuerst“ und mir wird die Doppeldeutigkeit des Wortes „zuvorkommend“ bewusst.
Manchmal denke ich an Convoy. Ob er schon wieder unterwegs ist? Ich möchte mein Leben hier nicht mit seinem tauschen, auch nicht für die Dollars, die wir alle ihm bezahlt haben.
Es wird noch ein langer Kampf, bis wir in Freiheit sind. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Es gibt auch viele gute Menschen hier. Bis hierher haben wir es geschafft, warum sollten wir jetzt aufgeben? Wir werden das alles gemeinsam durchstehen, wir lieben uns und wollen unsere Zukunft in einem hoffentlich sicheren Land aufbauen. - Wie so viele Menschen das ganz selbstverständlich tun.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
Artikel 1 der Menschenrechte
*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*
Susi P.
Das Land, in dem Krieg herrscht, soll kein bestimmtes darstellen, deshalb habe ich auch Namen vermieden. Sie sollte für jedes Land einsetzbar sein.
Die vorgegebenen Wörter für diese Geschichte waren: Schuhsohle, ersetzen, Spelunke, ausgestorben, Anhänger
[Beitrag editiert von: Häferl am 15.03.2002 um 23:51]