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Witwer
Liesi saust den Sandhügel hinauf und verschwindet in den Sträuchern, als er gerade mal den Teichgrund unter den Zehen spürt. Er kämpft sich die letzten Meter durchs Wasser, klettert das Ufer hoch und jagt hinter ihr her. Liesi flitzt durch den Wald, kurvt um die Bäume, dass Blätter und Rindenstücke nur so durch die Gegend fliegen, und er fühlt sich, als verfolgte er eine Antilope. Und keinen Augenblick kann die den Mund halten. Selbst jetzt, während sie rennt, kichert und quasselt sie in einem fort.
„… he, du Träumer, wo bleibst du denn, hast du dich verirrt? … Du willst Fußballer werden, du Schnecke? Hihi, Ich lach mich schief … ich hab schon geglaubt, du saufst mir ab im See … du lahme Ente, hihi …“
Und so weiter, so geht das ohne Pause. Wo nimmt die nur die Luft her, hat die überhaupt noch Zeit zum Atemholen? Er könnte sie manchmal erwürgen.
Er rennt wie ein Irrer und hat sie beinahe erwischt, da schlägt sie einen Haken und fegt durch ein Dickicht, als wäre das ein fadenscheiniger Vorhang, als wäre da gar nichts. Er lässt sich der Länge nach ins Gras plumpsen.
„Hast gewonnen, Liesi!“, ruft er und schnappt nach Luft.
Liesi taucht hinter einem Baum auf und grinst ihn an. Die feuchten Haare stehen ihr zu Berge, das ausgeleierte Badetrikot ist übersät mit Kletten und Brombeerranken. Wassertropfen zeichnen ein Muster in den Staub auf ihren Beinen und müssen da und dort einen frischen, rosigen Kratzer überqueren. Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche, wie der leibhaftige Kobold aus einem Märchen.
„Ich geb‘ auf, Liesi.“
„Zwei zu null für mich, hihi.“
Sie lässt sich neben ihn fallen und tut dabei, als müsse sie nicht schnaufen, als wäre sie nicht genauso außer Atem wie er. So ein verrücktes Wiesel! Manchmal könnte er sie wirklich erwürgen.
„Da ist‘s so schön wie im richtigen Urwald“, flüstert sie.
„Das ist eh ein richtiger Urwald ... nur halt ohne Menschenfresser.“
Sie liegen nebeneinander auf dem Rücken, kneifen die Augen zusammen und schauen in das leuchtende Blätterdach. Was sehen sie dort oben? Papageien und Pfefferfresser mit riesigen Schnäbeln? Wirbeln Horden von schnatternden Klammeraffen durchs Geäst? Schnüffeln Tapire und Wasserschweine an ihren Fingern, schlängeln sich Anakondas über den Boden? Erstreckt sich der Dschungel endlos in alle Himmelsrichtungen?
„Wenn wir groß sind, fahren wir zum Amazonas, Franzl.“
„Wenn ich groß bin, werd‘ ich Traktoren reparieren wie der alte Horvath. So schaut’s aus.“
Liesi kichert. „Der Horvath ist plemplem, der hat zu mir gesagt, richtig schön ist‘s nur zu Hause. Der will ja nicht einmal über die Donau rüber in die Stadt, tut immer so, als wär‘ das eine Weltreise, der alte Depp.“
Sie dreht sich zu ihm und zupft Wasserlinsen aus seinen Haaren.
„Die Welt ist weit, die Welt ist bunt, die Welt ist groß und kugelrund …“, summt sie vor sich hin.
„Willst du wirklich nach Amerika, Liesi?“
„Nach Südamerika will ich und nach Grönland und nach Ägypten. Und nach Japan, nach Venedig, nach Sumatra, nach China, nach Ceylon, nach England, nach Paris, nach Feuerland, zum Kilimandscharo und zum Titicacasee, nach Madagaskar, nach Mexiko … überall will ich hin. Und Eisberge möchte ich sehen und die Pyramiden. Und Mammutbäume. Und Kokospalmen.“
Das ist ihr Lieblingslied, das kennt er, das hat endlos viele Strophen.
Sie schmiegt sich an ihn wie ein glatter, warmer Fischotter und ergreift seine Hand. Sie spielt mit seinen Fingern und ihre Haare kitzeln ihn an der Nase.
„Und dich nehm‘ ich mit“, haucht sie ihm ins Ohr.
Dann küsst sie ihn auf den Mund.
Franz blinzelt und fährt sich mit den Händen durch die Haare. Feuerland! Eisberge, lieber Himmel! Es ist drückend schwül, kein Windhauch regt sich, seit Tagen geht das so. Er starrt in die Baumkronen. Eine Armlänge über seiner Nase hängt eine Libelle in der Luft wie ein schwebendes blaues Streichholz, eine Azurjungfer. Papagei ist keiner zu sehen. Er rollt sich auf den Bauch, schnappt sich das Papier und den Bleistift und beginnt zu schreiben.
Liebste Liesi, die Welt wird von Tag zu Tag verrückter. Weißt du noch, wie stolz wir auf unsere Schrammen und Narben waren? Auf unsere blutigen Nasen? Auf die gestopften Risse und die aufgenähten Flicken auf unseren Hosen?
Die trugen wir wie Tapferkeitsmedaillen. Das waren die Orden für unseren täglichen Leichtsinn und Übermut, und manchmal bezahlten wir mit Tränen, aber meistens mit einem schiefen Grinsen. Unsere Heldentaten waren die Fahrradstürze und Raufereien, das Runterfliegen von Bäumen, das heimliche Eindringen in den Dachboden deiner Oma, in den mit Gerümpel vollgestopften Schuppen vom Horvath, das Durchstreifen und Entdecken unseres Urwaldes, das Erobern unserer ganzen Welt …
Und heute? Die Kinder kaufen sich für teures Geld kaputte, zerrissene Klamotten und nennen den Mist stolz „Designerjeans“. Was für ein Witz!
Franz spürt ein Kitzeln an der linken Hand. Ein Käfer erklimmt seinen Handrücken, überquert ihn, purzelt runter aufs Papier und krabbelt weiter. Behutsam folgt ihm Franz mit der Bleistiftspitze, malt eine graue, kurvige Linie auf das weiße Papier.
Der Käfer dreht eine Runde auf dem Brief und bleibt stehen. Er ist bläulichschwarz und glänzt wie ein Edelstein. Die Nase knapp über dem Papier beginnt Franz, ihn zu zeichnen. Die Rundungen der Deckflügel und des Halsschildes, drei filigrane Beinpaare, den Kopf mit den kleinen Zangen, die Fühler ganz dünn, beinahe nicht zu sehen.
Als das Bild fertig ist, winzig wie ein Hosenknopf, krabbelt der Käfer weiter, der Bleistift zeichnet seinen Weg bis zum Rand des Blattes nach. Der Käfer verschwindet im Gras.
Ich habe keine Ahnung, wo dieser Käfer her kommt und ich weiß auch nicht, wohin er will ... aber ich weiß, wo ich noch hin will mit dir, Liesi, ich will so gern nach Feuerland und dort mit dir das Kreuz des Südens anschauen. Vielleicht müssen wir erst einen Vorhang aus Polarlicht zur Seite ziehen, um die Sterne sehen zu können, mit ein bisschen Glück.
Ach Liesi.
Franz setzt sich auf und zerknüllt den Brief. Er wickelt ihn um ein Steinchen und rollt ihn zwischen den Handflächen zu einer kleinen, festen Kugel. Dann wirft er ihn in den Teich. Er steckt sich eine Zigarette an und starrt aufs Wasser. Langsam versinkt das Papier.
Er steht auf und drückt ächzend das Kreuz durch. Obsidian, jetzt fällt es ihm ein, Obsidian heißt der schwarze Edelstein. Er packt seinen Kram zusammen, steigt aufs Fahrrad und fährt durch den Auwald nach Hause.