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Wo war ich gleich stehen geblieben?
Die Hölle ist kein Ort, sie ist ein Zustand.
Wenn man unter Zwangsneurosen leidet, ist man immer beschäftigt. Banale Handlungen werden zu festen Bestandteilen des Alltags und wie Rituale vollzieht man sie in einer Endlosschleife, aus der es kein Entrinnen gibt.
Angefangen hat es damals, vor zehn Jahren. Es ist schon seltsam, dass sich der Zeitpunkt so genau bestimmen lässt. Ich war auf einer Geburtstagsfeier und verschluckte mich an meinem Bier. Während des folgenden Hustenanfalls biss ich mir so stark auf die Zunge, dass ich eine halbe Stunde lang aus dem Mund blutete. Die anderen wollten schon einen Krankenwagen rufen, aber dann ging es wieder.
Am nächsten Morgen fühlte sich meine Zunge taub an und ich bekam Angst davor, sie versehentlich zu verschlucken. Den ganzen Tag habe ich nur daran gedacht und meine Zunge feste nach unten gedrückt, damit sie nicht nach hinten in den Rachen rutschen konnte. Auch Wochen später, als die Wunde längst wieder abgeheilt war, drückte ich sie noch wie ein Besessener nach unten. Damals erkannte ich zum ersten Mal, dass es wichtig ist, möglichen Unglücken, oder Unfällen vorzubeugen. Ich hielt es für völlig plausibel, diesem Drang nachzugeben, um mich so vor einem drohenden Erstickungstod zu schützen. Allerdings bekam ich mit der Zeit leichte Krämpfe von der ständigen Anstrengung, die so weit führten, dass sich meine Zunge erneut taub anfühlte.
Mein Gott, was erinnere ich mich an jenen Abend, an dem ich nicht mehr wusste, wohin mit ihr. Alle Positionen schienen mir falsch und dann kam die Panik. Ich konnte die Nacht über nicht schlafen. Zwar legte ich mich auf den Bauch, doch nachdem ich einmal kurz eindöste und wieder aufwachte, stellte ich entsetzt fest, dass ich mich auf den Rücken gedreht hatte. Sofort saß ich aufrecht im Bett und riss den Mund auf. Ich streckte meine Zunge heraus und fühlte sie mit den Händen ab. Absolut taub und schlaff. Zu diesem Zeitpunkt war ich der festen Überzeugung, nocheinmal knapp mit dem Leben davon gekommen zu sein. Bis zum Sonnenaufgang lief ich unruhig in der Wohnung auf und ab. So konnte es nicht weiter gehen. Also begann ich zu zählen.
Vielleicht musste man dem Gehirn mit Hilfe des Körpers gewisse Zeichen geben. Ich dachte lange darüber nach. Wenn ich meinem Unterbewusstsein durch regelmäßige Impulse mitteilen würde, dass ich bereit dazu sei Maßnahmen zu ergreifen, dann sollte ich doch im Grunde sicher sein, so dachte ich.
Also beschloss ich meine Zunge ab sofort jeden Morgen und jeden Abend insgesamt sechsmal, für jeweils eine Minute, nach unten zu pressen. Diese Zeitspanne erschien mir angebracht. So konnte ich die Krämpfe umgehen und dennoch jeglichem teuflischen Unglück ein Schnippchen schlagen. Und teuflisch das war sie, diese unbekannte Macht, die nach meinem Leben trachtete. An mir sollte sie sich aber die Zähne ausbeißen, denn ich bin immer schon ein zäher Kerl gewesen. Wie robust und ausdauernd ich wirklich war, sollte sich dann aber erst noch zeigen.
Den Wecker hatte ich auf sechs Uhr gestellt. Fünf Minuten früher als ich für gewöhnlich aufzustehen pflegte.
Nachdem der Prozess vollzogen war, ging ich mir die Zähne putzen und als die Bürste kurz die Zungenspitze berührte, fuhr ich unwillkürlich zusammen. Nicht nur, dass sie sich immer noch taub anfühlte. Mich überkam zudem die Angst davor, durch den Kontakt mit den Borsten ihre Ruhe gestört zu haben, in die sie nach dem dreiminütigen Ritual gefallen war. Zornig schleuderte ich die Zahnbürste auf den Boden und überlegte, was als Nächstes zu tun sei.
Vielleicht half es, wenn ich von vorne anfing?
Immer und immer wieder. Ich wiederholte solange, bis mein Kiefer zu zittern begannen. Dann machte ich weiter.
Ich kam eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit und noch nie hatte sich mein Mundinnenraum so abartig angefühlt. Wenn ich jetzt nachgab, dann würde er mich in der kommenden Nacht holen, der unsichtbare Dämon. Da war ich mir sicher. Satans größtes Kunststück war es, die Menschen nicht wissen zu lassen, dass es ihn gibt. Aber ich wusste, dass er existiert. Er lauert in den Ecken unseres Verstandes, in die wir für gewöhnlich keinen Einblick haben. Und wehe dem, der einen Fehler macht.
Als mein Chef mich nach dem Hollandauftrag fragte, schüttelte ich den Kopf. Nein, er war noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Das brauchte ich nicht extra zu sagen und meine Zunge damit unnötiger Strapazen aussetzen.
Ich eilte auf die Toilette und schloss mich in eine der Kabinen ein. Den gesamten Vormittag.
Irgendwann klopfte ein Kollege an die Tür und fragte mich, was los sei. Alle würden sich Sorgen machen, sagte er, und ich glaubte es ihm. Das Skurrile war ja, dass ich mich vorher nie so aufgeführt hatte. Sicher, diese Kleinigkeiten, wie gelegentliche Selbstgespräche, oder die Einhaltung bestimmter Reihenfolgen bei bestimmten Tätigkeiten, Zwänge die jeder hat, von denen konnte ich mich auch nicht freisprechen. Doch solch einen Wahn hatte ich bis dato nicht gekannt. Nicht vor besagter Geburtstagsfeier. Ich konnte ihm schlecht von meiner Angst vor den Dämonen erzählen, die dafür sorgten, dass ich meine Zunge verschluckte, wenn ich mich nicht an selbst aufgestellte Regeln hielt. Das war einfach unmöglich. Es war mir peinlich, vorallem weil ich genau wusste, wie Schwachsinnig dies alles war. Sich über die Unlogik des eigenen Tuns im Klaren zu sein und es trotzdem nicht verhindern können, das ist wahrer Horror.
Nach langem Zögern behauptete ich schließlich, Durchfall zu haben.
Das sei kein Grund dafür, sich zwei Stunden lang auf dem Klo einzuschließen. Er hatte meine Lüge erkannt.
"Ich hab´ mir in die Hose geschissen", log ich ihn kurzerhand ein zweites Mal an. Das war ebenfalls sehr peinlich, aber ich sah einfach keinen anderen Ausweg mehr.
Den Rest des Tages bekam ich verständlicherweise frei. Keiner lachte, als ich das Büro verließ, obwohl ich mir vorstellen kann, dass die Kollegen es doch taten, nur eben erst als ich weg war.
Zu Hause setzte ich mich auf einen Stuhl und atmete tief ein. Ich wusste, wenn ich jetzt kein Ende fand, dann war es zu spät. Vorsichtig tastete ich mit meiner Zunge die Zahnreihen entlang. Ein merkwürdiges Gefühl. Normalerweise verschwendet man keine Gedanken an solche Handlungen. Sie passieren vollautomatisch; wenn sich nach dem Essen etwas Spinat in der Lücke zwischen den Schneidezähnen verfangen hat, oder wenn man feststellen will, ob die Oberfläche auch schön glatt ist, bevor man sein Date lächelnd im Restaurant begrüßt. Man leckt sich aus einem bestimmten Grund über die Zähne, ohne es wirklich zu registrieren. Der Grund ist wichtig, nicht das Lecken selbst. Es geschieht genauso unbewusst wie die regelmäßige Atmung.
Wenn es dann aber doch dazu kommt, dass man darüber nachdenkt, findet man grundsätzlich etwas, das falsch ist. Ich nahm diese leichte Erhebung auf dem Backenzahn wahr. Diese gefährliche Spitze. Eine halbe Ewigkeit glitt ich mit der Zunge darüber und malte mir aus, welche Verletzungen dieser Zacken mir im Schlaf zuzufügen vermochte. Mich schauderte allein bei dem Gedanken daran. Viel wichtiger war aber, dass dieser Umstand meine komplette Logik durcheinander brachte.
Sechs Minuten am Tag konnten nicht ausreichen. Hinzu gesellte sich der Zwischenfall mit der Zahnbürste. Ich kam nicht länger darum herum.
Ich musste ein System entwickeln.
Wenn die Dämonen sich neue Wege suchten, mich zu vernichten, dann blieb mir keine Wahl, als ausgeklügeltere Barrieren gegen sie zu errichten.
Von nun an teilte ich meinen Tagesablauf in drei Bereiche auf: Den Morgen, die Mittagszeit und den Abend. Insgesamt wollte ich dreißig Minuten darauf verwenden, mich der dunklen Kräfte zu erwehren. Wichtig war dabei die Beachtung der Spitze auf dem Backenzahn. Ihr brachte ich besondere Aufmerksamkeit entgegen. Meine Versuche, die Abstrusität des menschlichen Geistes an sich und der dampfenden Gedankenkacke im Speziellen, zu erkennen und in Folge hieraus zu leugnen, scheiterte bereits im Ansatz.
Also leckte und biss ich; kaute und schmatzte ich; schlug ich mir den Schädel am Waschbecken blutig und verfluchte die Zahnbürste. Ich verfluchte mich selbst dafür, sie wiederholt auf den Boden geschmissen zu haben. Denn so kam die Angst vor Keimen hinzu. Die Angst vor Aids. Die Furcht vor Hepatitis. Die Panik, blind zu werden, weil meine Augen zu lange auf die dreckigen, verunreinigten Borsten geblickt haben.
Kurzum: Ich durchlebte eine stetige Metamorphose, an deren Ende ein grinsendes Teufelchen stand, das eine Axt in beiden Händen hielt. Und so lief, nein, rannte ich atemlos in die verkehrte Richtung, zurück zum Anfang. Getrieben und gepeitscht von Neurosen der extremen Art, die mich in jeder Sekunde um Meter nach hinten warfen, nur, damit ich erneut loslaufen musste; doch einen Unterschied gab es. Denn je mehr sie sich in mir ausbreiteten, die verfluchten, sinnentfremdeten Zwangshandlungen, umso besser lernte ich mit ihnen umzugehen, sie zu kontrollieren. Und das Teufelchen schaute böse.
Den Kollegen fiel es nicht mehr auf und dem Chef drückte ich einen abgeschlossenen Auftrag nach dem anderen in die Hand, respektive legte ich die Dinger in seine Ablage. Verdammt, war ich gut.
Wahnsinn...dass ist nicht bloß kranksein. Wahnsinn ist vor allem eines: Es ist Perfektionismus bis zum Erbrechen.
Es ist...bin ich perfekt?
Meine Route ist gleich. Jedesmal. Man erreicht ein gewisses Pensum. Der Abhängigkeitspegel lässt sich kaum überschreiten. Wer will schon das eigene Gehirn überfluten mit Wellen kaputter Logik, über die sich nicht spekulieren lässt, da die Überlegungen schwammig werden. Es gibt kein Hinten und kein Vorne. Es existiert das Jetzt, und jeder der Gegensätzliches als These in den Raum stellt, der hat ganz einfach noch nicht mitgekriegt wie krank und wie kaputt der Mensch ist, da er leugnet und lügt.
Puuuh...das war anstrengend.
Ich erzähle so viel von meiner Vergangenheit und vernachlässige die Gegenwart, die es gar nicht geben kann.
Mein System ist zu komplex und dennoch kenne ich es auswendig. Fünfzehn DIN A4 Seiten, vollgeschrieben mit vorsorglichen Maßnahmen, der Hölle zu entkommen.
Alles Schwachsinn. Ich weiß es doch. Weshalb hört mich denn niemand? Ich bin in therapeutischer Behandlung gewesen. Dort musste ich schmutzige Türklinken anfassen, ohne mir danach die Hände waschen zu dürfen. Es heißt, nach fünfzehn Minuten vergisst man die Angst.
Aber es ist wichtig, stark zu sein. Ich bin nicht stark.
Neue Zwänge stellen sich ein. Es ist ein Teufelskreis und der Teufel fährt Karussell in diesem Kreis und man selbst liegt auf den Schienen und wundert sich über den plötzlichen Druck im Kopf, jedesmal wenn er über einen drüber braust.
Immer die gleiche Route. Gott, wie es pocht in meinem Schädel, als würde er in tausend Stücke zerspringen. Drei Meter nach vorne. Die Nase zuhalten und den Blick bloß vom Boden abwenden. Nicht auf die Muster in den Steinen treten. Sie sind wie Minen. Der Verstand explodiert, sobald man sie berührt und man muss von vorne anfangen.
Es ist wie bei Nintendo, oder Sega, oder Sony; Game-Over, mit unendlich vielen Continues, denn irgendwann muss es ja gelingen.
Das Leben ist so eine Art Videospiel und Videospiele müssen von Menschen programmiert sein, die selbst zwanghaft gestört sind, zumindest Super Mario; denn der probiert es auch ständig neu, solange, bis er den Weg gemeistert hat, ohne in die Falle seiner Neurosen zu tappen.
Ich drehe mich nach links; zweimal. Dann nach rechts; dreimal, und der Dämon lacht. Ich tue meine Pflichterfüllung.
Gott, bin ich gut.
Gott, bin ich ein Scheisskerl.
Gott, ich werde heute jemanden töten. Dann habe ich dermaßen viel Schuld auf dem Buckel, dass es keinen Ausweg mehr geben kann.
Es ist richtig. Es ist System. Es ist...
Wo war ich gleich stehen geblieben?