Was ist neu

Zahlenreihe

Seniors
Beitritt
02.06.2001
Beiträge
3.722

Zahlenreihe

Eine deprimierende Geschichte, deren stakkatoartiger Stil beabsichtigt ist.
Keinesfalls möchte ich darin eine moralische Wertung über irgend etwas abgeben - es ist einfach "nur" eine Geschichte.


Der linke Fensterflügel war nach außen geöffnet.
Die Hitze war schier unerträglich.
Die Rede des Politikers, absurd verstärkt durch eine riesige Tonanlage, drang in das Wohnzimmer ein. Ständig brandete heftiger Applaus auf.
Frank Thanner, Demokrat, entschiedener Gegner der Todesstrafe, laut Times dem linken Spektrum der Partei angehörend, hielt eine wirklich beeindruckende, flammende Rede.
Er beschwor die alten Werte: Freiheit, Gerechtigkeit, Liberalität.

Einen Meter vom Sims entfernt stand ein Stuhl, dessen Lehne genau in Thanners Richtung deutete.
Niemand sollte Rebecca sehen.
Niemand sollte etwas aufblitzen sehen, im grellen Schein der Sonne.
Thanner war Demokrat. Carmotti war Republikaner gewesen, ehe ihn eine Bombe zerfetzt hatte.

Gerechtigkeit.
Eines jener Worte, die man auslegen konnte wie man wollte - und die meisten taten dies auch.
Rebecca betrat das Zimmer. In der rechten Hand hielt sie eine Diätcola-Dose, in der linken einen Apfel und ein Kartoffelmesser.
Keine 50 Meter von ihr entfernt stand Thanner auf einem Podest und schwang überschäumend vor Optimismus die Arme. Schilder mit der Aufschrift Thanner for President und Get it, Thanner waren deutlich zu erkennen.
Ohne den Anwärter auf einen Sitz im Kongress aus den Augen zu lassen, riss sie den kleinen Aluminiumring nach hinten.
Thanner versprach, sich für die Rechte der Schwarzen und Latinos einzusetzen.
Rebecca trank einen Schluck Cola (Weniger als eine Kalorie! Man stelle sich vor!!!) und fragte sich insgeheim, ob Thanner sich auch für ihre Rechte stark machen würde. Eher nein, entschied sie und stellte die Dose auf der furnierten Tischplatte ab. Diätcola hinterließ einen merkwürdigen, unangenehmen Nachgeschmack im Rachen, so, als hätte man flüssiges Blei getrunken.
Abstruser Gedanke, schoss es ihr durch den Kopf und sie musste unwillkürlich lächeln.

Vorsichtig schnitt sie mit dem Messer eine halbkugelförmige Speide vom Apfel ab.
Thanner wollte die Steuern für die Mittelschicht senken, um dergestalt die Kaufkraft zu erhöhen.
Der süße Saft des Apfels vertrieb den Blechgeschmack der Cola.
Tosender Applaus. Als gälte dieser Beifall ihm, sprang Jade auf den Tisch, den buschigen Schwanz wie eine Funkantenne nach oben gerichtet.

"Heia, heia, Jade! Schön, dass du Zeit gefunden hast, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten.", sagte Rebecca, schnitt eine weitere Scheibe vom Apfel ab und streckte diese dem Kater entgegen.

Jade schnupperte daran herum in der Hoffnung, es könnte sich etwas Leckeres in diesem geruchlosen Ding verbergen. Dem war nicht so, was Jade des essentiellen Spieles rasch überdrüssig werden ließ.
Statt dessen wandte er sich der Blechdose zu. Sein Name leitete sich von den Initialen der verstorbenen Schwester Rebeccas ab: Janet Densmore.
Rebecca schob den verschmähten Leckerbissen in den Mund und kaute genussvoll daran herum, während Thanner seinen schärfsten Widersacher um den begehrten Sitz im Kongress, einen Republikaner mit polnischem Namen; Kharnowsky oder so ähnlich, der Unfähigkeit und Engstirnigkeit bezichtigte.
Gelangweilt verpasste Jade der ungenießbaren Dose einen sanften Hieb mit einem seiner Pfötchen. Die Dose bewegte sich keinen Millimeter. Stück um Stück verspeiste SIE - Gott und Freund in einer Person - den Apfel, für dessen Frische irgend eine Firma aus Kentucky garantierte.
Jade setzte sich und spitzte verwirrt die Ohren, als frenetischer Jubel unter dem Auditorium ausbrach.
Rebecca spülte die letzten Reste des bescheidenen Mahles mit dem braunen, prickelnden Getränk aus Atlanta runter.

"Was kümmert's dich", sprach sie zu Jade, „ob Frank A. Thanner Kongressabgeordneter, Präsident oder Direktor in einer Schule wird? Gar nicht, habe ich recht?"

Jade schwieg, blinzelte ihr jedoch verstohlen zu.

"Du verstehst mich, oder?", fügte sie hinzu und kraulte das weiße Kinn des Katers, was diesen dazu veranlasste, träumerisch die Augen zu schließen.
Was mochte er denken?
Was die anderen über sie dachten, wusste sie.
Die anderen, das hieß, jene Menschen, mit denen sie in unmittelbarem Kontakt stand.
Nun, wie man ihr des öfteren verschmitzt grinsend versicherte war sie sehr hübsch.
Ihre langen blonden Haare, die ihr ebenmäßiges und makelloses Gesicht sanft umspülten, waren keiner chemischen Behandlung ausgesetzt worden. Weder damals, noch heute.
Sie war stolz auf ihr Haar und betonte dies, so gut es ging.
Warum auch nicht?
Eitelkeit war bestimmt keine Sünde, wurde sie nicht übertrieben an den Tag (und die Nacht) gelegt. Ihre Fingernägel waren nicht lackiert und sie trug grundsätzlich legere, bequeme Kleidung.
Zum anderen wollte sie gewisse, verdorbene Subjekte dieser Gesellschaft nicht zu mehr hinreißen, als ihrer psychischen Gesundheit zuträglich war.

"Im Grunde ist es völlig egal, wer das Rennen macht, Jade. Sie sind alle gleich, hinter ihren Fassaden der geistigen Überlegenheit."

Jade legte das Köpfchen schief und starrte sie an. In einer Comicgeschichte würde in dieser Situation ein dickes, schwarzes Fragezeichen in der Luft hängen. Doch dies war kein Comic und so maß Rebecca der Ahnungslosigkeit des Tieres keine allzu große Bedeutung bei.

"Ich sage dir, wer der wahre Abschaum dieser Gesellschaft ist: Männer, die sich ihrer trivialen Dummheit brüsten, und Frauen, die den Männern ihre Dummheit achselzuckend nachsehen, weil es schon immer in diesen Bahnen verlaufen ist."

Thanner rief die Menschenmenge zu neuer Solidarität und frischem Patriotismus auf.

Derweil befeuchtete Jade sein winziges Pfötchen und glitt damit behutsam über seine behaarte Stirn.

"Wir müssen die alten, ausgetrampelten Pfade des Irrtums verlassen und uns auf die Suche nach neuen Wegen machen. Das Überleben künftiger Generationen an Menschen hängt von dieser Frage ab, verstehst du das?"

Pflichtbewusst unterbrach Jade die Katzenwäsche, um IHR in die vergleichsweise kleinen Augen zu blicken. Ein geringer Preis für lebenslängliche Obhut, den er zu zahlen hatte.
SIE war so leicht zufriedenzustellen.
Ein bisschen Hingabe, wie es jetzt der Fall war, schien angemessen.

"Natürlich verstehst du das. Schließlich bist du kein mächtiger Politiker."

Verächtlich sah sie zu Thanner, der von Bodyguards zu beiden Flanken geschützt war. Hinter ihm stand eine bescheuert lächelnde Frau. Vermutlich seine Ehegattin.
Kinder konnte sie keine erkennen. Wozu Kinder in eine Welt wie diese setzen?
Damit sie an Hautkrebs sterben?
An unheilbaren, widerwärtigen Krankheiten?
An ihrer eigenen, fehlgeleiteten Aggressivität?
Jade fuhr ebenso mit seinem Reinigungsvorgang fort, wie Rebecca mit ihrer Rede.
Ihrer Rede, die sich von jenen der Thanners dieser Welt inhaltlich stark unterschied.

"Diese Heuchler, Jade, diese elenden Heuchler! Was wissen die schon vom realen Leben? Ihr Leben spielt sich in Glashäusern ab. Keiner von diesen selbsternannten Übermenschen musste mit ansehen, wie die eigene Schwester qualvoll verblutete, weil irgend ein Arschloch ihr zwei Kugeln durch den zarten Körper jagte.
Zwei Kugeln, abgefeuert aus einer Waffe, die man problemlos ohne behördliche Genehmigung im Laden um die Ecke erwerben kann."

In ihren Augenwinkeln glitzerten Tränen. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen beiseite.
Jade blickte verstört hoch, als IHRE Stimme seltsam verzerrt klang. Hatte er etwas falsch gemacht?
Jedenfalls drehte sie sich um und ging zu einer Kommode. Daraus entnahm sie ein Ding, das fast so seltsam wie der Ton in ihrer Stimme anmutete.

"Die Geistesriesen unserer Welt wären erschüttert. Weißt du, Gewehre sind eindeutig ein Phallussymbol. Und das hier-" Sie schüttelte eine schwere Schachtel. "- muss ich explizit erklären, was das hier ist?"

Sie kehrte an den Tisch zurück und stellte die Schachtel vor Jade ab.

"Manchmal denke ich an Janet. Wie sie heute aussehen würde, was sie tragen würde, welcher Musik sie bedächtig lauschen würde. Ich glaube Mozart. Sie liebte Mozart über alles. Und Bach. Stundenlang dudelte Mozart über den Plattenspieler, den uns Mum zu Weihnachten geschenkt hatte."

Rebecca öffnete die Schachtel.

"Und dann versuchte sie das eben Gehörte auf dem wurmstichigen Klavier im Wohnzimmer unserer Eltern nachzuspielen. Einige Passagen gelangen ihr einwandfrei. Sie war gut. Ja, ich denke, sie hätte ganz gut werden können, wenn man sie nur gelassen hätte."

Jade lugte neugierig in die dunkle Schachtel. Sein Hals wurde dabei länger und länger.
Thanner wusste weder von Rebecca, noch von Janet oder gar von Jade.
Rebecca setzte sich rittlings auf den Stuhl.

"Jesus, der Sohn Gottes, war eine Art Elvis Presley der Antike. Die männlichen Juden neideten ihm seinen Erfolg bei Frauen und Jugendlichen. Vor allem ersteres. Jesus war schön, denn er war gottgleich. Deshalb wurde er gehasst. Und man beschloss ihn dorthin zu schicken, wo er dereinst herkam."

Rebecca entnahm der Schachtel zwei Kugeln.

"Gott, Männer können solche Idioten sein, Jade."

Bedächtig lud sie das Gewehr.

"Das soll nicht heißen, dass wir Frauen bessere Menschen wären, oh nein, aber wir sind die harmloseren Idioten. Mir käme nicht in den Sinn, jemanden an ein Kreuz zu nageln, weil diesem scharenweise jene Leute nachlaufen, die ich zu führen gedenke."

Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf die Lehne. Der Lauf reichte fast einen halben Meter an das Fenster heran.

"Kennedy musste sterben, weil er, na ja, irgendwie weibisch war."

Der Blick durch das Zielfernrohr war atemberaubend.

"Lennons Tod war unglücksseliger Natur. Seine Frau war hässlich, wusstest du das? Ich meine, sie hatte nicht einfach abstehende Ohren oder eine zu große Nase. Sie war hässlich. Schlicht und ergreifend-hässlich!
Chapman war darob entsetzt. Sein Idol durfte nicht aus der Reihe tanzen, und eine hässliche Asiatin an seine Seite ziehen! Große Männer benötigen kleine schöne Frauen, um von ihrer Dummheit abzulenken. Lennon wusste, warum."

Im Fadenkreuz lächelte Thanner, der plötzlich viel größer erschien.

"Große Männer wollen schöne, dumme Frauen, um sich selber etwas vorzumachen. Sie steigen auf die Schultern ihrer Frauen, bis diese unter dem Gewicht zusammenbrechen. Yoko Ono war zu klein, um Lennon größer zu machen."

Der Treffpunkt beider Diagonalen befand sich exakt in der Mitte von Thanners Kehle.
Thanner machte keinen Schritt vor oder zurück. Er blieb wie angewurzelt stehen.

"Möglich, dass Thanner dereinst an die Hebel der Macht gelangt. Doch vorerst habe ich einen Finger frei. Nicht am Knopf, aber auch an einer Art Hebel, Jade."

Der rechte Zeigefinger umschloss den Abzug.

"Zwei, Kandidat Thanner.", flüsterte Rebecca verschwörerisch, "Zwei. Bitte buchstabieren Sie das. Zwei. Z-W-E-I. Zwei."

Der Finger am Abzug entwickelte ein überraschendes Eigenleben.
Der gedämpfte Rückstoß schmerzte anfangs ein wenig. Vereinzelt kreischten Menschen auf.
Jade ergriff erschrocken die Flucht. Mit dem Gewehrlauf verfolgte sie Thanners weiten Weg in das Verderben. Er presste reflexartig eine Hand an die Kehle, als hätte ihn lediglich eine Biene gestochen.

"Zwei, Mister Thanner. Das war eins. E-I-N-S. Eins."

Einer der Leibwächter wollte sich gerade auf Thanner werfen, doch Rebecca, die beinahe engelhafte Erscheinung kam ihm lächelnd zuvor.
Der zweite Schuss traf Thanner in die Brust. Auf dem weißen Hemd erblühte eine wunderschöne rote Rose.

"Richtig. Zwei. Z-W-E-I. Zwei. Setzen."

In der Schultergegend stellte sich ein taubes Gefühl ein. Am nächsten Tag würde sie einen blauen Fleck an dieser Stelle haben.
Blitzschnell lud sie nach. Drei hünenhafte Männer in dezenten dunklen Konfektionsanzügen hatten sich lüstern über Thanners reglosen Körper geworfen.
Der Lärm auf der Straße war unglaublich. Schreiend stob die Menge in panischer Erregung auseinander. Sie konnten nicht wissen, dass es Rebecca auf keinen von ihnen abgesehen hatte.
So sicher wie 'zwei' größeren Schaden als 'eins' anzurichten vermochte, würde es unzählige Verletzte in dieser grotesken menschlichen Stampede geben.
Zwei der Leibwächter fuchtelten mit ihren erbärmlichen Waffen in der Luft.
Mrs. Thanner wurde von einem der Bodyguards zu Boden gerissen. Schützend deckte dieser mit seinem breiten Körper ihren zierlichen Leib.
Rebecca schoss ihm in das rechte Bein, woraufhin der Mann widerstandslos den Blick auf Mrs. Thanner freigab.
Wie eine Schlange kroch sie über die Bretter. Sie war völlig hilflos in ihrer Einsamkeit.

"Z-W-E-I", murmelte Rebecca mit ausdrucksloser Gesichtsmiene und ließ die rechte Hand der Frau in einem Blutregen ersterben.

Derweil wurde Thanner fortgeschafft. Hinter der Dekoration wartete bereits ein Krankenwagen. Das Chaos war unbeschreiblich, und trotzdem bekam Rebecca nichts davon mit, denn zu sehr war sie mit Mrs. Thanner beschäftigt. Sie wollte ihr unnötiges Denken ersparen und schoss ihr den Kopf vom Hals.
Erneut lud sie nach.
Wenn man einmal damit anfing, konnte man nur schwer seinem Verstande Einhalt gebieten. Rebeccas hübsches Antlitz verwandelte sich in eine Maske des Diabolischen.
Sie beschloss, die Schachtel mit der Munition zu leeren.

"Gott, bitte grüß Jesus von mir.", sagte sie mit ernsthafter Stimme, ehe sie einen der Männer in der Menge mit zwei Kugeln durchlöcherte. Z-W-E-I.

 

Congratulations!

Diese Geschichte ist dir gelungen, Rainer. Du hast die Spannung gut aufgebaut, gesteigert und bis zum Schluß diesen Stil "durchgehalten", ohne abzuschweifen. Ausnehmend gut ist dir das Wechselspiel zwischen Frau und Katze gelungen. Das fand ich echt stark gemacht.
Ich hab es mir verkniffen, die Geschichte noch einmal zu lesen, um sie inhaltlich zu überprüfen, weil ich dir erst mal meinen ersten Eindruck ungefiltert mitteilen wollte.
Aufgefallen, gleich beim ersten Lesen, ist mir allerdings die Sache mit der Coladose. Rebecca reißt die Dose auf, obwohl sie in der anderen Hand einen Apfel und ein Messer hält. Das hat mich gestört. Aber das ist ja nur 'ne Kleinigkeit, die man leicht ändern kann.

Gruß und dickes Lob.....Ingrid

 

Oh, danke! Da habe ich wohl rein zufällig mal keine Mist-Geschichte verfasst! :D

Das mit der Cola-Dose stimmt natürlich, weil nirgends erwähnt ist, dass sie den Apfel und das Messer abgestellt hätte.
Durch die gedrängte Erzählform scheint mir das überflüssig, aber ich denke mal darüber nach, ob ich es ändern soll.

Herzlichen Dank für die Kritik und vielleicht gefällt dir ja mal zufällig wieder ne Geschichte von mir? ;)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom