Zeitzeichen
Heute muss es funktionieren, nichts darf dazwischenkommen. Knut Bade fuhr 500 Kilometer in die Unternehmenszentrale, um an einem zweistündigen Meeting teilzunehmen. Zu gern hätte der Vierzigjährige den Termin abgesagt, denn er hatte seinem neunjährigen Sohn versprochen, an der Aufführung des Schultheaters teilzunehmen. Doch die Situation in der Firma war angespannt. Knut konnte der Termin nicht verschieben.
Das Meeting in der Zentrale war voller Entscheidungen. Knut machte sich auf den Rückweg, die Tasche voll mit neuen Aufträgen. Erst in letzter Minute erreichte er den ICE-Sprinter nach Hause. Nun lag der Feierabend und das Schultheater in greifbarer Nähe. Der Zug zuckelte aus dem mehrgeschossigen Hauptbahnhof. Zwischen Wohnhäusern und gläsernen Bürotürmen nahm er Fahrt auf und passierte später die Vororte, ohne anzuhalten.
Knut gähnte und wischte sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln. Die Ledersitze der Business Class waren bequem. „Ein Nickerchen wäre klasse“, denkt Knut. Doch wischte er den Gedanken schnell zur Seite. Im Zug kann er am besten arbeiten. Das Rascheln der Zeitungen der Nachbarn, die leisen Gespräche und das Klappern der Kaffeetassen der Mitreisenden stören ihn kaum. Wie er waren die meisten Schlipsträger. Einer blätterte im Time Magazin, ein anderer daddelte auf seinem Smartphone. Viele hatten ihre Rollkoffer im Gang geparkt. Der ICE Sprinter schoss wie ein rot-weißes Projektil durch Wald und Wiesen. Wenn der Zug Straßen oder Autobahnen passierte, schienen Porsche, Mercedes und Audi wie auf dem Asphalt zu kleben. Die Geschwindigkeitsanzeige über der gläsernen Schiebetür zeigte 320 km/h.
Doch dann, abseits der großen Städte wurde der Zug langsamer. Die vorbeifliegenden Landschaften erhielten Konturen. Dann bremste der Zug und kam nach einigen Kilometern zum stehen. Draußen auf der Weide, mampften Kühe und glotzten in die getönten Scheiben. Knut schaute aus dem Fenster, ein Signalmast versperrte die Sicht. Blechend schepperte die Durchsage des Zugbegleiters durch das Abteil. "Werte Fährgäste, wegen eines Personenschadens wird unser Zug umgeleitet. Die voraussichtliche Verspätung in Frankfurt beträgt 120 Minuten. Wir bitten um Ihr Verständnis“. Einige der Schlipsträger blickten müde von ihren Laptops auf. Andere fingen an, mit ihren Telefonen zu hantieren. Satzfetzen schwirrten durch die Luft: „Hallo Schatz, … ja, es wird wieder später. … nein, ich glaube nicht. … „Tut mir leid, ich kann nichts dafür …“. Einige entschuldigten sich bei ihrem unsichtbaren Gesprächspartner, andere schimpfen. Nur wenigen gelang es, ruhig zu bleiben.
Langsam setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Knuts Vordermann knöpfte erleichtert den obersten Knopf seines Hemdes auf und rollte die Ärmel hoch. Dann klappte er den Sitz zurück und schrieb auf seinem Laptop. Auf seiner Halbglatze funkelten Schweißperlen, immer wieder schaute er auf die Armbanduhr.
„Nie sind sie pünktlich“, schimpft Knut vor sich hin. Ein paar freie Tage, ohne Meetings, E-Mails oder Umsatzstatistiken“, träumte Knut mit offenen Augen. Als er vor Monaten einen Studienfreund besuchte, fragte er ihn, ob er sich kurz auf das Gästesofa legen dürfte. Nur für ein paar Minuten. Zum Abendessen wäre er dann wieder unten. Doch dazu kam es nicht. Knut wachte erst am nächsten Tag auf, entschuldigte sich wortreich und setzte sich verschlafen an den Mittagstisch.
Knut schreibt eine Whats-App Nachricht an seine Frau, dass es heute wieder später werden würde. Er versuchte erst gar nicht, sie anzurufen. „Was soll ich ihr denn sagen?“ Ihre Vorwürfe erträgt er nicht. Er würde zu wenig Zeit mit der Familie verbringen. Hätte immer nur die Arbeit im Kopf. Wie soll das weitergehen, zeterte sie. Er erträgt ihre Vorwürfe nicht mehr. „Du kannst nichts ändern“, verteidigt sich seine innere Stimme.
Knuts Smartphone brummte seit einigen Minuten. Im Display erschien die Nummer seines Chefs. „Hallo Knut“, dröhnte es aus dem winzigen Hörer. „Du bist meine letzte Hoffnung. Kannst Du mir den aktuellen Statusbericht zusammenstellen? Bis Montag früh, geht das?“. Natürlich geht das, dachte Knut und beruhigte seinen Chef. Zeit hat er ja genug hier im Zug. Auch die Mitreisenden hatten die Tische runtergeklappt und werkelten an ihren Laptops. Einmal klopfte der Chef Knut auf die Schulter und lobte ihn. „Du arbeitest für zwei.“ Knut war sehr stolz.
Draußen dämmerte es bereits, sie fuhren an einem kleinen beleuchteten Bahnhof vorbei. Die Zeiger der Bahnhofsuhr standen still. Jemand hatte in dessen Scheibe einen Stein geworfen. Auf dem Bahnsteig spielte Jungs mit einem Ball. Knuts Vater war es, der seinen Sohn ermahnte. „Du musst dich mehr um deine Familie kümmern. Dein Sohn braucht dich.“ Es gab Einträge des Lehrers ins Aufgabenheft. Die Zensuren wären schlecht. Knuts Frau schrieb, dass der neunjährige immer noch ins Bett macht. Auch würde er schlecht Freunde finden. Knut winkte ab. „Ich kann mich nicht zerteilen.“
Ein Zugbegleiter schiebt sein Wägelchen mit Erfrischungen durch den Gang: „Kleine Erfrischung? Kaffee, Bier oder Wasser?“ Knut ist von einer Kaffee-Duftwolke eingehüllt. „Alles hat seine Zeit, nichts kommt ein zweites Mal“, sagte der Vater. Knut träumt: „Mit der Businessclass fliegen, statt mit dem Zug durch die Republik zu zuckeln, dass wär’s“. Doch für seine Gehaltsklasse blieb nur die Bahncard 50. Durch die Schiebetür drängelte sich ein schwitzender Dicker. Knut kam der Geruch des Rasierwassers bekannt vor. „Saß der nicht heute früh auch im Zug?“. Offenbar geht es den anderen nicht besser.
Dann fuhren sie in den Heimatbahnhof ein. Knuts Rollkoffer holperte über das Pflaster, bis er endlich vor der Haustür stand. Der Gong der Tagesschau drang aus einem Wohnzimmerfenster zu ihm runter, der Bewegungsmelder schaltete das Licht an. Knut schloss die Wohnungstür auf und schlich zum Kinderbett. Aus der „Drachen-zähmen-leicht-gemacht-Bettwäsche“ blinzelten ihn Kinderaugen an.
„Schade, dass Du nicht kommen konntest“, flüstert der Kleine. „Aber es war so schön, alle haben geklatscht.“
Knuts Telefon schüttelt sich in der Hosentasche, gleichzeitig leuchtete das Display auf.
„Ich muss noch mal“, flüsterte Knut und strich dem Sohn über die Haare. Verschämt zog er leise die Tür zu. Dann ging er ran.
Zwei Wochen später stand ein Kollege in seinem im Büro. „Hast Du eine Minute?“
„Klar.“
Sie gingen in sein Büro. Dann sagte er: 'Wir müssen unsere Zusammenarbeit beenden. Es tut uns leid. Die Fusion mit den französischen Standorten lässt uns keine andere Wahl. Die doppelt besetzten Stellen sind zu teuer.“
Knut erstarrte. Hörte er richtig? Das musste ein Missverständnis sein. Nervös drehte er den Ehering am Finger. Kalter Wind blies durch das geöffnete Fenster einen Papierbogen von Tisch. Knut sank in den Bürosessel. Seine Hände umklammerten den kalten Stahl der Armlehne.