Zittrige Knie
Zittrige Knie. So stark, dass sie das Gefühl hat, dass sich das Zittern ihren ganzen Körper hochzieht und selbst ihre Schulterblätter beben. Eigentlich müsste jeder sehen, wie ihr Körper zuckt, so stark fühlt sich das Zittern an. Lana schluckt ein paar Mal und versucht tief einzuatmen. Doch es stellt sich keine Beruhigung ein. Durch das Schlucken verschwindet der fahle Geschmack in ihrem Mund nicht. Er wird sogar schlimmer, da ihr Mund dadurch noch trockener wird. Sie hustet. Außerdem verstärkt es das flaue Gefühl in ihrem Magen. Der Kopf dröhnt. Es ist wie zuviel Kaffee, zu viel Nikotin, zu wenig Schlaf und zu viele Gedanken. Höchstwahrscheinlich kommen die meisten körperlichen Beschwerden auch genau daher. Es ist 03:00 Uhr morgens. Lana steht an ihrem Küchenfenster und blickt auf die Straße. Die liegt dunkel und verlassen dar. Ein paar Straßenlaternen werfen orangefarbene Lichtkugeln in die Dunkelheit, aber das war es. Es ist nichts zu sehen, nur Schwärze und die schemenhaften Umrisse von Autos in den Lichtkegeln.
Es ist kälter als erwartet. Mitte April würde man gewöhnlich nicht mit so einer kalten Nacht rechnen. Aber vielleicht ist auch ihre Wahrnehmung verzerrt. Das Zittern kommt eher von ihren Gedanken, die sie erschaudern lassen als von der Kälte. Sie senkt die Zigarette in den Aschenbecher und nimmt anschließend einen tiefen Zug. Langsam beobachtet sie die davon fliehenden Formen des Rauches. Wenn es doch so einfach mit Gedanken wäre. Wenn man Gedanken doch einfach in die Nacht durch das Fenster hinausatmen könnte. Aber das funktioniert nicht. Die Zigarette ist weggebrannt, doch die Gedanken wüten immer noch in ihrem Kopf.
Immer die ewig gleichen Fragen. Warum? Was soll das? Warum tut es so weh? Kenne ich die Wahrheit? Antworten auf diese Fragen sind noch weit entfernt. Doch mit jeder weiteren Sekunde, die sie sich mit ihnen beschäftigt, tut der Kopf mehr weh, wird das Gefühl im Magen ekliger, wird der Mund trockener, wird das Zittern stärker. Der Aschenbecher rutscht ihr aus der Hand und zerbricht auf dem Boden. Regungslos starrt sie auf die Scherben und denkt sich, wie passend diese Symbolik momentan ist. Scherben. Trümmer. Ihr Blick verliert sich noch eine ganze Weile in der Dunkelheit der Straße, bis diese der Dämmerung weicht und Lana sich erschöpft ins Bett legt.
Die Hoffnung ist da, dass am nächsten Morgen alles besser ist. Dass die Probleme sich in Luft aufgelöst haben, wie der Zigarettenrauch. Vielleicht muss sie auch nicht alles bewerkstelligen. Vielleicht kommt eine Lösung von einer anderen Seite. Von ihrem Freund. Von sonstwo. Sie rechnet nicht damit, aber diese Vorstellung ist die einzige, die sie soweit beruhigt, dass sie überhaupt einschlafen kann, bevor ihr Wecker in einer Stunde klingelt.
„Tschüss!“. Damit ist die Tür zu und die Hoffnung zerstört. Lana blickt zu der Glastür und sieht nur noch die Rückansicht ihres Partners, wie er die Straße herunterläuft. Also kein klärendes Gespräch. Kein sich-besser-Fühlen. Sie seufzt, geht duschen und macht sich auf den Weg zur Arbeit. „Guten Morgen, man wie siehst du denn aus? Alles okay?“, fragt ihre Kollegin als sie ein paar Minuten später bei der Arbeit eintrifft. „Morgen. Ja alles okay, nur ein bisschen schlecht geschlafen. Ich geh eben eine rauchen, dann können wir hier loslegen“, sagt sie und geht auf die Dachterrasse. „Warte, ich komme mit, ich will auch eben eine rauchen“, sagt ihr Kollege und sie ist dankbar. Nicht weil sie besonders gerne mit dem Kollegen Zeit verbringen will, sondern weil der Smalltalk sie für eine Zigarettenlänge von ihren Gedanken ablenken wird. „Und wie sieht’s aus bei dir? Man war ich froh, als ich gestern Feierabend hatte. Das Wetter war ja nur super. Aber heute Morgen war es echt kalt, oder?“, plappert der Kollege los. Wenn er nur wüsste, wie kalt es nachts um drei gewesen ist. „Ja wirklich, unglaublich. So kalt. Und das im April. Verrückt“, antwortet Lana. Der Smalltalk könnte wirklich sinnloser nicht sein, aber das ist ihr egal. Solange sie jemand anderem zuhören kann, muss sie sich wenigstens nicht selbst zuhören.
Die Arbeit verläuft wie gewohnt. Das ist das Gute daran, wenn man mit behinderten Menschen arbeitet. Man kann nicht in seinen eigenen Gedanken verweilen. Man muss die ganze Zeit konzentriert sein, ihnen zuhören und aufpassen, dass man an alles denkt, was man zu beachten hat. Die Leerläufe zwischendurch lassen sich gut mit oberflächlichen Gesprächen mit den Kollegen füllen. Nur die Angst vor dem Feierabend vergeht nicht, dann ist sie wieder alleine. Alleine mit ihren Gedanken und endlosen Zigaretten. Dem Kopfschmerz und dem Bauchschmerz. Dem fahlen Geschmack im Mund.