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- 07.10.2019
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Zuhause ist dort, wo man glücklich ist
Jeden Morgen um Zehn kam der dicke Mann mit dem Wasserschlauch, um den Zwinger zu reinigen. Zu keiner anderen Tageszeit waren Gejaule und Gebell lauter. Nicht einmal zur Fütterungszeit ging es derart wild zu. Ohrenbetäubende, aus allen Ecken stammende, jaulende, knurrende oder winselnde Laute. Akito lag reglos im Eck, während die anderen um ihn herumsprangen. Die Terrier drängten Richtung Tor, versuchten immer und immer wieder den Wasserstrahl zu beißen, der aber so stark war, dass einer nach dem anderen sich überschlug und gegen die Wand geschleudert wurde. Fips wedelte mit dem Schwanz, hüpfte mit den Vorderpfoten auf und ab, machte Männchen und purzelte rückwärts um. Er rappelte sich auf und setzte zum Sprung an, den Terriern hinterher, doch spitze Zähne packten ihn sanft im Nacken und zogen ihn zurück. Es war Akito, der aufstand, eine Drehung machte und sich zwischen den hereindonnernden Wasserstrahl und Fips legte.
Wenn der Käfig gereinigt war, ging der Mann weiter. Nachmittags kam der dicke Mann mit einer Schaufel voll Trockenfutter wieder, holte aus und warf die Ladung durch die Gitterstäbe. Alle stürzten aufeinander, saugten die Brocken auf wie Staubsauger und fletschten voreinander die Zähne, um ihren Anteil an der Beute zu verteidigen. Akito schob einen Teil der Brocken mit der Pfote beiseite und knurrte jeden Hund an, der es wagte, ihm und seinem Futter zu nahezukommen. Bis auf Fips, einen äußerst winzig geratenen Malteser. Und Fips wusste längst, dass ein Teil von Akitos Mahlzeit für ihn gedacht war. Fips erinnerte Akito daran, dass er selbst einmal schwach und klein gewesen war. Er erinnerte sich an seinen knurrenden Magen und an die alte Dame, die ihn zwischen den Mülltonnen entdeckt hatte. Jeden Morgen stellte sie ihm eine Schüssel verdünnte Milch und ein Leberwurstbrot unter die Treppe. Nur so hatte er die sengende Hitze Italiens überlebt.
Akito vermisste die alte Dame und seine Treppe. Hätte er nur besser aufgepasst, dann wäre er wohl nicht eingefangen und hierhergebracht worden. An den Ort des niemals endenden Gebells.
Außer den Besuchen des Mannes hatten die Hunde keinen Kontakt zu anderen Menschen. Und der Kontakt, den sie zu ihm hatten, fand meist durch die Gitterstäbe und Zäune statt. Nur dann, wenn der Mann kam, um einen der Hunde zu holen, ging das Tor auf. Und genau diesen Moment nutzte Akito eines Tages, um aus seinem Gefängnis auszubüxen. Es war jener Tag, an dem der dicke Mann kam, um Fips zu holen. „Du bekommst jetzt ein schönes Zuhause“, sprach er, bückte sich und hob Fips auf.
Normalerweise schloss der dicke Mann das Tor hinter sich, doch heute schnappte das Schloss nicht zu. Der Spalt war Akitos Chance. „Ey!“, brüllte der Mann, doch Akito ignorierte die Rufe. Sobald er den trockenen, piksenden Rasen unter seinen Pfoten spürte, schoss er los wie ein Rennpferd und galoppierte, bis er die Grundstücksgrenze erreichte. Mit einem Satz sprang er durch die Hecke hindurch, die den Ort begrenzte, in dem er die letzten Jahre gefangen war. Sein Herz klopfte. Akito drehte sich nicht um. Er raste einfach geradeaus, bis seine Muskeln vor Erschöpfung schmerzten, ihm schwindlig wurde und er hechelnd unter einem Baum zusammenbrach.
„Siehst du das?“ Ute stupste Udo in die Seite.
„Ich sehe, dass wir vor dem Gotthardtunnel im Stau stecken, wenn wir uns nicht beeilen.“
„Ach Udo, unser Urlaub ist noch nicht vorbei und du bist schon wieder gestresst.“
„560 Kilometer. 400 bis zum Tunnel. Mit Stau plus zwei Stunden. Gehst du bitte aufs Klo, damit wir weiter können?“
Ute löste ihren Anschnallgurt und stieg aus dem Wagen. Doch anstatt nach rechts zu den Sanitäranlagen zu laufen, ging sie quer über die Wiese auf den Zaun zu, der zu ihrer Linken lag. Während sie darüber kletterte, rief sie Udo zu: „Was liegt denn da?“, doch Udo tippte auf seinem Navigationsgerät herum. Ute schlich zu der Pinie, in deren Schatten sie ein hellbraunes Fellknäuel entdeckt hatte.
„Wer bist du denn?“ Sie ging in die Hocke und streckte ihre Hand aus.
Akito regte sich kaum, die Hitze der brennenden Sonne staute sich in seinem Fell. Er hechelte und sah Ute an, ohne seinen Kopf zu heben.
„Warte hier. Ich bin gleich wieder da.“ Sie ging zum Auto zurück. „Udo, schnell. Wo haben wir Wasser? Und wo hast du unsere Müslischalen verstaut?" Derweil kramte sie aus der Kühltasche eines ihrer Wurstbrote.
„Wozu brauchst du …?“
„Jetzt frag doch nicht. Lass das Navi liegen und komm mit. Es eilt.“
Sie gab ein wenig Wasser in ihre Hand und hielt sie Akito vor die Schnauze.
„Hast du keine Angst, gebissen zu werden?“
„Von dem lieben Kerl? Der Arme ist doch selbst zum Trinken zu müde!“
Ute wickelte ihr Wurstbrot aus dem Papier. Akito hob seinen Kopf.
„Das weckt wohl deine Lebensgeister, kleiner Kerl.“
Ute knibbelte ein Stückchen ab und hielt es ihm hin. Sanft nahm er es aus ihrer Hand, schluckte es hinunter und begann langsam mit dem Schwanz zu wedeln.
„Siehst du Udo, der ist nicht bissig, sondern hungrig.“
Udo hielt zwei Meter Abstand und beäugte das Geschehen misstrauisch.
"Leberwurst schmeckt dir offenbar", lachte Ute und streckte ihm das ganze Brot hin, während sie sich Udo zuwandte. "Sieh, wie lieb er ist!"
„So verfilzt und mager wie er aussieht, ist er bestimmt ein Streuner. Ein Halsband hat er jedenfalls nicht“, bemerkte Udo.
„Ein Streuner“, wiederholte Ute. Sie dachte nach.
„Was überlegst du dir schon wieder?“, fragte Udo skeptisch.
Ute sah ihrem Mann tief in die Augen: „Uuudooo!“, sie zog die Buchstaben wie Kaugummi in die Länge.
Udo schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wir können doch nicht … also wir haben doch keinen … was das wieder kostet!“, stotterte Udo und verdrehte die Augen.
„Dann ist es beschlossen“, hielt Ute fest. „Ich arbeite ja eh von Zuhause aus.“
„Und du gehst morgens, mittags, abends mit ihm raus?“
„Sicher.“
Akito verschlang das Wurstbrot und rappelte sich auf. Dann schleckte er in Windeseile die Müslischale Wasser leer.
„Darf ich dich streicheln?“, fragte Ute und hielt ihm erneut die Hand zum Schnuppern hin.
„Udo, sieh nur, er reibt seinen Kopf an meinem Arm.“ Ute war entzückt. Zu dritt fuhren sie den langen Weg nach Hause.
Zwei Jahre waren seither vergangen. Auch Udo hatte sich inzwischen mit Akito angefreundet. Er war aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken. Ute hatte ihn mittlerweile Karl getauft. Doch Karl wollte nicht recht auf seinen neuen Namen hören. Weder, wenn er in der größten Mittagshitze durch den Garten raste und dann wie ein Känguru mit einem hohen Satz mitten in den Pool hineinsprang, noch, wenn er sich beim Spaziergang am Rhein von der Leine losriss und für ein paar Stunden verschwand, ehe er alleine wieder nach Hause trottete. Wäre er nicht ausnahmslos zu allen Kindern, Erwachsenen, Hunden und sogar zu Katzen liebevoll gewesen, hätten Udo und Ute ihm wohl einen Maulkorb verpassen müssen, um sicherzustellen, dass er auf seiner einzelgängerischen Wanderschaft niemanden verletzen konnte.
Ute und Udo wohnten in einem hübschen Wohnviertel: Rote, gelbe und rosane Rosen, fliederfarbener Lavendel und weiße Margeriten schmückten die Vorgärten der Einfamilienhäuser. Zwei Häuserblocks südlich davon wohnte Lisa. In einer Gegend, in der nicht eine, sondern zehn Familien in einem Haus lebten. Dort gab es keine Vorgärten. Zu jeder Wohnung gehörte ein Balkon und auf manchen waren sogar Müllsäcke gelagert oder hier und dort eine alte Matratze.
Lisa stand vor ihrem Kleiderschrank und wusste nicht, was sie anziehen sollte. Schweißperlen rannen von ihrer Stirn. Sie hielt sich den Bauch, ihr wurde übel. Normalerweise würde sie sich anziehen, ins Bad schlurfen, kaltes Wasser ins Gesicht schaufeln und die Zähne putzen. Sie würde ihr strubbeliges, stumpfes Haar mit gespreizten Fingern glatt streichen und dann zum Kühlschrank trotten. Ihr Magen würde knurren und das kalte Marmeladenglas in gähnender Leere sie nur daran erinnern, dass nicht einmal Brot vorhanden war. Sie würde tief durchatmen, ihren Mut und ihre Tasche in die Hand nehmen, vor die Türe treten und laufen. So schnell, dass sie das zweite Klingeln nicht verpasste, und doch so langsam, um niemals vor dem ersten da zu sein. Aber an diesem Tag lähmte etwas sie derart, dass sie nicht im Stande war, ihren Arm auszustrecken, sich einen Pullover zu greifen und ihn über den Kopf zu stülpen. Sie stand einfach nur da und starrte die alten T-Shirts an, die sie selbst zusammengefaltet hatte. Lisa dachte an den gestrigen Tag. Sie dachte an die Maus, die von einer Katze gejagt wurde und auf ihrer Flucht schnurstracks auf Lisa zugerannt kam. Lisa hatte sich eilig gebückt und ihre flache Hand auf den Boden gelegt. Die Maus war sofort hinein gehüpft. „Zeig mal“, riefen die anderen Kinder, aus allen Ecken des Schulhofes kamen sie angerannt. Zum ersten Mal stand Lisa im Mittelpunkt, weil sie etwas hatte, das die anderen haben wollten. Eigentlich hatte sie die Maus retten, sie sicher in einem Gebüsch absetzen wollen. Und dennoch hatte sie den Mitschülern nachgegeben und die Hand einen kleinen Spalt weit geöffnet. Ehe sie sich versah, hüpfte die Maus von ihrer Hand auf den Boden und rannte im Zickzack hin und her. Lisa beugte sich über das Mäuschen, wollte es hochheben, doch plötzlich war es fort. Panisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, blickte sich hastig um und hörte, nein, sie spürte plötzlich ein Geräusch. Das Knacken von Knochen. Und wie sie nun da saß, an diesem heutigen Morgen, vor ihrem Kleiderschrank, der Zeiger der Uhr längst an der Acht vorbei, dachte sie an den blutigen, matschigen Fleck, den sie zu Gesicht bekam, als sie ihren Schuh anhob.
„Ich wollte dich retten“, flüsterte sie. „Ich wollte dich doch nur retten.“
„Lisa!“, brüllte ihr Vater aus dem Wohnzimmer.
„Ich komme!“ Sie beeilte sich seinem Ruf zu folgen und stolperte dabei über den Berg aus Schmutzwäsche, der in der Türschwelle zum Wohnzimmer lag.
„Aua!“ Sie rieb sich den Ellenbogen.
„Du kannst einfach nicht aufpassen“, motzte ihr Vater.
„Tut mir leid.“
„Räum das später auf“, brummte er in seinen Bart.
„Ja, Papa.“ Lisa sah zu Boden.
„Aber bevor du in die Schule gehst …“
Lisa sah erwartungsvoll zu ihm auf.
„… bring mir noch ein Bier. Ein kaltes!“
Sie nickte mit dem Kopf und lief zum Kühlschrank.
„Hier, Papa.“
„Und wie soll ich das aufmachen? Hol den Flaschenöffner!“
Als sie zurückkam, fragte sie ihn, ob er heute einkaufen gehen würde.
„Warum sollte ich?“
„Wir haben nur noch zwei Bier und etwas Marmelade.“
„Herr Gott nochmal, schon wieder einkaufen? Da hast ‘nen Fünfer, kauf dir was zu essen. Bier krieg ich auch beim Kiosk. Aber wehe, du gibst es für was anderes aus. Und jetzt ab mit dir!“
„Aber …“
„Nichts aber. Meinst du, die in der Schule warten auf dich? Los jetzt!“
„Guck mal die an“, tuschelte Thomas, als Lisa die Straße vor der Schule überquerte.
Lukas stand daneben und rief: „Haha, deine Eltern sind so arm. Hätten dir lieber ‘ne Jacke, statt Schuhe kaufen sollen. Barfuß hättest die Maus nicht erwischt, du Tierquälerin.“
Lisa senkte den Kopf und schlich ins Klassenzimmer. Sie nahm Platz in der letzten Reihe und versteckte sich hinter einem aufgeschlagenen Atlas, den sie aus dem Bücherregal der Leseecke genommen hatte. Lukas bastelte aus Kugelschreiber und Gummi eine Zwille, sein Radiergummi diente als Geschoss. Frau Müller, die Klassenlehrerin, zeichnete gerade ein Schaubild an die Tafel, als Lisa einen Radiergummi gegen den Kopf geknallt bekam.
„Aua!“ Sie hob den Radiergummi auf.
„Was ist hier schon wieder los? Könnt ihr nicht fünf Minuten still sein?“, Frau Müller drehte sich um. „Oh, Lisa. Schön, dass du hier bist. Wir haben dich in der ersten Stunde vermisst.“
„Haben wir gar nicht“, rief Lukas dazwischen. „Sie ist eine Diebin, sie hat meinen Radiergummi geklaut.“
„Lukas, nicht dazwischenrufen!“
„Aber es ist wahr! Sehen Sie doch selbst!“
„Lisa, hast du Lukas‘ Radiergummi?“
Lisa nickte.
„Nun gut. Dann gib ihm seinen Radiergummi zurück und entschuldige dich.“
Kichern erfüllte den Raum.
„Ruhe!“, diktierte Frau Müller. „Ach und Lisa, nach der Stunde erklärst du mir bitte, was heute Morgen los war.“
Lisa sah auf die Uhr. Der Zeiger stand. Dann sah sie aus dem Fenster. „Wenn ich doch nur zum Fluss gehen und ein Fisch sein könnte“, wisperte Lisa.
„Frau Müller?“ Lisa streckte ihre Hand in die Höhe.
„Ja, Lisa?“
„Mir ist schlecht, darf ich nach Hause gehen?“
„Wenn das so ist, darfst du zur Schulkrankenschwester gehen.“
„Danke, Frau Müller!“ Sie stand auf, nahm ihren Baumwollbeutel und ging zur Tür.
„Mir ist auch schlecht!“, rief Lukas.
„Und mir erst“, spottete Thomas.
„Dürfen wir auch gehen?“
„Ihr dürft zu euren Hausaufgaben noch Zusatzaufgaben machen, wenn ihr euch jetzt nicht benehmt.“
Als Lisa den Raum verließ, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Weder ging sie zur Schulkrankenschwester, noch lief sie nach Hause. Stattdessen schlenderte sie zu ihrem Lieblingsort, dem Rheinufer, setzte sich und sah den Stromschnellen zu. Sie fürchtete keine Abmahnungen oder Elternbriefe, denn ihr Vater unterschrieb alles, was sie ihm hinlegte, ohne es durchzulesen.
Lisas Magen knurrte noch immer. Sie kramte den Fünfer aus ihrer Tasche und drehte ihn hin und her, betrachtete ihn aus allen Richtungen. Dann stand sie auf und ging zum Bäcker.
„Hast du keine Schule, junge Dame?“
„Noch nicht“, flüsterte Lisa. „Später.“
„Und was darf es für dich sein?“
„Ich hab nur einen Fünfer“, sagte Lisa.
„Das dürften wir hinbekommen. Was magst du denn haben?“
„Einen heißen Kakao mit Schaum oder mit Sahne, Hauptsache mit Haube drauf. Wie bei meiner Oma. Und eine Butterbrezel. Und wenn es reicht noch was Süßes, bitte.“
Die Bäckersfrau kam der Bestellung nach, tippte alles in ihre Kasse ein und reichte es über die Ladentheke. „Deine Oma kocht dir leckeren Kakao mit Sahnehaube?“
Lisa schüttelte den Kopf. „Sie trägt zum Duschen eine Haube auf dem Kopf. Die sieht aus wie eine Sahnehaube.“
Die Bäckersfrau schmunzelte. Lisa überreichte ihren Schein.
„Aber da steht fünf dreißig auf der Kasse, so viel hab ich nicht." Lisa schluckte.
„Ja wirklich?“, fragte die Frau.
„Ja.“
„Mensch, du hast ja Recht, aber das macht nichts. Du kannst ja nicht wissen, dass der Herr, der vorhin hier eingekauft hat, genau dreißig Cent zu viel bezahlt hat. Die schenke ich dir jetzt.“
„Danke sehr“, sprach Lisa und verschwand so schnell wie sie gekommen war.
Zurück am Rheinufer setzte sie sich auf den kalten Boden und steckte ihre Nase in den heißen Kakaobecher. Sie trank einen großen Schluck und biss einen mächtigen Bissen von ihrer Butterbrezel ab, dass diese fast zur Hälfte verschwunden war, dann spülte sie mit einem Schluck Schokoladenmilch nach. Lisa spürte, wie die warme Milch in ihren Magen floss und er sich entspannte. Und mit ihm auch sie. „Mit dem Milchbart um die Schnute sehe ich bestimmt aus wie der Weihnachtsmann ...“, sagte sie zu sich selbst.
„Wuff“, antwortete Akito, der nun Karl hieß, und von der Seite her antrabte.
Jeder andere hätte sich in diesem Augenblick erschreckt, aber nicht Lisa. Sie liebte Tiere und ganz besonders liebte sie Hunde.
„Du bist ja ein zotteliger Kerl. Wo kommst du denn her?“
Mit nur einer Handbreit Abstand zu ihr blieb er stehen und neigte seinen Kopf zur Seite.
„Bist du hungrig?“, fragte Lisa, zupfte ein Stückchen von ihrer Butterbrezel ab und hielt es ihm hin.
Er nahm es nicht mit den Zähnen, sondern schleckte es aus ihrer Hand. „Das kitzelt“, gluckste sie. Sie gab ihm noch ein Stück. Und noch eines. Am Ende hatte sie die eine und der Zottelbär die andere Hälfte der Brezel verputzt.
Er setzte sich neben sie, schmiegte seinen warmen Körper an ihren und stupste mit dem Kopf die Hand an, in der Lisa ihren Kakao hielt.
„Das war ja klar!“ Lisa grinste über beide Ohren, strich mit ihrem Zeigefinger den Rand aus Sahne von der Becherwand und hielt ihn ihm hin. So vorsichtig, wie er nur konnte, schleckte er die Sahne ab und knabberte ein wenig.
„Heeey“, Lisa lachte, „lass meinen Finger dran.“
Karl sah sie mit großen Augen an. Dann kletterte er auf ihren Schoß, senkte seinen Kopf und lehnte ihn an ihren Bauch.
„Zeig mal dein Halsband, wem gehörst du denn? Hmm … Karl steht da drauf. Dabei siehst du gar nicht aus wie ein Karl. Karl ist groß und stark. Und bestimmt hat er auch glattes Fell. Nicht so wild und lockig wie du. Du siehst eher aus wie ein …“, sie sah zum Himmel, „wie ein Jack, ein Lupo oder Akito.“
Karl reckte seinen Kopf in die Höhe und bellte einmal kurz. Mit den Hinterläufen auf ihren Oberschenkeln stehend, stemmte er seinen Körper nach oben, legte seine Vorderpfoten auf Lisas Schultern und zog seine feuchtwarme Zunge einmal quer über ihr Gesicht. Lisa lachte vor Freude, wie sie sonst nur lachte, wenn ihre Sahnehauben-Oma sie zum Spaziergang abholte.
„Du heißt Akito?“
Akito wedelte mit seinem Schwanz, als sei er ein Propeller, mit dem er in die Luft abheben wollte.
„Hallo Akito, ich bin Lisa.“ Sie schüttelte ihm die Pfote.
Sie saßen noch eine ganze Weile über- und aneinander gekuschelt, so lange, bis Lisa nervös wurde, weil sie auf die Toilette musste. „Lässt du mich aufstehen?"
Doch Akito hatte es so bequem, dass er sich keinen Zentimeter von ihr fortbewegte. Vorsichtig schob sie ihn beiseite und stand auf. Akito folgte, nein, er begleitete Lisa bis zu ihrem Haus. Er machte Männchen und schleckte ihr zum Abschied noch einmal über ihr Gesicht, bevor er davonlief.
„Papa, Papa! Ich habe einen Freund gefunden!“, jubelte sie. Doch Papa war nicht zu Hause. Lisa setzte sich an den Küchentisch, nahm ein Blatt Papier und zeichnete ein Bild von sich und Akito, mit einem großen, roten Herz darüber.
Tags darauf erreichte sie die Schule nur knapp vor dem zweiten Klingeln. Einzig Lukas und Thomas standen noch auf dem Hof, als hätten sie absichtlich gewartet. Sie feixten, als sie Lisa kommen sahen.
„Uuuuh, mir ist so schlecht, wäääh wäääh. Frau Müller, darf ich zu Mami nach Hause?“, schluchzte Lukas und rieb sich mit den Fäusten die Augen.
„Aber natürlich, kleine Heulsuse. Mir wäre auch schlecht, wenn ich eine unschuldige Maus unter meinen Füßen zerquetscht hätte!“, antwortete Thomas.
Sie lachten, zeigten auf Lisa und hielten sich die Bäuche. Sie stimmten zu Chorgesängen ein: „Tierquäler! Tierquäler!“ und klatschten in die Hände. Lisa wünschte sich einen Zaubermantel herbei, der sie unsichtbar machen würde. Da sie aber keinen besaß, eilte sie an den Taugenichtsen vorbei ins Klassenzimmer. Wie gerne hätte sie die Schule hinter sich gelassen, um den Stromschnellen zuzusehen. Doch an diesem Tag duldete Frau Müller nicht, dass Lisa sich entschuldigen ließ. Weder Übelkeit, noch Kopfschmerzen, Fieber oder was ihr sonst noch einfiel, bewahrten sie davor: Lisa musste bis zum letzten Klingeln des Tages bleiben.
Nach dem Unterricht fing Frau Müller Lisa an der Tür ab: "Lisa, ich mache mir Sorgen. Du gibst kein Wort von dir. Da ich deine Eltern schon mehrmals einbestellt habe, sie aber nicht gekommen sind, werde ich dir heute Nachmittag einen Besuch abstatten. Bitte geh schon vor und gib zu Hause Bescheid."
Lisa fürchtete sich ein wenig, schöpfte zugleich aber auch Hoffnung. Dieses Mal wollte sie keine Ausreden erfinden, sie wollte der Anweisung folgen. Und das hätte sie auch, wenn Lukas‘ Fußballtraining an diesem Nachmittag nicht ausgefallen wäre. „Komm mit!“, raunte er Thomas zu. „Lass uns die noch ein bisschen ärgern.“
Sie nahmen die Verfolgung auf. „Tierquäler!“, riefen sie, sobald die Schule außer Sichtweite war.
„Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass man keine Tiere töten soll?“
Thomas grinste: „Weißt du noch, der Frosch, den wir ange… “
„Schnauze! Das tut jetzt nichts zur Sache“, keifte Lukas.
Lisa dachte an Akito, so fest sie nur konnte. Sie hielt sich die Ohren zu und rannte. Doch sie war nicht schnell genug. Lukas trat ihr von hinten in die Kniekehle, Lisa stürzte zu Boden, schürfte sich die Knie und die Handballen auf. Sie begann zu weinen.
„Geschieht dir recht, du Mauskillerin!“ Lukas triumphierte. Er riss Lisa ihren Baumwoll-Schulbeutel aus der Hand. Den Inhalt verteilte er über dem Asphalt: „Kannst dir nicht mal ‘nen Ranzen leisten, du blöde …“
„Lukas, pass auf!“ Thomas entglitt ein spitzer Schrei.
Akito kam blitzartig aus dem Nichts angeschossen und stürzte sich auf Lukas. Er bellte nicht, gab keinerlei Vorwarnung von sich. Er sprang Lukas in den Rücken und zwickte ihn in die Wade. „Aaaah!“, Lukas fiel zu Boden, seine Arme flogen Halt suchend durch die Luft. Sogleich rappelte er sich wieder auf, sprang in Lisas Richtung, schlug in blinder Wut um sich. Akito kniff Lukas in den Popo, einmal kurz mit seinen scharfen Zähnen, dann blieb er geduckt stehen und knurrte bedrohlich. Lukas ließ von Lisa ab. „Aua“, schrie er, „Auuua!“ Er weinte bitterlich.
Thomas stand daneben, angewurzelt wie ein Baum.
„Steh nicht so dumm ‘rum, ruf meine Mama an. Sofort! Sie muss herkommen. Mach schon!“, Lukas schluchzte.
Lisa glaubte ihren Augen kaum; zwischen ihr und ihren Angreifern fletschte ihr neuer Freund die Zähne.
Thomas kramte Lukas‘ Smartphone hervor. Er wählte den Eintrag „Mama“ aus dem Telefonbuch: „Jule, bist du dran?“, fragte er. „Komm ganz schnell her, Lukas wurde gebissen!“
In diesem Augenblick kam Frau Müller um die Ecke gelaufen. „Was ist denn hier los? Was ist das für ein Schlachtfeld?“ Sie eilte zu Lukas und half ihm auf die Beine. Akito legte sich neben Lisas Füße auf den Boden.
„Lisa hat mich beleidigt“, schimpfte Lukas, „und der dämliche Köter hat mich angegriffen.“
„Na na, solche Ausdrücke möchte ich nicht hören.“
„Aber es ist wahr! Ich hab nix gemacht, wir sind nur hier langgelaufen. Dann hat das Mistvieh mich gebissen.“
„Ist das dein Hund?“, fragte Frau Müller.
Lisa schüttelte den Kopf: „Aber er ist mein Freund.“
„Sind das deine Sachen, die hier verteilt liegen?“
Lisa nickte, senkte den Blick. Ihr strähniges Haar fiel ihr ins Gesicht. Anstatt ihre Schulhefte aufzuheben, kniete sie nieder und kraulte Akito hinter den Ohren.
„Und ihr beiden habt nichts damit zu tun, dass Lisas Sachen hier verteilt liegen?“ Frau Müller zog ihre Augenbrauen hoch.
„Nein. Wir haben nichts gemacht“, log Thomas, „das kann ich bezeugen.“
„Und Lisas Knie haben sich von alleine ...“
Eine schwarze Limousine kam angerauscht, hielt auf dem Bürgersteig, die hintere Türe ging auf und eine blonde Frau mit streng gekämmtem Dutt und einem Hosenanzug schoss aus dem Wagen heraus.
„Lukas, mein armer Lukas!“ Sie riss die Hände in die Luft und drückte ihn fest an sich. Auf seiner Wange blieb ein roter Lippenstiftabdruck hängen. „Ist das der Köter, der meinen Jungen angegriffen hat?“, fuhr sie Frau Müller an.
Lisa legte ihren Arm um Akito.
„Bitte beruhigen Sie sich erst mal, der Schreck ist sicher groß, aber es ist nichts Schlimmes passiert.“
„Nichts Schlimmes?" Lukas Mutter kullerten beinahe die Augen heraus. „Mein Junge hat große Schmerzen und steht unter Schock!“
„Ihrem Jungen scheint es doch ganz gut zu gehen. Ich bin sicher, dass …“
„Sie können glauben, was Sie wollen. Mein Kind wurde attackiert. Der Köter gehört eingeschläfert! Dafür sorge ich höchstpersönlich.“
Frau Müller stellte sich schützend vor Lisa und Akito.
Lukas Mutter drückte ihren Sohn an sich. „Kannst du laufen, mein armer Schatz? Wir fahren jetzt sofort zum Arzt. Sie bleiben hier und rufen die Polizei. Ansonsten hören Sie von meinem Mann!“
Lukas warf seine Tasche über die Schulter und hüpfte in die Limousine. Als sie davonfuhr, streckte er Lisa die Zunge heraus.
„Und du, junger Mann, überlegst dir bis morgen, ob ihr tatsächlich so unschuldig wart, wie ihr behauptet.“
„Ja, Frau Müller“, antwortete Thomas und rannte davon.
„Herrje Lisa, so beruhige dich doch“, sprach Frau Müller.
„Ihm darf nichts passieren!“, schluchzte Lisa. „Er ist mein Freund. Er hat mich verteidigt. Wirklich, sie müssen mir glauben. Sie darf ihm nichts antun. Bitte glauben Sie mir.“ Ihr Körper bebte, weil sie so stark weinte.
„Komm mal her, mein Kind.“ Frau Müller umschloss Lisa mit ihren Armen. „So beruhige dich doch. Ich glaube dir ja. Ich glaube dir wirklich.“
„Ehrlich?“
„Ehrenwort. Ich weiß doch, wie die beiden Jungs sein können, wenn sie zusammen sind. Und ich glaube nicht, dass du deine Schulsachen aus Spaß auf die Straße geworfen und dir dann selber die Knie aufgeschürft hast. Oder hast du das etwa?“ Sie packte Lisa an den Schultern, drückte sie ein Stückchen von sich weg, sah sie prüfend an und lächelte.
„Nein, Frau Müller.“ Auch Lisa lächelte nun.
„Dann wisch dir deine Tränen ab und verrate mir, wem der Hund gehört.“
„Versprechen Sie mir, dass ihm nichts passiert?“
„Indianerehrenwort.“
„Na gut. Also ehrlich gesagt, ich weiß nicht, von wem Akito ist.“
„Hmm, dann müssen wir dich jetzt nach Hause bringen, damit deine Eltern sich nicht sorgen. Und deinen Freund muss ich leider ins Tierheim bringen. Vielleicht trägt er einen Chip, über den man die Besitzer ausfindig machen kann.“
„Ich will ihn nicht alleine lassen.“
„Aber deine Eltern sorgen sich bestimmt.“
Lisa drehte ihr Gesicht beiseite.
„Darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Nur, Sie müssen versprechen, dass Sie es niemandem erzählen.“
„Darfst du. Aber das Versprechen hängt von deinem Geheimnis ab. Es ist meine Aufgabe als Lehrerin, auf meine Schüler aufzupassen.“
„Bitte, ich will mitkommen. Meine Mama ist zurzeit weg und meinem Papa fällt gar nicht auf, ob ich Zuhause bin oder nicht. Bitte nehmen Sie mich mit.“
Frau Müller atmete tief durch, besorgte Falten legten sich auf ihre Stirn.
„Nun, es ist ja nicht furchtbar weit von hier. Wir gehen hin, sagen "auf Wiedersehen" und dann bringe ich dich nach Hause. Mehr ist nicht drin. Wirklich nicht.“
Auf dem Weg dorthin erklärte Lisa ihrer Lehrerin ausführlich, was passiert war. Sie fasste so viel Vertrauen, weil ihr endlich jemand aufmerksam zuhörte, dass sie sogar erzählte, wie sie letztens den Unterricht geschwänzt hatte. Sie erzählte von ihrem Vater, dem leeren Kühlschrank und dem Bier. Frau Müller stellte Lisa viele Fragen. Akito trottete seelenruhig hinterher, er folgte Lisa auf Schritt und Tritt.
„Ist zu Fuß doch weiter als ich dachte!“, sagte Frau Müller.
Das Tierheim hatte einen gelben Anstrich, Katzen, Papageien, Hunde und Schildkröten waren darauf gepinselt. Ein großer Zaun umrahmte den Hof.
„Erstaunlich“, sagte die Frau hinter der Anmeldetheke, eine ältere Dame mit grauschwarzen Locken. Lisa mochte sie sofort. „Er hat dich verteidigt, obwohl er dich kaum kennt. Da hast du aber einen ganz besonderen Draht zu Tieren, wie mir scheint.“ Sie trug einen Strickpullover, darauf eine dicke Katze, die mit einem Wollknäuel spielt. Die Dame kniete nieder, streichelte Akito und fuhr mit einem Lesegerät über seinen Nacken.
„Sie haben Glück, der Hund ist gechippt. Ich rufe die Besitzer gleich an“, sagte die Katzenpullover-Frau zu Frau Müller.
„Endlich eine gute Nachricht. Dann können wir ja beruhigt gehen, ich muss das Kind jetzt nach Hause bringen. Der ganze Vorfall war ein Schock.“
„Richtig, ich will Sie auch nicht aufhalten“, antwortete die Dame vom Tierheim. An Lisa gerichtet sprach sie: „Bestimmt machen deine Eltern sich schon Sorgen, wo du bleibst.“
Frau Müller legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Pssst“, wollte sie zischen, doch Lisa hätte es gehört.
„Oh, ähm. Sieh mal, Lisa, nimm dir doch eine Zuckerstange aus unserem Bonbon-Glas.“
„Will ich nicht, danke. Ich will nur Akito wiedersehen.“
„Kein Bonbon für ein kleines Mädchen? Da musst du aber schrecklich traurig sein. Dafür muss sich doch eine Lösung finden. Ich hab‘ da auch schon eine Idee.“
„Was für eine Idee?“
„Nun, die Frau am Telefon, die gleich kommt, um ihren Hund zu holen, die war wirklich furchtbar nett. Wenn du magst und deine Lehrerin einverstanden ist, dann gebe ich der Frau die Kontaktdaten deiner Lehrerin, damit sie dir Bilder von Akito schicken kann. Vielleicht könnt ihr euch ja auch mal treffen.“
„Das wäre schön.“
„Der Meinung bin ich auch. Das ist eine tolle Idee.“ Frau Müller schrieb ihre Telefonnummer auf einen Zettel, den sie der Tierheimdame überreichte.
Lisa verabschiedete sich derweil von ihrem wuscheligen Kumpel: „Was hätte ich nur ohne dich gemacht, Akito? Lukas ist so ein Blödmann. Ich hasse ihn. Thomas auch. Die sind richtig doof, wenn sie zusammen sind. Ich werde dir nie vergessen, dass du mich gerettet hast.“ Sie kraulte seine Ohren und seinen Rücken. Akito drehte sich und reckte seinen Bauch in die Höhe, alle Viere streckte er von sich. Sein Kopf lag umgedreht auf dem Boden, seine Zunge hing bis auf die Fliesen herunter. Lisa kicherte leise und gab Akito einen Kuss auf die Schnauze. Dann ging sie Hand in Hand mit Frau Müller nach Hause.
Dort angekommen, steckte Lisa ihren Schlüssel ins Schloss und öffnete die Türe.
„Marianne? Marianne bist du das?“, schmetterte es aus dem Wohnzimmer. „Antworte!“ Eine Flasche fiel um, es rumpelte und polterte, ehe der Vater im Flur erschien. Er kniff die Augen zusammen; das Tageslicht, das durch die offene Haustüre fiel, schien ihn zu blenden.
„Wer sind Sie denn?“, lallte der Vater. Lisa beachtete er gar nicht.
Frau Müller räusperte sich, atmete tief durch und stellte sich vor. Sie nannte auch den Grund, aus dem sie hier war.
„Du bringst eine Pädagogen-Tante mit nach Hause, du undankbares Kind!?“ Lisas Vater stolperte auf die Haustüre zu, packte Lisa am Arm, zerrte sie in die Wohnung und knallte Frau Müller die Türe vor der Nase zu.
Frau Müllers Herz pochte wild, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Das kann es doch nicht geben. Das darf doch nicht …“ Sie hielt inne und überlegte kurz. „Jetzt reicht es!“ Frau Müller stampfte aufgebracht die Treppen hinab und noch bevor ihre Füße den Bürgersteig berührten, hatte sie bereits eine Frau vom Jugendamt in der Telefonleitung, die ihr noch für denselben Tag einen Termin einräumte.
Als Ute und Udo beim Tierheim ankamen und das Büro betraten, lag Karl auf dem Boden. Er hob den Kopf, wedelte mit dem Schwanz, aber er stand nicht auf. Seine Augen sahen traurig aus.
Die Katzenpullover-Dame berichtete den beiden ausführlich von den Vorfällen des Morgens, von Frau Müller und der strubbeligen Lisa und auch von Karls Heldentat. Sie erzählte, dass Karl und Lisa herzzerreißend miteinander gekuschelt hatten und, dass das Mädchen sehr traurig war, als es sich verabschieden musste. Dann gab sie den beiden den Zettel mit Frau Müllers Telefonnummer darauf.
Beim ersten Treffen zwischen Lisa, Ute, Udo und Akito, der noch immer Karl hieß, waren auch Frau Müller und eine Dame vom Jugendamt dabei. Es fand in einem Café am Park statt.
„Hier hast du ein paar Hundekekse für Karl. Geh und verwöhne deinen flauschigen Freund.“ Udo drückte Lisa ein Päckchen in die Hand.
„Danke“, antwortete sie, um dann verlegen anzumerken: „Wissen Sie eigentlich, was auch ein toller Name für Karl wäre?“
„Nein, welcher denn?“
„Akito!“, Lisa strahlte und Akito bellte. Dann verschlang er einen Keks.
Udo lachte: „Ein hübscher Name. Ihm scheint er auch zu gefallen.“
„Darf er dann so heißen?“
Ute schmunzelte. „In Ordnung. Ab jetzt heißt dein Fellnasenfreund Akito. Und nun geht ein bisschen spielen, die Erwachsenen müssen sich unterhalten.“
Lisa sprang los, Akito hinterher. Die beiden rollten so wild über die Wiese, dass man nicht mehr erkennen konnte, wo der eine anfing und der andere aufhörte.
„Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte sich Frau Müller.
"Wir statten dem Vater regelmäßige Besuche ab und versuchen gleichzeitig, die Mutter ausfindig zu machen. Nachdem ich die Wohnung von innen gesehen habe, wäre es mir recht für Lisa einen Heimplatz anzustreben, das wäre, angesichts ihrer familiären Umstände, vorerst das Beste“, berichtete die Dame vom Jugendamt.
"Geht das denn so einfach? Die Unterbringung im Heim, meine ich?", erkundigte sich Frau Müller.
"Nun ja, das ist die Schwachstelle im System, wenn sie mich fragen. Die Heime sind voll und ein alkoholkranker Elternteil reicht da mitunter nicht aus, um eine Kindeswohlgefährdung auszumachen. Ohne richterlichen Beschluss können wir uns auf den Kopf stellen, da passiert nichts. Aber wir bleiben dran. Sie haben jedenfalls richtig gehandelt, Frau Müller. Ich glaube, auf kurz oder lang wird es darauf hinauslaufen, dass wir für Lisa eine Pflegefamilie suchen werden.“
Ute sah ihrem Mann tief in die Augen. „Uuudooo!“, Ute zog die Buchstaben wie Kaugummi in die Länge.
„Ja“, seufzte Udo, „diesmal denke ich, du hast Recht.“