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Das Zitat "Leben ist immer lebensgefährlich" stammt von Erich Kästner.
Zwei Zimmer, Küche, Bad
Ich wache auf und weiß sofort, dass die Nacht vorbei ist. Ich bewege mich nicht und halte die Augen geschlossen. Ich weiß trotzdem, dass das Licht grau ist. Der Regen hat aufgehört, die Hexe hockt noch immer schwer auf meiner Brust. Ich weiß, bis wohin der Tag reichen wird. Bis zur Tür. Nicht bis zur Straße und nicht bis zum Hauptbahnhof und schon gar nicht bis nach Hannover zum halbjährlichen Mitarbeitergespräch. Ab sofort wieder in Präsenz. Ich weiß, dass ich eine Ausrede brauche.
Ich muss aufs Klo. Vom Bettende sind es drei Schritte bis zum Flur, vier Schritte über den Flur bis zum Bad, dann drei zur Toilette. Das Bad ist klein, wenn ich will, kann ich gleichzeitig pinkeln, Hände waschen und die Füße duschen. Drei Schritte zum Flur, vier zum Schlafzimmer, noch drei und ich bin wieder im Bett. Die Kastanie vor dem Fenster. Für mich ist es kein Fenster. Es ist ein Bild: dunkle, kahle Äste vor einem asphaltgrauen Himmel. Titel: Kastanie im Herbst.
Drei Schritte bis zum Flur, zwei zum Wohnraum, fünf bis zum Schreibtisch. Ich setze mich, fahre den Rechner hoch, an der Wand vor dem Schreibtisch hängt: Blick auf Häuserwand. Ich schreibe Clemens eine Mail. Dass ich heute nicht komme, dass ich mir einen fiesen Virus eingefangen habe. Fünf Schritte vom Schreibtisch zum Flur, vier zur Küche, drei zum Wasserkocher. Während das Wasser kocht, fülle ich losen Darjeeling in einen Teefilter. Vor mir im Türformat: Balkon vor Kastanie. Zwei Schritte und ich kann nach draußen sehen. Der Innenhof umgeben von den Rückseiten der Häuser, der Kobel in einer Astgabel, ein, zwei Meter unter mir. Kälte dringt durch das Glas der Balkontür. Sie ist aus Holz, einfachverglast, mit einem schönen, alten Metallgriff, dessen Lack an einigen Stellen abgeplatzt ist. Ich lege die Hand auf den Griff. Kalt schmiegt er sich in meine Handfläche. Ein Schritt nur. Draußen hat es zu regnen begonnen. Das Wasser kocht. Ich gieße den Tee auf und setze mich an den kleinen, quadratischen Küchentisch. Balkon vor Kastanie im Blick.
Der Tee schmeckt nach nichts. Ich schaufle zwei Teelöffel Zucker rein und frage mich, ob ein ruhiges Leben nicht genug ist. Vielleicht ist still auf einem Stuhl zu sitzen mehr wert, als all die Hektik draußen. Ja, ein ruhiges Leben. Ein Drinnenleben. Es klingelt. Fünf Schritte bis zum Summer. Mein Herz rast. Wie immer, wenn ich die Tür öffnen muss. Ich schaue durch den Spion. Ein Mann kommt die Treppe hoch. Er ist noch jung. Ich würde gerne die Tür öffnen, ihn anlächeln, mich bedanken, sein Aftershave riechen oder seinen Schweiß. Aber durch die geschlossene Tür sage ich: Stell die Kiste einfach vor die Tür! Ich warte, bis ich ihn nicht mehr sehe und unten die Haustür zufällt. Sobald ich die Wohnungstür öffne, bricht der Schweiß aus. Zu!, kreischt die Hexe. Zu! Zu! Zu! Ich zerre die Kiste rein. Tür zu. Ich atme. Mein Herzschlag beruhigt sich. Alles ist okay, wenn sie kriegt, was sie will.
Die Hexe will, dass ich in der Wohnung bleibe, und ich bleibe. Der Lieferdienst stellt mir die Einkäufe direkt vor die Tür. Man kann sich wirklich alles liefern lassen. Außer Mitarbeitergespräche in Präsenz. Den Schritt vor die Tür gibt es nicht im Angebot. Er kostet mehr Mut, als ich habe. Und Kraft. Meine Muskeln versagen und ich sacke zusammen, direkt hier im Flur. Ich weine, schlage meinen Hinterkopf gegen die Wand, aber der Schmerz hilft nicht. Aus mir kommt ein Laut, den ich nicht kenne. Alles in mir vibriert, das Schluchzen schüttelt mich durch, lässt mich nur stoßweise atmen. Weine oder atme ich? Ich kriege kaum Luft. Mir wird schwindelig, meine Finger kribbeln. Nicht ohnmächtig werden! Ich lege mich auf den Rücken. In meinen Ohren nur Rauschen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort liege, im Flur, neben der Kiste mit den Einkäufen. Ich denke an das Buch, das meine Mutter mir gegeben hat. Leben ist immer lebensgefährlich, steht darin. Fuck you very much! Seit einem Jahr liegt es irgendwo herum. Fünf Schritte bis zum Bücherregal und ich finde es sofort. Es ist viel dünner, als ich es in Erinnerung habe. Mit dem Buch setze ich mich aufs Sofa, schlage es nicht auf. Die Hexe hasst alles Neue. Mein Kopf dröhnt, meine Augen brennen. Im Treppenhaus höre ich jemanden lachen und denke an Luisa. Wir sind in die gleiche Klasse gegangen. In der Neunten hat sie mir hinter der Sporthalle das Rauchen beigebracht. Keine Ahnung, warum ich in diesem Moment an sie denke, Luisa hat ganz anders gelacht und nach dem Abi habe ich sie nie wieder gesehen. Ich lege das Buch zur Seite, setze mich an den Rechner, suche im Internet nach: Luisa Niemann.
Es gibt einige Luisa Niemanns, keine ist meine alte Schulfreundin. Ich tippe weitere Namen ein. Thorben Schilling ist Moderator beim Radiosender Bremen Eins. Unerwartet, der war früher immer so still. Von mir dachten alle, dass ich Illustration studiere, aber nach meinem Jahr als Au-pair habe ich mich für Informatik entschieden. Ich suche nach Julia Bickel, früher ein zierliches Mädchen mit Haaren auf den Zähnen, und während ich mir die Suchergebnisse anschaue, trifft mich unvermittelt ein Gedanke: Habe ich wirklich geglaubt, ich würde heute nach Hannover fahren? Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr draußen gewesen. Natürlich fahre ich heute nicht nach Hannover. Und morgen auch nicht. Oder nächste Woche. Wenn es so weitergeht, fahre ich nie wieder nach Hannover und verliere außerdem meinen Job. Dabei ist er alles, was ich noch habe. Ich will kein Drinnenleben, kein beschissenes Stillleben. Ich will wieder Bäume sehen. Den Dreck in der Luft riechen, wenn es im Sommer zu regnen beginnt. So geht es nicht weiter! Sage ich zu ihr. Zu mir. Weil es stimmt. Und ich mache Nägel mit Köpfen. Lieber Clemens, schreibe ich, ich will meine Mail von heute früh korrigieren. Ich habe nicht wegen eines Virus abgesagt, sondern wegen meiner Agoraphobie.