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Das Auge des Jägers

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08.07.2012
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Das Auge des Jägers

"Licht! Licht, verdammt nochmal!", rief Dr. Rodrigo Santi und eilte die Hauptstraße hinunter. Hinter ihm, im Zentrum von São Jorge, knisterten ein paar Wachfeuer, aber hier, in der Nähe des Waldes, drohte die Dschungelnacht. Vom Marktplatz her hörte man den startenden Dieselgenerator rumpeln. Als Santi das letzte Haus erreichte, riss der Flutlichtstrahler eine entsetzliche Szene aus der Dunkelheit.
Der Jaguar hockte am Ende der Straße, keine zwanzig Schritte entfernt. Vor den Pranken der schwarzen Raubkatze, direkt unter ihren Fangzähnen, lag die Gestalt eines Mannes im Gras. Santi stöhnte.
Aus dem Dorf kamen mehrere Männer herbeigerannt, bewaffnet mit Macheten und Beilen.
"Er hat den alten Milanello erwischt", sagte Santi und rieb sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Nacken. "Wo bleibt José mit dem Karabiner?" Auf dem Markt hinter ihnen knallten Fehlzündungen des Dieselaggregats. Das Grauen erfasste die Männer, als der Jaguar den vor ihm am Boden liegenden Körper packte und im flackernden Flutlicht davon schleifte.
Der Generator setzte aus, und nun standen sie in der Finsternis. Santi starrte in Richtung des Waldrandes. Kurz darauf drang von dort das Geräusch brechender Äste herüber. Einige Männer fluchten verzweifelt.
"Die Bestie trägt ihn auf einen Baum", flüsterte jemand. Einen Moment lang war Stille über allem. Die Männer lauschten atemlos. Dann hörten sie Knochen splittern.
Santi ergriff seine Brille, setzte sie ab und fuhr mit zitternden Fingern über Augen und Stirn. Er wandte sich um, taumelte und stolperte zurück zum Dorf. Ernesto Organi, einer der Männer, die bei ihm gestanden hatten, holte ihn schließlich ein.
"Keine Lust, dem Teufel beim Fressen zuzuhören", stieß er mühsam hervor. Santi erwiderte nichts. Kurz darauf erreichten sie den Praça do Mercado. "Rodrigo, du musst jetzt etwas unternehmen", sagte Organi. Santi blieb stehen und sah ihn im Schein eines Feuers an, das lange Schatten über den Platz zucken ließ.
"Und was soll ich unternehmen, Ernesto?"
"Das weißt du sehr gut. Ich kann die Fährte des Jaguars aufspüren, aber ich kann ihn nicht töten. Du musst mit dieser verrückten Russin sprechen."
Santi knurrte etwas Unverständliches und wandte sich wieder zum Gehen.
"Wirst du es tun, Rodrigo? Sprichst du mit ihr?"
"Kümmern wir uns erst mal um den verdammten Generator."

Am folgenden Morgen steuerte Santi seinen Jeep in der Hitze einer rasch aufgehenden Sonne über Dschungelwege zur Geistersiedlung. Diesen Namen hatte man einem Dutzend verwahrloster Häuser und Gehöfte gegeben, die etwas südlich von São Jorge im Dunst des Regenwaldes verrotteten. Und für einen Geist hielten einige alte Männer und Frauen des Dorfes auch die einzige Bewohnerin der Siedlung.
Anna Oksana Vashkova stand auf der Veranda ihres Hauses, das ein bereits fortgeschrittenes Stadium des Verfalls erreicht hatte. Ein paar Stützpfeiler, Bretter, Dielen und Dachziegel leisteten letzten Widerstand, doch bald würde hier der Dschungel siegen. Vashkova beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht, wie Santi den Wagen vor der Veranda ausrollen ließ, die Fahrertür öffnete und sich schwerfällig vom Sitz hochstemmte.
Und wie sie dort stand, hochgewachsen, blass, reglos, umgeben von faulendem Holz und wuchernden Orchideen, wirkte sie auf Santi seltsam fern und abwesend. Ihre dunklen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zum blonden Haar, das sie zu einem Zopf gebunden trug. War früher sicher eine Schönheit, dachte er, als er auf Vashkova zuging. Doch die ausgezehrten Züge verrieten die Trinkerin, und dass sich bei einer Frau ihres Alters bereits graue Strähnen zeigten, passte zu diesem Bild.
"Guten Tag, Senhora Vashkova", sagte Santi, nahm den Strohhut ab und blieb ein paar Schritte vor der Veranda stehen. "Ich denke, Sie wissen, weshalb ich mich an Sie wende." Vashkova betrachtete ihn einen Moment lang, drehte sich um und ging ins Haus. Santi setzte seinen Hut wieder auf und wartete geduldig. "Nehmen Sie Platz", war Vashkovas Stimme von drinnen zu hören. "Ich hole uns etwas zu trinken."
Santi stieg die Treppen der Veranda hinauf und ließ sich in einen der beiden Korbsessel fallen, die an einem Holztisch standen. Er hörte Vashkova in der Küche des Hauses hantieren. Kurz darauf tauchte sie wieder im Türrahmen auf. Santi machte Anstalten, sich zu erheben, als Vashkova Tanqueray, Soda und zwei leere Gläser auf den Tisch stellte, doch sie winkte ab, und er sank zurück.
"Sie schnaufen so laut wie ein Capybara", sagte Vashkova und goss ihre Gläser voll. "Sind nicht gerade in bester Verfassung, wie?"
Santi lächelte matt. Es gehörte mehr als der Vergleich mit einem Wasserschwein dazu, ihn aus der Fassung zu bringen.
"Naja, ich hatte viel zu tun in letzter Zeit, viel Arbeit, viel Stress … "
"Tabletten", erwiderte Vashkova, reichte ihm ein Glas und setzte sich. "Ich weiß, dass Sie tablettensüchtig sind. Saúde!" Sie stießen an und tranken.
"Sie haben recht", sagte Santi und stellte sein Glas ab. "Warum sollten wir uns gegenseitig etwas vormachen? Lassen Sie uns von Anfang an offen sprechen."
Vashkova betrachtete ihn amüsiert und sagte: "Na, das wäre doch mal etwas Neues in diesem Land. Nur zu!"
"Senhora Vashkova", begann Santi, "Sie haben während der Intervention in Afghanistan in der 154. Abteilung der Speznas als Aufklärer und Scharfschütze gedient."
Vashkova schnalzte mit der Zunge. "Der Mann ist bestens informiert", sagte sie und leerte mit einem Schluck ihr Glas.
Santi ließ sich nicht beirren. "Und ich habe jetzt hier ein Problem, bei dem ich Ihre Hilfe benötige."
Da Vashkova schwieg, fuhr Santi fort: "Ich bitte Sie darum, den Jaguar zu töten, der in São Jorge seit einigen Wochen Menschen angreift." Vashkova lachte auf. "Das kann doch nur ein Scherz sein", sagte sie. "Sie machen Witze."
Santi sah sie mit ernstem Gesicht an. "Heute nacht hat dieses Tier Antonio Milanello getötet, einen Mann, der beinahe dreißig Jahre lang mein Freund war. Nein, Senhora Vashkova, ich mache ganz sicher keine Scherze."
"In São Jorge ist doch jedermann ihr Freund", entgegnete Vaskhova unbeeindruckt und goss sich erneut Gin ins Glas.
Santi betrachtete sie. In ihrem khakifarbenen Leinendrillich sah sie aus, als wäre sie niemals aus Afghanistan zurückgekehrt, und wahrscheinlich entsprach das der Wahrheit.
"Als ich hier ankam, fragte ich mich: Was macht der Kerl in diesem Dorf inmitten des Urwaldes?", fuhr Vashkova fort. Santi schwieg.
"Und dann habe ich ein paar Erkundigungen über Sie eingezogen, Dr. Rodrigo Santi."
"Bei ihren Freunden vom KGB, nehme ich an."
"Sie spielen hier den großen Heiler, den Weltverbesserer", sagte Vashkova, ohne auf Santis Einwurf zu reagieren. "Sie haben dafür gesorgt, dass eine Schule in São Jorge gebaut wird und eine Krankenstation und sogar eine private Arbeitsvermittlung, um die Leute vom Wildern und Schmuggeln abzuhalten."
"Und?", fragte Santi. "Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen."
"Sie haben es achtundsechzig versäumt, in die richtigen Ärsche zu kriechen und mussten vor den Säuberungen fliehen", antwortete Vashkova. "Deshalb sind Sie in diesem beschissenen Dorf gelandet. Und seitdem bauen Sie hier an Ihrem linken Utopia, weil Sie in der Welt da draußen nichts ändern konnten. Weil sie in der richtigen Welt gescheitert sind."
Sie sah ihn finster an und fügte hinzu: "Doch das ist Ihre private Mission. Wenn Sie glauben, dieses Dorf beschützen zu müssen, dann bitte. Aber ziehen Sie mich nicht hinein. Suchen Sie nach einem anderen Weg."
"Das habe ich." Santi rückte seine Brille zurecht. "Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, Sie um Hilfe zu bitten, denn ehrlich gesagt traue ich Ihnen nicht."
Vashkova zuckte mit den Schultern. Santi atmete durch.
"Es hängt alles mit den Stromausfällen zusammen, die jetzt seit drei Wochen andauern", sagte er. "Der Jaguar kommt nachts in das Dorf. Er schleicht an den Feuerstellen vorbei und dringt sogar in die Häuser ein. Ich habe veranlasst, dass ein Dieselaggregat aufgestellt wird, habe einen großen Scheinwerfer beschafft, um das Tier fernzuhalten. Aber das Aggregat ist alt, beinahe unbrauchbar."
"Stellen Sie Wachen auf. Erschießen Sie die Katze."
"Natürlich sind wir auch auf diese Idee gekommen", entgegnete Santi. "Aber wir haben nur ein altes Gewehr und nicht einen einzigen guten Schützen."
Santi nahm einen Schluck und führte seinen Gedanken weiter: "Die ganze Gegend ist seit vielen Jahren Naturschutzgebiet. Es gibt noch ein paar Männer, die wildern, aber sie benutzen Schlingen, keine Gewehre. Wir haben deshalb kaum Leute, die sich mit der Jagd auskennen, und aus Manaus kam bisher keine Antwort auf meine Bitte, einen Ranger zu schicken."
"Tja", sagte Vashkova, "wie Sie schon sagten, ich habe bei einer Aufklärungseinheit gedient. Meine Aufgabe war es, Menschen aufzuspüren und auszuschalten. Mit Großkatzen kenne ich mich nicht aus."
"Sie wären aber dazu in der Lage", beharrte Santi. "Sie besitzen das Auge des Jägers, wie wir hier sagen. Sie können die Katze töten. Ich kenne jemanden, der früher Fährtenleser war. Er bringt uns zu dem Jaguar, und Sie erlegen das Tier."
"Uns?", fragte Vashkova.
"Ich gehe selbstverständlich mit", antwortete Santi.
"Das ist lächerlich … "
"Aber … "
"Hören Sie Dr. Santi!" Vashkova sah ihn mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete. "Ich werde nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Haben Sie das verstanden? Nie wieder."

Zwei Tage später arbeiteten Santi, Organi und einige andere Männer des Dorfes in der Mittagsglut am Generator. Die Gesichter der Männer waren vom Schrecken der vergangenen Wochen gezeichnet. "Wir müssen ihn unbedingt zum Laufen bringen", sagte Santi. Er hantierte mit einer Zange an der Zündung des Aggregats. "Der Generator muss zumindest zwei Stunden lang …"
In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch das Dorf. Es war ein hohes Kreischen, das abrupt verstummte. Santi stand einen Moment lang wie erstarrt, als begriffe er nicht, was hier vor sich ging. Doch dann fiel die Zange aus seiner Hand, und er rannte los. Mehrere Männer folgten ihm.
Santi erreichte als erster die Schule von São Jorge. Alle Eindrücke dieses Augenblicks verdichteten sich zu einer einzigen Empfindung: Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Er musste in Treibsand geraten sein, denn er versank, sackte weg, rutschte abwärts; die Welt mitsamt ihren Geräuschen schlug über ihm zusammen und verschwand.
"Rodrigo!" Organi rüttelte heftig an ihm, und Santi kam zu sich - zitternd, bleich, elend. Sie standen vor der Leiche eines Mädchens. Das blaue Kleid von Maria Flores hatte sich dunkel verfärbt. Von überall rannten Menschen herbei. Sie schrien und weinten, doch Santi hörte es nicht. Er kniete nieder zu der schmächtigen Gestalt und schlang seine Arme um das tote Mädchen, als wollte er Maria Flores vor dem Entsetzen schützen, das jetzt in einer machtvollen Woge das gesamte Dorf überrollte. Santi hob die Kleine empor und trug sie davon. Bei seinem Jeep angekommen, schlug er eine Decke um ihren Körper. Das Kind dicht an seiner Brust, zwängte er sich auf den Fahrersitz.

In Schlieren zogen die Grüntöne des Urwaldes an ihm vorüber, umkreisten ihn und verwirbelten zu einem saugenden Schlund, den Santi hinabstürzte. Der Jeep raste die Dschungelpiste entlang, bog in die Geistersiedlung ein und kam ruckartig vor Vashkovas Haus zum Stehen.
Als Santi die Fahrertür aufstieß, trat Vashkova auf die Veranda.
"Doktor, ich habe Ihnen bereits gesagt … ", begann sie und verstummte mitten im Satz. Santi stampfte die Treppen herauf. Er hielt das tote Kind in den Armen.
"Was soll das bedeuten?", fragte Vashkova. Ihre Stimme zitterte.
Santi legte den Körper des Mädchens vor ihren Füßen ab.
"Sehen Sie bitte genau hin, Senhora Vashkova. Der Jaguar ist die einzige Raubkatze der Welt, die ihre Beute durch einen Biss in den Schädel zu töten vermag."
"Nein!", stieß Vashkova heiser hervor und machte ein paar Schritte zurück. Doch Santi war schneller. Er packte sie im Nacken.
"Sehen Sie sich an, welche außergewöhnliche Kraft dieses Tier besitzen muss!"
Vashkova schlug nach ihm, aber es war zwecklos. Santi hatte ihren Kopf gedreht, und sie konnte den Blick nicht abwenden von dem Gesicht des Mädchens, das von schrecklichen Wunden verwüstet war. Der Schädel musste mehrfach gebrochen sein, Blut und Hirnmasse verklebten das Haar.
"Nein!", schrie Vashkova, unfähig, sich zu beherrschen.
"Das ist Maria Flores", sagte Santi. "Ich war dabei, als sie vor zwei Monaten eingeschult wurde."
Vashkova rang nach Luft, und Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie versuchte, dem Griff, der sie gefangen hielt, zu entkommen. Doch Santi hielt sie fest. So standen sie lange Zeit. Dann erschlaffte Vashkovas Körper. Ihre Knie gaben nach, sie rutschte zu Boden. Zusammengesunken lag sie neben dem toten Mädchen und weinte lautlos.
Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl und sagte: "Sie werden diesen Jaguar töten."

"Es ist noch in sehr gutem Zustand." José Araujo legte das Gewehr auf den Tisch.
Vashkova betrachtete es einen Moment lang, dann sah sie Araujo an und sagte: "Das ist ein Wehrmachtskarabiner."
Araujo nickte. "Ja, ich habe ihn von meinem Vater geerbt, und der hat ihn von einem Deutschen …"
Vashkova wandte sich an Santi. "Dieses Gewehr ist über fünfzig Jahre alt."
"Ja, ein deutsches Qualitätsprodukt", erwiderte Santi gelassen.
Araujo, dem der ironische Unterton entgangen war, nickte erneut und fügte eifrig hinzu: "Ich habe auch ein Zielfernrohr dafür." Und als er Vashkovas fragenden Blick sah, sagte er leise: "Ich habe es nicht montiert, weil ich nicht weiß, wie man es justiert."
"Ist schon gut, José", sagte Santi. "Geh und hol jetzt das Zielfernrohr und die Munition."
Kurz darauf hatte Araujo alles herbeigeschafft. Als er eine kleine Blechkiste auf den Tisch hob, die mit Patronen gefüllt war, fragte Vashkova: "Stammt diese Munition von einem einzigen Los?"
Araujo sah sie irritiert an. "Hast du sie aus einer einzigen Packung?", erkundigte sich Santi.
"Ja, ja", bestätigte Araujo, "aus einer einzigen Packung."
Vashkova drehte sich um und verließ Araujos Haus.
"Vielen Dank, José", sagte Santi, wickelte das Fernrohr in ein sauberes Tuch und steckte es in seine Jackentasche. Dann schulterte er das Gewehr, ergriff die Munitionskiste und folgte Vashkova nach draußen.

"Diese Frau ist kein Geist", sagte Organi, so leise, dass Vashkova ihn nicht hören konnte und zog nachdenklich an seiner Zigarette. "Aber ein Geist verfolgt sie."
Vashkova hatte darauf bestanden, den Karabiner in Ruhe zu überprüfen, also waren sie hierher in den Wald gefahren, zu einer Lichtung, die sich für das Anschießen der Waffe eignete. Die beiden Männer hockten im Schatten des Jeeps und beobachten Vashkova, die in einiger Entfernung bewegungslos unter einem Chagropanga-Busch saß. Vor ihr, auf einer ausgebreiteten Zeltplane, lagen das Gewehr, das Zielfernrohr sowie einige Werkzeuge und Reinigungsmittel, die Organi beschafft hatte.
"Da ist etwas im Krieg passiert", sagte Santi. "Ich konnte nichts genaues herausfinden, aber bei meinen Nachforschungen in Manaus bin ich auf ein Gerücht gestoßen."
"Deine Kontakte funktionieren immer noch hervorragend, was?" Organi lachte. Santi zuckte mit den Schultern.
"Also ein Gerücht … ", sagte Organi. "Worum ging es da?"
"Es heißt, sie sei in den Tod eines Offiziers verwickelt gewesen, mit dem sie … "
" … ein Verhältnis hatte?", fiel Organi ihm ins Wort.
Santi nickte. "Etwas in der Art."

Vashkova fixierte das Gewehr wie einen Feind, den man nicht eine Sekunde aus den Augen lassen durfte. Dann, als hätte sie einen unsichtbaren Widerstand durchbrochen, löste sie sich mit einem Rucken aus der Erstarrung und ergriff den Karabiner. In einer langsamen Bewegung hob sie den Kolben an die Schulter und zielte über die Weite der Lichtung.
"Hier gehen seltsame Dinge vor", sagte Organi unvermittelt. Er beobachtete Vashkova mit einem Blick, in dem sich das Erstaunen über eine plötzliche Erkenntnis widerspiegelte. Santi hatte einen Unterton bemerkt, der ihn aufhorchen ließ. "Was meinst du damit?", fragte er und betrachtete seinen Freund. Organi sprach langsam und stockend, wie einer, dem sich Zusammenhänge enthüllen, die schwer in Worte zu fassen sind. "Ich lebe seit sechzig Jahren in diesen Wäldern", sagte er, "aber von einem menschenfressenden Jaguar habe ich nie zuvor gehört."
Organi drückte seine Zigarette aus. "Wir haben hier einen Jaguar, mit dem etwas nicht stimmt, der nicht hierher gehört ", fuhr er fort. Santi wusste, dass Jaguare von einigen Menschen dieser Region als Geschöpfe der Schattenwelt betrachtet wurden – ein Mythos, der auf die Zeit lange vor der Ankunft der Portugiesen zurückging.
Vashkova begann, die Waffe zu zerlegen, erst zögernd, ja unbeholfen, doch innerhalb weniger Minuten wurden ihre Bewegungen sicherer, und bald zeigte sich die Geschicklichkeit des professionellen Schützen.
"Ein Dämon und eine Fremde, die vom Geist eines Toten gejagt wird", sagte Organi wie zu sich selbst und strich über seine grauen Bartstoppeln.
Santi schnaufte. "Das alles ist mir völlig gleich. Ich will, dass das Töten im Dorf aufhört. Und sie wird dabei helfen!"
Organi erwiderte nichts, doch sein zweifelnder Blick verriet, was in ihm vorging.
Vashkova wischte den Lauf des Gewehrs aus, rieb Verschluss und Patronenlager sauber. Nachdem sie die Waffe entölt hatte, setzte sie alles zusammen, reinigte das Zielfernrohr und montierte es auf dem Karabiner. Dann öffnete sie die Munitionskiste und begann, die Patronen einzeln zu überprüfen.
Die beiden Männer verfolgten gespannt, wie Vashkova schließlich eine Patrone lud und in hockender Position anschlug. Der Schuss krachte durch die Stille des Nachmittags. Vögel flatterten im Geäst der Bäume auf, irgendwo erhob sich das Geschrei von Kapuzineraffen.

Am folgenden Tag begann die Jagd. Viele Dorfbewohner hatten sich versammelt, um die Drei zu verabschieden. Die Augen der meisten Menschen ruhten auf Vashkova, die am Jeep stand und ein letztes Mal die Ausrüstung kontrollierte. Der Auflauf war ihr sichtlich unangenehm. Als eine ältere Frau an ihrer Bluse zupfte, leise auf sie einsprach und einen Talisman aus Obsidian überreichte, wusste Vashkova kaum, wohin sie blicken sollte. Santi sprach ein paar Worte, in denen er Vashkova für ihre Hilfe dankte und seine Hoffnung auf den baldigen Erfolg ihrer Jagd ausdrückte. Dann brachen sie auf. In der Dorfkirche läuteten die Glocken, als sich der Jeep über eine holprige Dschungelstraße nordwärts von São Jorge entfernte.

"Wenn man einen Jaguar sucht", hatte Organi erklärt, "beginnt man am besten in der Nähe eines Flusses." Der Plan ihrer Jagd sah vor, an den Ufern des Río Catauá, einem der tausenden Flüsse im Amazonasgebiet, nach der Katze Ausschau zu halten. Denn dort hatte Organi bereits ihre Fährte aufgespürt, kurz nachdem der linke Fuß von Marcelo Vargas gefunden worden war. Vargas galt als das erste Opfer des Jaguars, doch niemand wusste, ob die Katze nicht schon in anderen Dörfern zugeschlagen hatte.

Die Sonne glühte bereits im Zenit, als Organi mit der Spurensuche begann. Vashkova und Santi warteten auf einer Anhöhe in der Nähe des Jeeps. Das Wasser des Río Catauá strömte träge dahin, ein Schwarm metallblauer Vögel jagte die Uferböschung entlang. Es mochten nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen sein, als Organi Zeichen gab. "Er hat etwas gefunden", sagte Santi mit gedämpfter Stimme, und sie gingen hinunter zum Fluss.
Das Trittsiegel beeindruckte nicht allein durch seine Größe. "Seht ihr, wie tief die Katze hier eingesunken ist?", sagte Organi. "Ich schätze dieses Tier auf zweihundert Pfund oder sogar mehr." Vashkova betrachtete die Spur und sagte dann: "Also gut. Wie geht es jetzt weiter?"
"Ihr wartet hier, ich folge der Fährte", antwortete Organi.
Vashkova nahm den Karabiner von der Schulter, klappte die Blenden des Zielfernrohrs weg, schlug an und begann, den Uferbereich abzusuchen. Organi entfernte sich langsam in geduckter Haltung. Bald war er im dichten Bewuchs der Böschung verschwunden.
"Vor einigen Wochen hat Ernesto den Jaguar hier bereits gesichtet", sagte Santi. "Aber es ist ihm nicht gelungen, näher als neunzig Meter an ihn heranzukommen, und in São Jorge gibt es niemanden, der das Tier auf diese Entfernung erlegen könnte."
"Ich verstehe", sagte Vashkova und starrte durch das Zielfernrohr. Santi setzte sich neben sie und betrachtete von Zeit zu Zeit ihr blasses Gesicht. So vergingen zwei Stunden. Endlich tauchte Organi aus dem Dickicht etwas oberhalb ihrer Position wieder auf. „Ich habe ihn gefunden“, sagte er.
Vashkova und Santi folgten Organi auf einem schmalen Pfad, der tiefer in den Dschungel hineinführte. Kurz darauf erreichten sie eine Senke. Organi legte zwei Finger an die Lippen und deutete auf eine Öffnung im Dickicht. Von hier war ein langgestreckter Abschnitt des gegenüberliegenden Ufers einsehbar. Vashkova machte das Gewehr bereit. Die beiden Männer hockten sich zu ihr. "Dort drüben", sagte Organi so leise, dass es nur ein Hauch war und deutete mit dem Finger über den Fluss.
Vashkova schaute durch das Zielfernrohr, und Santi hob seinen Feldstecher vor die Augen. Sein Blick irrte über Büsche, Luftwurzeln und Blattwerk. „Hab ihn“, vermeldete Vashkova tonlos, und kurz darauf entdeckte auch Santi die schwarze Katze. Der Jaguar thronte etwa einhundert Meter entfernt auf dem Stamm eines in den Río Catauá gestürzten Andiroba-Baumes und schaute über das Wasser. Santi wusste, dass Jaguare an Flüssen manchmal stundenlang auf der Lauer lagen. Egal ob Wasserschwein, Tapir oder Kaiman, ein Jaguar griff jedes Tier an, das nicht schnell genug flüchten konnte und schreckte auch vor Kämpfen mit den gewaltigen Anakondas nicht zurück.
Das seidige Fell des Jaguars glänzte im Schein der Nachmittagssonne. Die Katze schien ganz in die Betrachtung des Wassers versunken, und obwohl Santi den Tod dieses Tieres herbeisehnte, nahm ihm die Pracht dieses Anblicks den Atem. Vashkova hatte eine Patrone geladen und visierte durch das Zielfernrohr. Organi beobachtete sie stirnrunzelnd. Er berührte leicht Santis Arm, und als dieser das Fernglas absetzte und ihn fragend anschaute, wies er mit einem Nicken auf Vashkova, deren rechte Hand mit einem Zittern den Abzugsbügel des Karabiners umschloss.
Organi und Santi verfolgten mit bleichen Gesichtern, wie Vashkova hörbar durchatmete, den Zeigefinger an das Züngel legte und den Druckpunkt des Abzugs suchte. Jeden Augenblick musste der Schuss brechen. Santi schaute wieder durch das Glas. Er sah den gewaltigen Schädel des Jaguars im Profil. Etwas Verschwommenes schwirrte durch die Sichtlinie, ziemlich dicht vor Santis Position, vielleicht ein Vogelschwarm. Er verlor den Jaguar einen Moment lang aus dem Blick, und als er ihn wiederfand, starrte die Katze zu ihnen herüber. Santi hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, so erschreckte ihn die stumme Drohung, die in den Augen des Jaguars lag.
Der Schuss brach mit ohrenbetäubendem Knall. Santi sah durch das Fernglas, wie die Rinde des Baumstammes unter dem Jaguar aufspritzte und das Tier mit einem Satz im Dickicht verschwand.
"Por amor de Deus!“, ächzte Organi und vergrub das Gesicht in den Händen. Santi musterte Vashkova mit einem schnellen Blick. Sie atmete schwer und starrte noch immer durch das Glas. Als Santi sanft ihren Arm ergriff, schreckte sie hoch und fixierte ihn mit einem irren Ausdruck in den Augen. In diesem Moment wusste er, dass etwas nicht stimmte. Vashkova bewegte die Lippen, aber kein Laut war zu hören. Sie wirkte vollständig paralysiert.
„Wir richten erst einmal das Lager“, sagte Santi und bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. „Vielleicht bietet sich später am Abend oder morgen früh eine weitere Gelegenheit.“ Vashkova zitterte jetzt am ganzen Leib. Sie brachte noch immer kein Wort heraus und blickte irritiert um sich. Santi half ihr auf. „Nimm das Gewehr“, sagte er zu Organi.

Die beiden Männer bauten das Lager in der Nähe des Flusses auf. Vashkova saß an den grauen Stamm eines Kapok-Baumes gelehnt und sah teilnahmslos zu. Es schien ihr wieder etwas besser zu gehen, aber Organi betrachtete sie besorgt. „Sie schafft es nicht“, sagte er leise zu Santi.
Als die Nacht anbrach, saßen die Drei um das Kochfeuer und schauten in die Flammen. Vashkova hatte vom Stockfisch und den schwarzen Bohnen kaum etwas gegessen. Sie rückte näher ans Feuer. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.
"Ich denke, morgen früh werden wir mehr Glück haben", versuchte Santi sie aufzumuntern.
"Es lag nicht am Glück", erwiderte Vashkova.
"Woran lag es dann?", fragte Organi. Alle drei – selbst Organi – waren erschrocken über die Schärfe, die in seiner Stimme gelegen hatte. Er räusperte sich. "Tut mir leid. Ich bin müde... "
Santi sah, wie Vashkova die Lippen öffnete und einen stummen Schrei ausstieß. Und obwohl sie keinen Laut hervorbrachte, lag in diesem Schrei ein solches Grauen, dass Santi erstarrte. Tränen traten in Vashkovas Augen, und es schien, als blicke sie durch Organi und die Schwärze der Nacht hindurch. Ihr Körper verkrampfte, und endlich quälte sich ein animalischer Klagelaut aus ihren Lungen.
Santi rappelte sich hoch. "Sie kollabiert", rief er Organi zu. "Hol das Wasser. Schnell!"
Vashkova zitterte heftig. Santi nahm sie in die Arme, und während er eine Decke um ihre zuckenden Schultern legte, setzte Organi eine Wasserflasche an ihre Lippen. Vashkova trank, und allmählich entspannte sich ihr Körper.
Santi bemerkte, dass im Wald um sie herum tiefe Stille herrschte. Nur vom Fluss her war ein leises Rauschen zu hören. Er machte Organi darauf aufmerksam, und der begriff sofort.
"Er ist hier", flüsterte er.
Und nun rochen sie es alle. Der Raubtiergestank war unverkennbar.
"Wo ist er?" Santis Stimme klang heiser. Das Feuer knisterte leise.
Organi saß steif da. "Ich denke, er hat sich vom Fluss genähert", sagte er. Santi hatte seine Machete aus dem Gürtel gezogen. Er spähte verstohlen in die Richtung des Wassers, aber in der Finsternis jenseits des vom Feuer beschienenen Bereichs war zunächst nichts zu erkennen.
Die Katze musste sich an das Lager herangeschlichen haben, als Vashkova zusammengebrochen war. Jetzt konnte jede Bewegung einen Angriff provozieren. Die einzige Hoffnung lag nun im Feuer, der jahrtausendealten Waffe des Menschen gegen die Wildnis und die Mächte der Dunkelheit.
"Ich glaube, er sitzt dort drüben", sagte Organi leise. Santi folgte dem Blick seines Freundes und schüttelte den Kopf.
"Schau ihn nicht direkt an. Schau aus den Augenwinkeln", flüsterte Organi, und jetzt erahnte Santi die Gestalt der riesigen Katze als Fleck tiefster Schwärze, keine zehn Meter von ihnen entfernt.
In diesem Moment erhob sich Vashkova. Santi wollte sie festhalten, doch sie entwand sich seinem Griff so energisch, dass ihm nichts weiter übrig blieb, als mitanzusehen, wie sie ein paar Schritte auf den Schemen des Jaguars zuging. "Sind Sie verrückt geworden?", zischte er ihr hinterher.
Vashkova kniete nieder, wandte sich dem in der Finsternis verborgenen Tier zu und sagte mit klarer Stimme: "Wir achteten bei den Kämpfen darauf, immer eine letzte Handgranate am Mann zu behalten."
Santi sagte zu Organi: "So ein Irrsinn. Wir müssen etwas tun!"
Doch Organi erwiderte: "Nein, lass sie."
Der Raubtiergeruch wurde stärker, seine Schärfe brannte Santi in der Nase. Vashkova sagte: "Niemand wollte lebend in Gefangenschaft der Mudschahidin geraten, denn das war schrecklicher als der Tod."
Santi sah im Schein des Feuers, wie sich Vashkovas schlanke Gestalt krümmte. Er dachte daran, was sich ihm in den letzten Jahren als Gewissheit erschlossen hatte: So etwas wie Vergangenheit gab es nicht. Es mochte ein Früher-passiert existieren – und selbst das war nicht gewiss - aber alles, was jemals geschehen war, bildete sich im Hier und Jetzt ab. Vergangen war es nicht.
"Artjom hatte es nicht geschafft, die Granate rechtzeitig zu zünden", sagte Vashkova mühsam. "Er hat es nicht geschafft."
Sie schwieg einen Moment. Santi vernahm deutlich, dass es in der Dunkelheit vor ihnen raschelte.
"Wir nannten es das afghanische Hemd. Sie schnitten den Gefangenen in Höhe des Beckens die Haut auf … und zogen sie über den Kopf." Die beiden Männer wechselten einen Blick.
"Über dem Kopf … banden sie die Haut zusammen. Sie hatten Artjom an einen Baum gefesselt und sahen dabei zu, wie er langsam erstickte."
Vashkova weinte. Das Gesicht in den Händen, sagte sie etwas auf Russisch. Obwohl Santi es nicht verstehen konnte, war er sicher, dass sie zu Artjom sprach. Nach einer kurzen Pause sagte sie: "Ich feuerte aus einer Entfernung von über achthundert Metern. Das war alles, was ich für ihn tun konnte."
Noch während Santi darüber nachdachte, was jetzt zu tun war, raschelte es erneut. Der Raubtiergeruch ließ nach. Der Jaguar war fort.

Als sich Vashkova am nächsten Morgen schussbereit machte, schien sie frisch und ausgeruht. Santi verfolgte, wie sie den Vorderschaft des Gewehrs auf ihren Rucksack bettete und die Blenden des Zielfernrohrs wegklappte. Er konnte nicht aufhören, sich darüber zu wundern, wie verändert Vashkova wirkte.
Sie hatten einen heiklen Plan gefasst. Organi saß auf jenem Andiroba-Stamm, der halb im Wasser des Río Catauá lag. Etliche Spuren in der Nähe deuteten darauf hin, dass der Jaguar hier häufig auf der Lauer lag. Mit Hilfe eines Bambusrohrs wollte Organi das Jaguarbrüllen eines weiblichen Tieres nachahmen. Diesen gefährlichen Trick hatte er vor vielen Jahrzehnten von Jägern gelernt. Der Hinterhalt bedurfte eines wahrhaft kaltblütigen Schützen, sonst endete die Jagd in einer Katastrophe.
"Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass es eine gute Strategie ist", sagte Santi leise und beobachtete Vashkova, die ihre Jacke zu einem Ballen verknotete, mit dem sie die Schulter im liegenden Anschlag unterpolstern wollte.
"Es ist die einzige Strategie, die wir haben", erwiderte Vashkova, legte sich auf den Bauch und zog die Waffe in die Schulter. Santi setzte das Fernglas an. Über dem Fluss lag ein dunstiger Schleier, doch Organi war gut zu erkennen. Er hantierte mit dem frisch geschlagenen Bambus, korrigierte mit dem Messer die Höhlung des Mundstücks und hob es an die Lippen.
Santi erschauerte, als er das heisere Grunzen hörte, das jetzt über den Fluss drang. Organi schien die Technik perfekt zu beherrschen.
Im Wald um ihn herum trat schlagartig Stille ein. Santi war nervös. Er bemerkte, dass er stark schwitzte. Das Risiko dieses Plans war enorm. Falls der Jaguar Organi angriff, blieben Vashkova nur Sekundenbruchteile für den Schuss. Wäre es nach Santi gegangen, hätten sie es noch einmal ohne den Ködertrick versucht. Doch Organi hatte Santis Einwände nicht gelten lassen: "Der Jaguar weiß, dass wir hier sind. Er wird sich nicht von selbst zeigen. Wir müssen ihn anlocken."
Santi starrte durch das Glas. Schweiß brannte in seinen Augen. Wiegten sich diese Zweige dort im Wind? Er schwenkte zum Fluss, doch außer dem Fließen des Stroms gab es keine Bewegung auf dem Spiegel des Wassers.
"Hab ihn", flüsterte Vashkova im gleichen Moment. "Dann schießen Sie, verdammt noch mal", sagte Santi. Durch das Glas sah er Organi, der jetzt völlig bewegungslos auf dem Stamm saß. Offenbar hatte er den Jaguar bemerkt. Santi suchte das Dickicht hinter Organi ab. Er entdeckte die Katze, als sie aus dem Unterholz schoss.
In diesem Augenblick krachte der Karabiner. Vashkova musste den Jaguar im Sprung getroffen haben. Die Katze prallte gegen den querliegenden Stamm und rollte als zuckendes Knäuel in den Fluss. Santi verlor sie einen Moment lang aus dem Blick, doch dann sah er, dass sie auf das andere Ufer zuschwamm. Vashkova hatte eine zweite Patrone geladen und feuerte, doch der Schuss verfehlte – die Kugel riss eine schäumende Wunde in das Wasser hinter der schwimmenden Katze. Dann verschwand der Jaguar aus dem Sichtbereich.
Santi fuhr hoch, den Griff seiner Machete fest umklammert. "Er ist jetzt auf unserer Seite, Anna!" Auch Vashkova war aufgesprungen. Mit zitternden Fingern lud sie eine Patrone. Sie hörten das Fauchen des Jaguars, und im selben Augenblick war er über ihnen - wie ein Schatten, der durch die Luft segelte. Santi stürzte. Vashkova riss den Karabiner hoch und feuerte. Der Körper des Jaguars fiel schwer zu Boden.
Die Kugel hatte ein paar Wirbel zerschmettert, aber der Jaguar war nicht tot. In seinem Blick loderte eine so entsetzliche Wildheit, dass Santi wie gelähmt dalag. Die Hinterläufe über den Boden schleifend, schleppte sich sich die Katze mit den gewaltigen Vorderpranken an Vashkova heran, die verzweifelt versuchte, den Karabiner durchzuladen. Doch der Verschluss klemmte. Endlich schüttelte Santi seine Erstarrung ab. Er schwang die Machete, stürzte sich auf das Tier und hieb mit aller Kraft zu. Ein tiefes Grollen war zu hören, dann war Stille.

Am Nachmittag rollte Santis Jeep im ersten Gang über die Hauptstraße von São Jorge. Der Körper des Jaguars war auf dem Dach des Wagens festgebunden. Immer mehr Menschen kamen herbeigerannt, und auf einen Moment der Schreckens angesichts der enormen Größe der Katze, folgte ein ungeheurer Ausbruch der Gefühle. Das ganze Dorf schrie, weinte und lachte. Und wieder läuteten die Glocken der kleinen Kirche am Marktplatz. Einer spontanen Prozession zu Ehren des Petrus von Alcantara und des heiligen Georg schlossen sich immer mehr Dorfbewohner an.
Am Abend wurde eine große Festa veranstaltet. Um Mitternacht berichtete Santi vor der ergriffenen Menge, wie sie die Menschenfresserkatze zur Strecke gebracht hatten. Danach gab es kein Halten mehr. Vashkova, Organi und Santi wurden durch das fackelbeleuchtete Dorf getragen. Überall sangen und tanzten die Menschen. Es war seit Wochen die erste Nacht ohne Furcht.

Eine Woche darauf besuchte Santi Vashkova in der Geistersiedlung.
"Ich hatte gehofft, dass Sie sich jetzt etwas häufiger im Dorf blicken lassen", sagte er, nachdem sie angestoßen und getrunken hatten. "Das werde ich", erwiderte Vashkova entspannt. "Aber geben Sie mir noch ein wenig Zeit."
Santi nickte. Er schaute sich um und rieb sich das Kinn. "Sie wissen, dass Sie hier nicht allein leben müssen. Sie könnten jederzeit im Dorf…"
Vashkovas Mundwinkel zuckten, und mit mildem Spott sagte sie: "Ich hoffe, Sie haben nicht vor, mir einen Antrag zu machen, Dr. Santi."
Santi hob sein Glas und trank. "Keine Sorge", antwortete er lächelnd. "Soweit sind wir noch nicht."

 

Diese Geschichte wurde von einem Autor geschrieben, der hier im Forum angemeldet ist, es für diese Geschichte aber bevorzugt hat, eine Maske zu tragen.
Der Text kann, wie jeder andere Text im Forum, kommentiert werden, nach zehn Tagen wird die Identität des Autors enthüllt.

Als Kritiker kann man bis dahin Vermutungen über die Identität des Autors anstellen. Damit man anderen mit einem schlüssigen Rateversuch nicht den Spaß raubt, sind Spekulationen und Vermutungen bitte in Spoiler-Tags zu setzen.
Beispiel:

[spoiler]Ich vermute, dass der Autor der Geschichte Rumpelstilzchen ist. Der schreibt doch auch immer von güldenem Haar und benutzt so viele Ausrufezeichen![/Spoiler]

Die eckigen Klammern setzt ihr mit der Tastenkombination Alt-gr+8 bzw. Alt-gr+9.
Da dies jedoch kein Ratespiel ist, sind Beiträge ohne Textarbeit, also reine „Vermutungen“, nicht erwünscht.

Viel Spaß beim Raten und Kommentieren!


Aufgelöst wird am 07.08.2013

 
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Hallo Maske,

das ist verdammt professionell geschrieben. Also nicht im Sinne von muede-routiniert, sondern im Sinne von souveraen. Es ist auch sehr klassisch meiner Empfindung nach, von der Figurenzeichnung her, vom Aufbau von Atmosphaere und Spannung. Also sehr gut gemacht, man wuerde sich nicht wundern, sowas in einem gut verkauften Krimi zu lesen. Ja, "professionell" ist irgendwie so das Wort, das mir am meisten dazu in den Sinn kommt. Und deshalb hab ich auch kaum Detailkritik. Ein paar mal haette ich Saetze umgestellt, aber das waren echt nur so Winzigkeiten, die man noch dazu kaum logisch begruenden koennte. Das lohnt nicht. An einigen Stellen kamen mir die Dialoge auch etwas steif vor - aber das ist fuer mich etwas was eigentlich zu diesem klassischen Erzaehlstil gehoert, von daher ne Geschmackssache.
Der Stil ist nicht karg, wie gesagt, die Atmosphaere ist sehr dicht, aber er nimmt sich doch zurueck. Man wird eher ins Geschehen hineingezogen, als Einzelformulierungen zu bewundern, was einen ja immer aus der Illusion herausreisst. Ich glaube, das ist fuer so eine Geschichte wichtig, das der Stil die Immersion nicht stoert. Ich koennte sowas zum Beispiel nicht schreiben, ich bin zu verspielt mit Sprache. Da spiegelt sich im Schreiben immer das Thema Schreiben und der Plot kommt niemals zu seinem vollen Recht.
Also ist mir diese Art des Schreibens etwas fremd, erwaermt mein Herz nicht so sehr, aber ich kann es trotzdem in seiner sehr guten Qualitaet anerkennen. Und es hat mich beim Lesen auch gepackt. Ich fand es spannend und wollte wissen, was nun passiert. Gerade auch die Action-Szenen waren sehr gut, spannend und doch ganz nachvollziehbar beschrieben - und das ist ja nun wahrlich nicht einfach.

Ich fand die Anlage sehr gut und interessant. Dieses linke, abgelegene Utopia, in das das Grauen einbricht (son bisschen wie The Village) und auch diese traumatisierte Afghanistan-Kaempferin war als Figur ungewoehnlich und stark. Am Ende war ich trotzdem enttaeuscht, weil ich das Gefuehl hatte, diese Faeden wurden nicht richtig zusammengefuehrt, dass es mehr oberflaechliche Koinzidenz war, dass genau diese Plage, genau dieses Dorf heimsucht und auch nur von genau dieser Kaempferin beseitigt werden kann. Vielleicht hab ich den Zusammenhang aber auch nur nicht verstanden.

Aber mir waere es viel lieber gewesen, wenn der Jaguar die Materialisierung eines ureigensten Defizits dieser gerade dieser Dorfgemeinschaft gewesen waere. Wahrscheinlich in Form eines Wer-Jaguars, der als Mensch im Zentrum dieser Gemeinschaft steht. Dazu haette man sich aber mehr mit der Struktur dieser Gesellschaft auseinandersetzen muessen. Und auch, dass es der Russin da irgendwie im Angesicht des Jaguars gelingt, ihr Kriegstrauma zu bearbeiten - ich versteh das schon, aber es bleibt mir trotzdem etwas oberflaechlich. Also es ist halt irgendwie ihr afghanischer Daemon, den sie da erlegen muss, aber dass der ausgerechnet alsa menschenfressender Jaguar in einem suedamerikanischen Dorf erscheint, bleibt mir etwas dunkel - es wirkt irgendwie recht random, ohne logischen inneren Zusammenhang
Also das ist natuerlich Meckern auf hohem Niveau, aber ohne diese Zusammenhaenge (oder andere, die ich moeglicherweise einfach nicht erkannt habe), bleibt mir diese Geschichte eben eine klassisch und sehr gut gemachte Spannungsgeschichte mit ungewoehnlicher Lokation und ungewoehnlichem Personal - das ist allerdings schon mehr als 90 Prozent aller Geschichten hier leisten. Aber es loest sich dann am Ende doch alles zu unproblematisch auf. Ich haette mir da ne ueberraschendere Wendung gewuenscht, so einen Knoten fuer alle Faeden.

Und noch eine kleine Detailkritik hab ich:

"Sie schnaufen so laut wie ein Capybara", sagte Vashkova und goss ihre Gläser voll. "Sind nicht gerade in bester Verfassung, wie?"
Santi lächelte matt. Es gehörte mehr als der Vergleich mit einem Wasserschwein dazu, ihn aus der Fassung zu bringen.
Das ist so ne didaktische Schreibweise, die mir nicht gefallen will. Da wird einem so ein Koernchen Lokalkolorit untergeschmuggelt wie der Katze die Pille in der Fleischwurst. Das ist hier schon die elegantere Variante, nicht einfach "Capybara heisst uebriges Wasserschwein" aber ich musste die Pille trotzdem ausspucken.

Ich tippe auf Malinche. Hab zwar nicht viel von ihr gelesen, meine aber, dass sie auf jeden Fall sehr professionell schreiben kann und dann kommt dieses suedamerikanische Setting dazu. Mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit (ca. 10%) sehe ich hier Katla, wegen der Figur der russischen Kriegerin und der fiesen Foltergeschichte, aber ansonsten passt es eigentlich nicht so gut zu ihr, von dem etwas zurueckgenommenen Stil her.

lg,
fiz

 
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Hallo Maske,

eine Abenteuergeschichte! So was gibt es hier selten, und schon allein deshalb punktet diese Idee bei mir. Die Story hat einen klassischen Spannungsaufbau, der fast ein wenig altmodisch wirkt (das meine ich durchaus nicht negativ). Dadurch entsteht eine reife, gradlinige und schnörkellose Spannungsstory. Die Figuren sind tolle Spannungsgeschichten-Figuren, das hat mir gut gefallen.

Und ohne große Überraschungen oder viel Firlefanz fräst sich die Handlung durch den Dschungel in Richtung Showdown.

Ja, ein bisschen ging auch mir es so, dass ich noch ein etwas spektakuläreres Finale erwartet habe, eine magische Komponente wegn dieser besonderen Konstellation und dieser Raubkatze, die sich ja auch so untypisch verhielt.

Ich erinnerte mich stellenweise (weil ich mich immer bei Stories an Filme erinnere) an den Film Der Geist und die Dunkelheit, und dieser Film spielt mit solch magischen und mystischen Momenten.

Aber was erwartet man hier eigentlich immer? Dieser tollte Text kann sich mit vielen Texten messen, die zwischen Buchdeckeln gepresst auf dem Buchmarkt erschienen. Er ist spannend und gut geschrieben und ist thematisch hier so ungewöhnlich, dass es mir eine Freude war, diese Geschichte zu lesen. Ob es an der Spannung lag, oder daran, dass ich sowieso nie so drauf achte, Fehler gab es kaum.

Am Ende stand mal irgendwo Festa, da dachte ich, es wäre vielleicht Fiesta gemeint.

Ansonsten: Klasse! Echt.

Rick

Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Story von Proof stammt. Und wenn der es nicht war, dann Schwups

 
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Hallo Maskierte(r),

eine souverän und routiniert geschriebene Geschichte. Da ist eine(r) am Werke gewesen, der sein/ihr Handwerk versteht.

Fehler habe ich keinen einzigen entdeckt beim Durchlesen, ich habe aber auch nicht explizit gesucht.
Ein paar stilistische und nach Logik fragende Anmerkungen möchte ich noch loswerden.

"Licht! Licht, verdammt nochmal!", rief Dr. Rodrigo Santi und eilte die Rua Perseverança hinunter. (...)
Der Jaguar hockte am Ende der Straße, keine zwanzig Schritte entfernt und fixierte ihn mit einem Blick, der Santi innehalten ließ.

Viel, viel später löst sich durch die Anmerkung der fehlenden Elektrizität auf, was es denn mit dem Notstromaggregat auf sich hat. Ich habe bis dahin gerätselt, was dass den soll - das las sich für mich, als hätte ein Regisseur vor einer Bühne gestanden und dem Beleuchter Anweisung gegeben - denn woher sollte irgendjemand wissen, wo der Jaguar wieder auftaucht, um genau da die Strahler hinzustellen?

Dann hat sich mir auch die Frage gestellt, wieso Santi denn wusste, dass der Jaguar einen weiteren Dorfbewohner überfallen hat - und wieso der nicht gleich mit dem im Gebüsch verschwindet? Wenn Santi erst einen Straße herunterrennen muss, um zum Jaguar zu kommen, muss ihn doch irgendein anderer davon in Kenntnis gesetzt haben - da vergehen doch Minuten, in denen der Jaguar doch abhaut mit der Beute.

Also ich will damit sagen, dass diese Eingangsszenerie für mich unnötige Fragen aufwirft, wenn ich mir den Ablauf vorstelle.

"Er hat den alten Milanello erwischt", sagte Santi und rieb sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Nacken.

Wenn Santi dreißig Jahre mit ihm befreundet war, sagt er doch etwas anderes, das ist mir dann zu distanziert.

Und für einen Geist hielten einige alte Männer und Frauen des Dorfes auch den einzigen Bewohner der Siedlung.
Bewohnerin?

"In São Jorge ist doch jedermann ihr Freund", entgegnete Vaskhova unbeeindruckt und goss sich erneut Gin ins Glas.
Ich finde, es ist vom Leser zuviel verlangt, Tanqueray als Gin identifizieren zu können.
Mich hat es jedenfalls irritiert, weil ich nur noch Soda im Kopf hatte.

"Das habe ich", erwiderte Santi und rückte seine Brille zurecht. "Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, Sie um Hilfe zu bitten, denn ehrlich gesagt traue ich Ihnen nicht."
Mann, ist der Santis ehrlich - aber nicht diplomatisch dabei.

Natürlich sind wir auch auf diese Idee gekommen", entgegnete Santi. "Aber wir haben nur ein altes Gewehr und nicht einen guten Schützen."
für mich: und keinen guten Schützen oder keinen einzigen oder das einen müsste kursiv sein, ansonsten wird es anders gelesen wie es gedacht ist

Sie standen vor der Leiche eines Mädchens.
Was war mit dem Jaguar? Wieso hat er die Beute nicht mitgenommen?


In Schlieren zogen die Grüntöne des Urwaldes an ihm vorüber, umkreisten ihn und verwirbelten zu einem saugenden Schlund, den Santi hinabstürzte.
in den Santi hinabstürzte; es ist ja etwas geschlossenes.

So etwas wie Vergangenheit gab es nicht. Es mochte ein Früher-passiert existieren – und selbst das war nicht gewiss - aber alles, was jemals geschehen war, bildete sich im Hier und Jetzt ab. Vergangen war es nicht.

Der Gedanke gefällt mir ausgesprochen gut.

Ein klassischer Aufbau: Da ist eine Gemeinschaft, die ein Problem hat und die verschrobene Aussenseiterin mit Geheimnis kann Abhilfe schaffen. Anfangs baut sich noch etwas leicht Unheilvolles auf:

"Hier gehen seltsame Dinge vor", sagte Organi unvermittelt.
und ich dachte dann, dass die Geschichte vielleicht nach Demaskierung in Horror landen wird, oder zumindest in Spannung/Krimi.

Leider löst sich das alles in Zuckerwatte auf. Ganz ehrlich: Die zwei letzten Absätze machen die für mich sehr gut geschriebene Geschichte leider auf der Ziellinie um einiges schlechter, als sie es eigentlich verdient hätte. Die würde ich komplett streichen und die Anna weiterhin etwas geisterhaft in ihrer Siedlung wohnen lassen, vielleicht mit einem Hauch von Verstehen zwischen Anna und Santi, aber so gesetzt, dass es alles oder nichts heißen könnte.

Wer kann das geschrieben haben:

Da hat jemand ganz viel Ahnung von Südamerika, dem Schießen und vom Jaguar. Oder es ist jemand, der gründlichst recherchiert hat. Viele bleiben nicht übrig von denen hier auf kg.de, die das jedenfalls bisher so demonstriert haben. Da ja aber der Maskenball eben auch mal Autoren dazu bringen kann, anders zu schreiben, wird die Palette wieder riesengroß. Ich lese kaum Spannung, deswegen kann es sein, dass ich potentielle Schreiber nicht lese und deswegen nicht auf dem Schirm habe, jedoch traue ich diese Recherchearbeit auch Novak oder Fliege zu, aber die würden beide eigentlich kein so Schubidu-Ende bringen. Von daher kein richtiger Tipp von mir, ich bin gespannt - nach längerem Sinnieren über den Autor kam mir noch der Gedanke, dass es lakita sein könnte. Dann wäre sie aber über sich selbst hinausgewachsen. Die probiert ja auch immer mal was aus und bei ihrer Bananengeschichte hat sie sich gut in die afrikanische Welt hineinrecherchiert (das kann sie aufgrund ihres Berufes auch gut)

Freu mich schon auf die Auflösung,
bernadette

 

Hallo Maske

Es ist sehr professionell geschrieben, die Formulierungen gewählt und passend, was es mir als Leser ermöglichte, darin wie in einem Fluss einzutauchen. Die Spannung war von Anfang an und durchgehend gegeben, was darauf schliessen lässt, dass der Autor oder die Autorin im Metier des Schreibens verwurzelt und in der abenteuerlichen Thematik bewandert sein muss. Es erweckte mir auch den Eindruck, dass für die Geschichte präzis recherchiert wurde, selbst etwa die Tilden für die nasale Aussprache in portugiesischen Namen nicht fehlten.

Die Gesichter der Männer waren vom Grauen der vergangenen Wochen gezeichnet.

Hier stolperte ich, das Grauen wirkte mir überzeichnet, wenngleich ich den Dorfbewohnern natürlich Angst zugestehe. Angst oder Schrecken hätten mich glatt über diese Passage geleitet.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass sowohl die Frau als auch der Jaguar in diesem Kampf umkommen. So war mir der milde gestimmte Ausgang der Geschichte überraschend, aber doch nicht unstimmig. Der Autor oder die Autorin wollte halt eine heile Welt bewahren. :D

Eine Vermutung anzustellen, wer die Autorin oder der Autor sein könnte, fällt mir schwer, nachdem ich es gelesen habe. Als ich erst den Titel erblickte, fiel mir spontan ein bestimmter Autor ein, der sich in der Welt von Scharfschützen anscheinend gut auskennt. Es gibt jedoch auch Indizien, die für eine bestimmte Autorin sprechen könnten. Diese Merkmale waren auch feirefiz aufgefallen, die ihren Nick ebenso erwähnte, doch könnten es auch ungeplante Parallelen zu einer andern Geschichte ebendieser Autorin sein. Bei den andern Autoren, deren Stil und deren bevorzugte Ausdrucksweisen mir genug vertraut sind, würde ich keinen favorisieren.

Mir war die Geschichte faszinierend zu lesen, insbesondere auch dadurch, da sie sich nicht überrissener Schilderungen bediente.

Schöne Grüsse

Anakreon


Mein erster Gedanke war Achillus, dem die Figurenzeichnung der Vashkova entsprechen könnte. Im Stoff stiess ich dann auf Indizien, die Katla repräsentierten, auch wenn das Amazonasgebiet meines Wissens bisher nie in ihren Geschichten auftrat.

 

Hallo Maske,

professionell hin oder her, mich überzeugt die Geschichte nicht. Sie ist mir zu gradlinig geschrieben und deswegen langweilig - so langweilig auch wieder nicht, sonst hätte ich nicht bis zum Ende gelesen - ich habe mich schon dafür interessiert, wie die das jetzt lösen. Und war echt gespannt darauf und die GEschichte geizt auch nicht mit Spannungsmomenten, die aber wie bernadette sagte sich in Zuckerwatte auflösen. Diese ganzen falschen Fährten, die da gelegt werden, lösen natürlich hohe erwartungen aus, die dann nicht eingehalten werden und das enttäuscht mich als Leser.
Das haben die Vorkritiker schon erwähnt, das dieser Organi auf so eine mysteriöse Art sagt - es ginge etwas vor sich, was man nicht erklären kann - man hat da schon enige mystische Elemente erwartet. Dann hast du da so ein riesen Faß aufgemacht mit der russischen Agentin, die im Afghanistankrieg in den Siebzigern dabei war. Und dann dieser Doktor Santi, der sich im Dorf eine Utopie aufbauen will - also, du schaffst es leider nicht, diese STränge zu einem gemeinsamen zu bringen und damit die Geschichte - wie man bei solch einer linearen Handlung erwarten würde - rund zu machen.

Was den Stil angeht - das ist natürlich total GEschmacksache - aber ich könnte ein Buch, das in diesem Stil verfasst ist, nicht lesen. Das ist ja sehr drehbuchartig geschrieben und da denke ich, anstatt so eine GEschichte zu lesen, da kann ich auch einen Film gucken. Ich meine die Stärke der Literatur ist die Sprache. Aber wie gesagt, das ist denke ich Geschmacksache und es gibt ja auch dafür auf jeden Fall ein Publikum.

Mich hat die Geschichte an diese britischen Kolonialschriftsteller erinnert, Rudyard Kipling, Bram Stoker, und ganz kleines bisschen an H.G. Wells Island of Dr Moreau - als die Russin es verpasst den Jaguar zu erschießen und davor zittert und auch dann in der Nacht so einen Auftritt hinlegt, vor dem Jaguar heult und ihn fast anbettelt, wenn sie so auf die Knie geht, da dachte ich, das ist kein normaler Jaguar. Schließlich verschwindet er dann auch. Ich dachte, irgendwie haben die Menschen da was angestellt, was diesen Jaguar so austicken lässt - vielleicht steckt ja Dr. Santi dahinter - der da vielleicht etwas erschaffen wollte, was sein Dorf beschützen sollte und es ist außer Kontrolle geraten. Dann gibt es natürlich auch den Satz, dass die Russin kein Geist sei, aber ein Geist begleite sie, wie von Organi betätigt - da denkt man, sie hätte eine Macht über die Wildnis und deswegen auch über den Jaguar.
Also, lauter red herrings eigentlich.

Für mich wäre die Geschichte ideal, wenn sie das eingehalten hätte, was sie verspricht, wenn sie Dr Santi mehr beleuchtet hätte, seine Motive, das mit dieser Utopia - wie gesagt Dr Moreau like - ist interessant, die Dorfmenschen, diese Anna und natürlich Organi, also wenn ihre Motive und Hintergründe mir klar wären, wenn sie nicht dem plot geopfert worden wären - dann wäre das für mich eine super Geschichte.

Das klingt jetzt alles so negativ - aber das war natürlich auch spannend zu lesen und handwerklich, das haben dir auch schon die anderen gesagt - ist das definitiv über dem Durchschnitt. :)


Ist ein Autor, (männlich! :p) von dem ich nicht so viel gelesen habe oder gar nix gelesen habe.

JoBlack

 

Hej Maske,

Die Idee von einem Tier, dass eine Gemeinschaft warum auch immer bedroht und gejagt wird, hat was. Gab es ja auch schon einige Male (Deiner Geschichte ansatzweise ähnlich: "Der Tiger" von John Vaillant).

Die Geschichte wirkt auf mich solide, als hätte jemand lange daran gefeilt, dass verschiedene Zahnräder gut ineinander greifen und ich würde gerne sagen:"Die Mühe hat sich gelohnt", aber hinter dieser Mechanik vermisse ich (tut mir leid, das klingt hoffentlich nicht zu hart) Lebendigkeit und Einfallsreichtum, Farben, Gefühle. Das, was eine gute Geschichte ausmacht.
Es ist so, als würde ich zweidimensionalen Scherenschnitten zusehen, wo ich Menschen und Tiere aus Fleisch und Blut (soweit Geschichten die liefern können) erwarte.

Ein paar rausgefischte Beispiele um anzudeuten, was mir fehlt:

fixierte ihn mit einem Blick, der Santi innehalten ließ
Das hab ich mehrmals gelesen, dieser Jaguar- Blick, der irgendwie Einhalt gebietet. Aber damit beschreibst Du die Reaktion, nicht den Blick selbst und der Jaguar bleibt nahezu augenlos.

Vashkova beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht
hochgewachsen, blass, reglos,
wirkte sie auf Santi seltsam fern und abwesend.
Auf mich auch. Gut, sie hat eine blonden Zopf und dunkle Augen. Aber ich seh sie trotzdem nicht.
ausgezehrten Züge
Schon klar, aber was soll das konkret bedeuten. Wozu brauche ich ausgezehrte Züge, wenn ich nichts habe, worauf ich sie nageln kann?

"Das kann doch nur ein Scherz sein", sagte sie. "Sie machen Witze."
Was ist daran so abwegig? Sie (als alter Afghanistan-Hase) weiß bestimmt, dass außer ihr niemand im Umkreis von zwanzig Meilen eine Wumme hat.

Was mir gut gefallen hat:

"Das Biest trägt ihn auf einen Baum", sagte jemand tonlos. Einen Moment lang war Stille über allem. Die Männer lauschten atemlos. Dann hörten sie Knochen splittern.
Weil es so "schön" drastisch ist. Dramatischer, nach meinem Gefühl als vieles, was danach kommt.

Das hier ist mir noch aufgefallen:

"Sie schnaufen so laut wie ein Capybara", sagte Vashkova und goss ihre Gläser voll. "Sind nicht gerade in bester Verfassung, wie?"
Santi lächelte matt. Es gehörte mehr als der Vergleich mit einem Wasserschwein dazu, ihn aus der Fassung zu bringen.
Das find ich zu offensichtlich. Da würde ich lieber auf den unbekannten Namen verzichten und sie nur "Wasserschwein" sagen lassen.

Ich zieh trotzdem immer wieder meinen Hut vor Dir und allen, die hier eine Geschichte posten.

LG
Ane

 

Hallo Maske,
Die Geschichte ist handwerklich sauber geschrieben. Ich konnte sie in einem Rutsch lesen. Der Handlung konnte ich leicht folgen und mir gefiel, dass Wörter wie Trittsiegel ect verwendet wurden. Neben dem Lokalkolorit war das ein angenehmer sprachlicher Ausflug. Der Plot ist nicht neu, menschenfressende Riesenkatzen werden darin oft mystifiziert und letztendlich ist es die Urangst des Menschen, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden, die angesprochen wird.
Dazu passt auch der Bericht der Russin zu dem afghanischem Hemd. Als die UdSSR Afghanistan besetzt hatte, ging ich noch in die Schule. Die Russin lebt nicht mehr in ihrer Heimat. Daher siedel ich das zeitliche Geschehen auf die Zeit kurz nach 1989 und vor 11/9 an. Während der Einstieg und der Hauptteil der Geschichte gefiel, war das Ende irgendwie fantasielos. Ich hätte die Geschichte schon mit diesem Absatz und mit den Kirchenglocken enden lassen.

Am Nachmittag rollte Santis Jeep im ersten Gang über die Hauptstraße von São Jorge. Der Körper des Jaguars war auf dem Dach des Wagens festgebunden. Immer mehr Menschen kamen herbeigerannt, und auf einen Moment der Schreckens angesichts der enormen Größe der Katze, folgte ein
ungeheurer Ausbruch der Gefühle. Das ganze Dorf schrie, weinte und lachte. Und wieder läuteten die Glocken der kleinen Kirche am Marktplatz. Einer spontanen Prozession zu Ehren des Petrus von Alcantara und des heiligen Georg schlossen sich immer mehr Dorfbewohner an.
Ich vermute, dass der Autor der Geschichte seltener veröffentlicht und es Katzano (wegen des Genres) ist. Natürlich habe ich wegen des Lokalkolorits auch an Malinchen gedacht, aber das wäre zu einfach, daher setzte ich alternativ auf jemanden, der ebenso routiniert recherchiert, wie Katzano. Der Ausflug in die russische Besatzungszeit Afghanistans passt auch zu Pardus. Beide Nick Namen irgendwie auch zu dem Jaguar

LG, GD

 
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Hallo Maskierte/r

(obwohl ich dieses Mal sehr sicher bin, wer es war ... ;) )

Hinter ihm, im Zentrum von São Jorge, knisterten ein paar Wachfeuer, aber hier, in der Nähe des Waldes, drohte die Schwärze der Dschungelnacht.

Die Formulierung "die Schwärze der Dschungelnacht" kommt mir übertrieben düster vor. Sonst gefällt mir die Formulierung mit "drohte die Dschungelnacht".


Der Jaguar hockte am Ende der Straße, keine zwanzig Schritte entfernt und fixierte ihn mit einem Blick, der Santi innehalten ließ. Vor den Pranken der schwarzen Raubkatze, direkt unter ihren Fangzähnen, lag die Gestalt eines Mannes im Gras.

Das gefällt mir. Ein "Killer"-Jaguar. Ich stehe auf diese Mensch vs. Tier Geschichten, und ich nehme es gleich mal vorweg, mir gefällt an dem Text, dass es sich um einen "normalen" Jaguar handelt. Der ist nicht extrem groß wie so manches Killer-Krokodil, nicht so extrem aggressiv wie so mancher Killer-Hai, auch nicht zu gerissen oder so. Das ist ein ganz normales Tier, das sich mit dem Menschen um Lebensraum streitet, und jetzt kämpfen beide gegeneinander.

"Das Biest trägt ihn auf einen Baum", sagte jemand tonlos. Einen Moment lang war Stille über allem. Die Männer lauschten atemlos. Dann hörten sie Knochen splittern.

Ist natürlich eine starke Szene - der eigentlich übermächtige Mensch muss tatenlos zusehen, wie die Raubkatze einen der ihren verschleppt. Ich frage mich hier allerdings, ob die Bewohner nicht zu tatenlos sind. Ich hab das mal irgendwo gelesen, als in einem afrikanischen Dorf ein Junge von einem Krokodil getötet wurde, da haben die Bewohner alles dafür getan, dieses Krokodil zur Strecke zu bringen und haben das auch geschafft. Die hatten glaub auch keine Schusswaffen, aber sie haben Stöcke, Steine, Schleudern, Speere, Messer ... und sie sind in der Überzahl. Natürlich mag ein Krokodil einfacher zu fangen sein als ein Jaguar, und ich würde mich wohl auch nicht in einer dunklen Nacht nur mit einem Baseball-Schläger bewaffnet dem Tier nähern ... trotzdem. Ich denke, die Bewohner könnten hier aktiver sein.

Santi erwiderte nichts. Kurz darauf erreichten sie den Praça do Mercado. "Rodrigo, du musst jetzt etwas unternehmen", sagte Organi.

Einmal Santi, einmal Rodrigo. Ich hab da immer ein wenig Schwierigkeiten mit den ausländischen Namen (wenngleich die spanischen einfacher sind als die russischen zum Beispiel), aber ich denke, du könntest es dem Leser einfacher machen, wenn du bei einem Namen bleiben würdest.

Und wie sie dort stand, hochgewachsen, blass, reglos, umgeben von faulendem Holz und wuchernden Orchideen, wirkte sie auf Santi seltsam fern und abwesend.

Hat mir auch gefallen, wie diese Russin ins Spiel kommt. Sie hat etwas geheimnisvoll-wildes an sich und scheint tatsächlich der richtige Gegner für das wilde Tier zu sein, die einzige, die es erlegen kann. Sie erinnert mich von der Figur her ein wenig an Quint aus Der weiße Hai, der war auch so ne Art Eigenbrötler, dem aber jeder zugetraut hat, das Tier zu erlegen.

Vashkova lachte auf. "Das kann doch nur ein Scherz sein", sagte sie. "Sie machen Witze."

Das ist so ein Aspekt, der mir nicht gefällt. Die Geschichte folgt mir hier ein wenig zu konventionell den Regeln des Genres. Es ist klar, dass sie erstmal ablehnt, und es ist auch klar, dass sie am Ende zustimmen wird. Das ärgert mich immer ein wenig, weil es so ein hin und her ist, das mir nichts gibt. Es macht die Handlung auch nicht spannender, eher zäher.

Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl und sagte: "Sie werden diesen Jaguar töten."

Genau. Ich frage mich, ob es das tote Mädchen braucht, um die Frau umzustimmen. Auch hier hast du wieder einen starken Moment - Santi, wie er das tote Mädchen vor die Frau legt und diese dann zusammenbricht. Das ist ähnlich wie am Beginn. Vielleicht eine Nuance zu theatralisch, aber ich finde das schon gut gemacht. Wahrscheinlich würde ich das ähnlich lösen :).

"Ich lebe seit sechzig Jahren in diesen Wäldern", sagte er, "aber von einem menschenfressenden Jaguar habe ich nie zuvor gehört."

Ja, ich muss zugeben, auch ich habe am Ende mit mehr gerechnet. Sätze wie dieser lassen die Vermutung aufkommen, es geht hier um etwas Größeres als den Jaguar. Aber, auf der anderen Seite, sind es auch solche Sätze, die mich die Geschichte mit Spannung haben lesen lassen. Man denkt natürlich immer, der Autor hat was in der Hinterhand, aber im echten Leben gibts am Ende auch nicht immer den großen Knall. Braucht es auch nicht. Ich kann mir diesen Satz in dem Zusammenhang sehr gut vorstellen, und am Ende stellt sich halt raus: Ja, in den letzten 60 Jahren gabs einen solchen Jaguar nicht. Aber jetzt ist einer aufgetaucht. Vielleicht hast du solche "Hinweise" ja extra eingestreut, um den Leser auf eine falsche Fährte zu locken, und klar ist man dann ein wenig enttäuscht, wenn am Schluss sich alles mehr oder weniger in Wohlgefallen auflöst und die große Überraschung ausbleibt. Damit musst du rechnen. Aber ist das deshalb schlecht gemacht? Nö, gar nicht, denn dadurch wurde die Geschichte spannender.

Am folgenden Tag begann die Jagd. Viele Dorfbewohner hatten sich versammelt, um die Drei zu verabschieden.

Musste hier auch wieder an Der weiße Hai denken. Da war es ähnlich, und hier hab ich auch damit gerechnet, dass nicht alle drei zurückkommen. Aber eben, das ist vielleicht auch ein Spiel mit den Erwartungen des Lesers.

Die anschließende Jagd fand ich auch spannend und gut beschrieben. Auch dass Vashkova erstmal danebenschießt ist konsequent. Wie sie dann in der Nacht im Lager zusammensitzen und Vashkova ihre Geschichte erzählt - da musste ich wieder an Quint denken, da sitzen sie auch nachts zu dritt im Boot, und sowohl Quint als auch Vashkova erzählen von einem traumatischen Erlebnis in ihrer Vergangenheit, beides hat mit dem Krieg zu tun. Erzählerisch finde ich das gut gemacht, sehr spannend, auch weil du hier immer wieder den Raubtiergeruch erwähnst - man spürt die Anwesenheit des Tieres, ohne dass man weiß, wo genau es sich aufhält - sehr schön. Die Geschichte von Vashkova ist auch wirklich grausig, auch wenn ich daran zweifle, ob jemand wirklich noch lebt, wenn man ihn vom Becken aufwärts häutet.

Ja, das Ende dann - wie gesagt, ich hab auch mit mehr gerechnet. Es geht dann doch recht schnell, aber man ist das halt auch von Geschichten dieser Art so gewohnt: Das Highlight kommt zum Schluss, die Explosion, der große Knall. Hat ja auch seinen Grund, warum das in der Regel so gemacht wird; nichtsdestotrotz finde ich, kann man davon auch mal abweichen. Vielleicht war das ja auch genau deine Absicht, um mal zu sehen, wie die Leser reagieren. War sicherlich auch mal interessant, so einen Schluss zu lesen, persönlich gefällt mir die Explosion am Ende aber auch besser.

Unterm Strich fand ich die Geschichte unterhaltsam und spannend. Sie macht auch einen gut recherchierten Eindruck auf mich. Ich mag auch dieses Grundthema, auch wenn es sehr oft wirklich schlecht umgesetzt ist, hier zum Glück nicht.

Persönlich mag ich es auch lieber, wenn am Ende lose Fäden zusammenlaufen, das hast du hier verpasst, aber ich vermute, es war Absicht deinerseits.

Ich hab ihn beim letzten Mal schon auf der Liste der Verdächtigen gehabt, aber diesmal bin ich ganz sicher, das war Achillus. Es passt vom Inhalt her, wieder ein Thema aus der Rubrik Spannung / Krimi, aber auch die Formatierung, diese häufigen Absätze, das ist sein Stil. Da müsste ich mich schon sehr täuschen dieses Mal :)

 

Hallo Maske,

deine Geschichte hat ein cooles, unverbrauchtes Setting und mit dem Jaguar und der Großwildjagd auch eine Thematik, von der ich hier im Forum glaub ich noch nie gelesen habe. Außerdem so ein Dschungel-Abenteuer-Quartermain-feeling, das ist alles toll. Und es scheint sehr gut recherchiert zu sein, auch dafür ein Kompliment.
Jetzt die ABERS. Erstens, ich werd mit den Figuren nicht warm. Die bleiben ziemlich flach. Die traumatisierte Kriegsveteranin hat immerhin eine Vorgeschichte aber kaum Charaktereigenschaften, die andern beiden sind für mich nur Namen.
Zweitens, der Text ist ganz eigenartig organisiert, ich komm überhaupt nicht in einen Lesefluss rein. Ich frage mich, ob du beim Schreiben da einen besseren Fluss hattest, die missratene Formatierung unterstützt nämlich dieses hoppelige Lesen, wo man sich nicht sicher ist, ob der Text jetzt aus zwanzig Mini-Szenen besteht oder ob man sich das nur einbildet.
Normalerweise interpretiert man ja einen Absatz als einen Szenenwechsel, da kann ein Zeitsprung erfolgen und/oder ein Ortswechsel.
Die erste Szene ist ziemlich willkürlich in sechs Abschnitte zerrissen, insgesamt hat sie aber eine normale Länge. Das geht dann eine Weile so weiter, aber hier weiß ich schon nicht mehr, ob das eigentlich drei Szenen sind (und ob eine unbestimmte Zeit zwischen den Absätzen vergeht) oder ob das sofort aufeinander folgen soll:

Santi erreichte als erster die Schule von São Jorge. Alle Eindrücke dieses Augenblicks verdichteten sich zu einer einzigen Empfindung: Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Er musste in Treibsand geraten sein, denn er versank, sackte weg, rutschte abwärts; die Welt mitsamt ihren Geräuschen schlug über ihm zusammen und verschwand.

"Rodrigo!" Organi rüttelte heftig an ihm, und Santi kam zu sich - zitternd, bleich, elend. Sie standen vor der Leiche eines Mädchens. Das blaue Kleid von Maria Flores hatte sich dunkel verfärbt. Von überall rannten Menschen herbei. Sie schrien und weinten, doch Santi hörte es nicht. Er kniete nieder zu der schmächtigen Gestalt und schlang seine Arme um das tote Mädchen, als wollte er Maria Flores vor dem Entsetzen schützen, das jetzt in einer machtvollen Woge das gesamte Dorf überrollte. Santi hob die Kleine empor und trug sie davon. Bei seinem Jeep angekommen, schlug er eine Decke um ihren Körper. Das Kind dicht an seiner Brust, zwängte er sich auf den Fahrersitz.

In Schlieren zogen die Grüntöne des Urwaldes an ihm vorüber, umkreisten ihn und verwirbelten zu einem saugenden Schlund, den Santi hinabstürzte. Der Jeep raste die Dschungelpiste entlang, bog in die Geistersiedlung ein und kam ruckartig vor Vashkovas Haus zum Stehen.


Ich hab keine Ahnung, wie die Zeit in dieser Geschichte vergeht, das erschwert den Zugang.
Die beiden Absätze hier sind definitiv zwei Mini-Szenen, die zu kurz sind, um einen Leser eintauchen zu lassen:

"Es ist in sehr gutem Zustand." José Araujo legte das Gewehr auf den Tisch.
Vashkova betrachtete es einen Moment lang, dann sah sie Araujo an und sagte: "Das ist ein Wehrmachtskarabiner."
Araujo nickte. "Ja, ich habe ihn von meinem Vater geerbt, und der hat ihn von einem Deutschen …"
Vashkova wandte sich an Santi. "Dieses Gewehr ist über fünfzig Jahre alt."
"Ja, ein deutsches Qualitätsprodukt", erwiderte Santi gelassen.
Araujo, dem der ironische Unterton entgangen war, nickte erneut und fügte eifrig hinzu: "Ich habe auch ein Zielfernrohr dafür." Und als er Vashkovas fragenden Blick sah, sagte er leise: "Ich habe es nicht montiert, weil ich nicht weiß, wie man es justiert."
"Ist schon gut, José", sagte Santi. "Geh und hol jetzt das Zielfernrohr und die Munition."

Kurz darauf hatte Araujo alles herbeigeschafft. Als er eine kleine Blechkiste auf den Tisch hob, die mit Patronen gefüllt war, fragte Vashkova: "Stammt diese Munition von einem einzigen Los?"
Araujo sah sie irritiert an. "Hast du sie aus einer einzigen Packung?", erkundigte sich Santi.
"Ja, ja", bestätigte Araujo, "aus einer einzigen Packung."
Vashkova drehte sich um und verließ Araujos Haus.
"Vielen Dank, José", sagte Santi, wickelte das Fernrohr in ein sauberes Tuch und steckte es in seine Jackentasche. Dann schulterte er das Gewehr, ergriff die Munitionskiste und folgte Vashkova nach draußen.


Hier ist wieder ein Zeitsprung zwischen den Absätzen, also hast du da eine vierzeilige Szene:

„Wir richten erst einmal das Lager“, sagte Santi und bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. „Vielleicht bietet sich später am Abend oder morgen früh eine weitere Gelegenheit.“ Vashkova zitterte jetzt am ganzen Leib. Sie brachte noch immer kein Wort heraus und blickte irritiert um sich. Santi half ihr auf. „Nimm das Gewehr“, sagte er zu Organi.

Die beiden Männer bauten das Lager in der Nähe des Flusses auf. Vashkova saß an den grauen Stamm eines Kapok-Baumes gelehnt und sah teilnahmslos zu. Es schien ihr wieder etwas besser zu gehen, aber Organi betrachtete sie besorgt. „Sie schafft es nicht“, sagte er leise zu Santi.

Als die Nacht anbrach, saßen die Drei um das Kochfeuer und schauten in die Flammen. Vashkova hatte vom Stockfisch und den schwarzen Bohnen kaum etwas gegessen. Sie rückte näher ans Feuer. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.


Dieser Erzählrhythmus geht mir extrem gegen den Strich, ich komm nicht in den Text rein, weil ich zu der Zeitebene da gar keinen Zugang finde. Das Pacing widerstrebt mir. (Und dann wird's mir wie gesagt noch extra schwer gemacht, weil hier eine Enter-Taste alles mögliche bedeuten kann. Von zwei Tagen plus Ortswechsel bis hin zu weder Zeit- noch Ortswechsel.)

Inhaltlich, da schließe ich mich meinen Vorpostern an, war das Ende ein wenig enttäuschend. Ich dachte, mit dem Jaguar hat es irgendeine besondere Bewandtnis, womöglich ist das eine Reinkarnation von irgendwem aus der Vergangenheit der Russin und das läuft alles auf ein Rachespektakel oder Sühne oder Versöhnung oder was-weiß-ich hinaus. Aber da war gar nix. :)

Zur Urheberschaft:

Ich hab gesehen, da hatten welche auf Malinche getippt wegen Südamerika-Hintergrund. Das würde mich sehr überraschen, das ist stilistisch und vom Aufbau her völlig anders als alles, was ich jemals von ihr gelesen habe. Allerdings sind ihre letzten Texte auf kg.de auch schon ein paar Jahre alt, also keine Ahnung, wie sie sich entwickelt hat.
Ich tippe auf Achillus oder Hannibal. Ohne das gut begründen zu können, ich habe von keinem der beiden einen Text auf dem Radar, der mich besonders an diesen hier erinnert. Ist so ein diffuses Gefühl "liest sich so als ob".
Mit einer wesentlichen geringeren Wahrscheinlichkeit könnte es Schwups sein. Aufbau und Stil finde ich aber auch für Schwups untypisch.
Auf alle Fälle wette ich auf einen männlichen Autor.

 

Hallo XY,

ich lese nicht viele Geschichten dieses Genres, und von daher ist es schon mal ein Kompliment an den Text, wenn ich sage, ich habe den Text mit Interesse gelesen. Und sogar die finale Kampfszene, (worauf es bei solchen Texten ja immer hinausläuft - alles wird dem finalen Kampf zugrunde gelegt,) hat sich für mich nicht künstlich in die Länge gezogen. Das finde ich immer furchtbar dann, in den Büchern und Filmen. Da denk ich immer, weiß doch jeder, dass das Gute siegen wird, einer geht meist noch drauf, also kommt jetzt mal zu Potte, Spannung ist da für mich selten drin. Das ist für mich ein Pluspunkt hier, dass dieser Moment, auf den die Geschichte ja abzielt, nicht so irre langgezogen wird.

Das Setting ist schon cool. Und für mich auch sehr glaubhaft. Bin jetzt aber eine völlig Ahnungslose in dieser Gegend und man könnte mir über den Ort und Lebensweisen dort viel verkaufen. Und ich mochte das Realistische. Nicht der Überflieger von Kampfmaschiene auf der einen Seite und eine künstlich erhöhte Gegenmacht auf der anderen. Mensch gegen Tier, dass ist mal was komplett reales und auch ein Punkt, warum ich eher Zugang zu dieser Geschichte fand, als zu sonstigen Abenteuer/Action-Stories. Das ist jetzt aber Vorliebe.

Auch die Figuren fand ich von ihren Anlagen gut gewählt. Utopist vs. Scharfschütze im Krieg, das ist schon ein feine Kombination. Das sie alle mehr oder weniger ihre Geschichte in Stichpunkten erzählen könnte man jetzt sicher ankreiden, ich persönlich will das aber gar nicht. Klar ginge da mehr, sind ja sehr spannend in ihrer Geschichte und für spannende Geschichten ist man ja immer zu haben, allerdings ist es auch nicht wichtig, mehr über sie zu erfahren, was den Verlauf der Geschichte und ihre Glaubwürdigkeit betrifft. Und ich überlege gerade, um wieviel länger die Geschichte hätte dann sein müssen. Ziemlich denke ich.
Zwischen dem Utopisten und dem Spurenleser, die waren mir allerdings wirklich irgendwie sehr gleich. Wenn da nicht immer gestanden hätte, wer jetzt am Zug war, ich hätte die nicht auseinanderhalten können. Also, rein von ihrer Persönlichkeit sind die sich sehr ähnlich, oder kommen mir jedenfalls so vor.

Das Ende, ja, das ist sehr rosa. Ich sage mal, wenn man die Geschichte einen Verlag anbieten würde, die bestehen ja oft auf so überrosa Enden, weil es sich dann besser verkaufen lässt. Hier im Forum ginge es sicher auch dezenter durch. Für mich auch angenehmer dann. Aber wir sind in unseren Erwartungen und Ansprüchen sicher auch keine Repräsentanten der breiten Lesermasse. So jedenfalls mein Empfinden.
Ich denke, die Geschichte so wie sie ist, würde mit Sicherheit in ihrem Unterhaltungswert ihre Leser finden. Literatur könnte sie werden,wenn sie tiefer ginge und viel mehr Zeilen aufwenden würde. Weiß nicht, was Dir jetzt wichtig ist.

Was mir in den Kommentaren noch aufgefallen ist, dass man die Fäden am Ende als nicht gut zusammengeknöpft empfunden hat und die Anspielungen auf etwas Übernatürliches zu leer im Raum empfand. Das man eine Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten desTieres erwartet hat.
Also, ich habe das nicht so empfunden. Ich fand es gut, dass alles auf einer sehr realen Schiene geblieben ist, dass am Ende keine Erklärung drangepappt wurde.
Die ursprünglichen Dorfbewohner an ihre Geister glauben, aber das wärefür die Russin oder den Utopisten nun wirklich blöd und unglaubhaft ihnen eine solche Ebene unterschieben zu wollen. Für das Dorf ja, für die beiden ein no go.
Und was Reeles ... keine Ahnung, Futtermangel wegen ökologischer Veränderung, von mir aus, aber das hätte dann den Rahmen auch sehr viel weiter gezogen, sehr viele Zeilen hinzugefügt und käme dann auch nur als Erklärung hinten dran. Wäre es mein Text, ich hätte darauf auch verzichtet. Aber ich wünschte mir eine Dorfgeschichte, die mir was über die Geister erzählt, so als weiteren Lokalkolorit. Man erzählt sich die Geschichte von ... Ja, so eine Ureinwohner-Geistergeschichte fände ich cool. So eine Urwaldsage, aber das ist jetzt persönliche Vorliebe.
Man kann den Text natürlich einfacher dahin bearbeiten, dass man die Anspielungen rausnimmt, dann hat man am Ende auch nicht das Gefühl, leere Fäden übrig zu behalten.

Soweit mein Empfinden und meine Gedanken. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt, habe den Text gern gelesen, fand ihn glaubhaft und auch spannend. Fand ihn gut ausgewogen. Ist jetzt kein Text, der sich mir einbrennen wird, über den ich jetzt ewig reden könnte, ihn analysieren und interpretieren, aber ich denke mal, dass will der Text auch nicht. Aber er bietet für den Ausbau zu einem solchen Text ein gutes Fundament.
Afghanistankrieg, Utopie, Buschdorf ... da ist eine Menge Zündstoff für einen gesellschaftlich relevanten Roman drin.

Soweit zu meinen Eindrücken.
Beste Grüße, Fliege

 

Hallo,

"Licht! Licht, verdammt nochmal!", rief Dr. Rodrigo Santi und eilte die Rua Perseverança hinunter. Hinter ihm, im Zentrum von São Jorge
Ich mag den Anfang nicht. Hier sind ja 3 Doppel-Wörter, die die Geschichte gleich verorten möchten. Rodrgo Sanit – Rua Perseveranca und Sao Jorge – mich turnt das aus mindestens 3 Gründen ab. 1Mal ästhetisch: Die wirken wie Fremdkörper in dem Satz, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich; 2. Das schreit mich so an, das ist so Exotik marktschreierisch und zum 3. denke ich dann immer: Warum les ich den Text nicht in Spanisch?
Das ist einfach so was, was mich abturnt. Ich kann das auch gar nicht genau festmachen, ich hab den Text ja noch gar nicht gelesen, ich hab die Kommentare überflogen – aber das ist so ein Anfang – da hab ich richtig Abneigung dagegen. Ich kann das gar nicht genau festmachen, aber weil es eben so: Rodrigo Santi – Rua Perseveranca – Sao Jorge! Das wirkt auf mich auch so unnatürlich, so aus dem Textfluss raus, erstmal diese Orientierungspfeiler eingerammt. Ich kann das schwer festmachen. Ich mag auch Marquez gerne, und in dessen Texten ist es natürlich auch so, dass es da von im Deutschen exotisch anmutenden Orts- und Eigennamen nur so wimmelt, aber der rammt diese Pflöcke nicht so rein.

Also: Einfach nur allgemein, ich hätte den Text hier nach anderthalb Zeilen weggelegt, weil ich da wirklich Widerstand gegen habe – ich kann das auch nicht rational begründen und das mag anderen ganz anders gehen.

Die Männer erfasste das Grauen, als der Jaguar den vor ihm am Boden liegenden Körper packte und im flackernden Flutlicht davonschleifte.
Hm. Ich finde das sind so seltsame Wendungen: „Erfasste das Grauen“. Für mich sind das oft die unsharfen Elemente einer Erzählung, das wird halt so weg gewedelt. „Erfasste das Grauen“ - das ist bisschen aus der Zeit gefallen, glaube ich. Man liest ja eigentlich Spannungstexte wegen den spannenden, existentiellen Stellen, aber weil die halt so schwierig zu schreiben sind, wird das dann oft übergangen.

Anna Oksana Vashkova stand auf der Veranda ihres Hauses, das ein bereits fortgeschrittenes Stadium des Verfalls erreicht hatte. Ein paar Stützpfeiler, Bretter, Dielen und Dachziegel leisteten letzten Widerstand, doch bald würde hier der Dschungel siegen. Vashkova beobachtete mit ausdruckslosem Gesicht, wie Santi den Wagen vor der Veranda ausrollen ließ, die Fahrertür öffnete und sich schwerfällig vom Sitz hochstemmte.
Unheimlich viele Substantive. Weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, es ist zumindest ein anderer Stil. Die meisten knallen ja mit Partikeln um sich oder mit Adjektiven. Aber so viele Substantive sieht man selten. Ich denke in schlechten Momenten wirkt das wie Kanzleistil. In guten ist es sehr präzise und detailliert. Es ist auf jeden Fall ein interessanter Effekt, was mit einem Text passiert, wenn man die Substantivdichte von 15% auf 40% hochschraubt. Ich denke es ist auf jeden Fall ein Zeichen für einen kompetenten Erzähller, wenn er die Dinge so beim Namen nennt. Das Haus besteht aus: Stützpfeilen, Bretter, Dielen, Dachziegeln. Der Wagen: Fahrertür, Sitz.
Ist auf jeden Fall ein interessanter Aspekt. Ich denke, wenn ich so die Kommentare gelesen habe, steht ja auch im Vordergrund, dass der Text mal eine andere Geschmacksrichtung bietet. Das seh ich schon jetzt. Das der Text sich von dem unterscheidet, was man häufig liest, das sit gut.
Schwups hat gesagt: Der Geist und die Dunkelheit.
Seh ich bis jetzt ganz genau so. Hab jetzt auch schon mindestens 3mal an den Film gedacht. Ist ja nix Schlechtes.

"Das habe ich", erwiderte Santi und rückte seine Brille zurecht. "Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, Sie um Hilfe zu bitten, denn ehrlich gesagt traue ich Ihnen nicht."
Hm, also das hier finde ich schwach, die Stelle. Ich finde gute Dialoge zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie indirekt sind. Das Dinge impliziert werden, dass sich Gesprächspartner umkreisen, vielleicht ist der eine wortkarg und der andere weitschweifig. Und hier packen ja beide sofort die Karten auf den Tisch – und damit wird auch gleichzeitig noch die Exposition abgefrühstückt. Du bist das und das, ich bin das und das. Ich weiß nicht, also indirekte Dialoge sind halt eine Kunstform aus dem Drama und der Tragödie, dass die Zuschauer was zu tun haben. Das ist eine eigene Kunstform. Natürlich ist mit den Jahren auch eine Müdigkeit dieser Formen angetreten, wie oft kann man sehen, dass sich zwei Dialogpartner umkreisen, bis es langweilig wird. Aber hier so dieses: „Komm, wir haben nur 3 Absätze und ich hab die Exposition noch nicht abgeschlosssen“ - so Dialoge in Kurzegschichten sind immer schwierig, weil sie, wenn man sie „realistisch“ machen würde, ja unheimlich viel Platz einnähmen, und dann wär es vielleicht langweilig, ich weiß es nicht. Aber hier der Dialog ist mir bis hierhin einfach zu gradeaus und ich sehe die Exposition darin zu stark.

Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl
Mmh, ich werd mit dem Text nicht warm, fürchte ich. Ich seh zu sehr die Fäden, an denen die Puppen hängen. Mir schimmern die Plotpoints zu sehr durch. Weigerung – Kind stirbt – dann doch. Und die entscheidenden emotionalen Momente so einer Geschichte, werden irgendwie halb-auktorial gelöst: Das Grauen erfasste sie, betrachtete voller Mitgefühl – das sind so literarische Nullstellen, finde ich.
Das ist hier in der Kurzfassung: Der Besuch bei der Schafschützin war Akt 2, das tote Kind ist die Katastrophe Akt 3, und der Besuch jetzt ist Akt 4. Und das ist auf so wenig Raum und ohne Zwischenszenen schon sehr am Knochen erzählt alles. Wenn man noch die Exposition dazu nimmt als Akt 1, dann hast du hier eben einen 4 Akte, der jeweils nur aus einer Szene bestehen.

Mal ohne Zitatenstelle, aber: Diese extrem häufigen Absätze – muss das sein? Also – ich find das nicht gut. Kann man nicht sagen: Ich hab hier eine Szene, und die besteht aus den und den Unterbaschnitten, da brauch ich keine Leerzeile, da fang ich einfach eine neue an. Und ein Leerzeile signalisiert dann einen stärkeren Wechsel? Also das zerreißt den Text so, da ist ja keine Sinneinheit richtig lang. Hm. Ist viellleicht ein Problem der Form, dass man genug Stoff für einen Roman auf der Kürze einer Kurzgeschichgte abhandelt, und statt die Zahl der Szenen zu beschränken, bveschränkt man die Zahl der Zeilen pro Szene.

Ich werd mit der Geschichte nicht warm. Für mich ist das zu dicht an Der Geist und die Dunkelheit. Das Schicksal der Schafschützin steht stark im Vordergrund, aber da finde ich gibt es wenig Noten, die sie aus diesem „Motiv“ herausheben. Die traumatisierte Ex-Heldin, Soldatin, innere Dämonen – das besondere an der Figur ist, dass sie eine Frau ist. Ich weiß nicht. From Dusk till Dawn ist fast 20 Jahre alt und da wurde dieses Motiv des traumatisierten Kriegsveteranen schon ironisiert, wenn der Schwarze da eine furchtbare Vietnam´-Geschichte erzählt.

Es ist halt wenig Platz. Bei Der Geist und die Dunkelheit hat z.b. der Führer einige schöne Szenen – das hat der in deiner Geschichte überhaupt nicht.
Dann „linkes Utopia“ das ist ja nur ganz am Rande erwähnt, das hat in der Geschichte überhaupt keinen Platz. Das ist Hintergrund, der nicht zur Geltung kommt. Bei Der Geist und die Dunkelheit ist die Eisenbahn ganz präsent – da ist deine Geschichte komplett als Gegenentwurf angelegt, nur ist das Dorf in deiner Geschichte kaum präsent, weil einfach kein Platz da ist.

Also: Ich weiß nicht, für mich ist halt hier das Problem, das was erzählt wird, geht bei mir in der Erinnerung an diesen Film unter. Und in der Geschichte selbst seh ich das Handwerk. Es ist vielleicht einfach verdammt schwierig, eine „vollständige“ Geschichte so stark zu verdichten. Ich seh hier links und rechts Raum, den die Figuren einnehmen müssten.

Was wirklich gut ist, ist das Genre in Kurzgeschichtenform, das ist wirklich ein anderer Geschmacktupfer hier, ich mag das gerne. Es gab von Hannibal vor langer Zeit in Horror mal was in der Richtung, das find ich richtig gut, aber insgesamt kann mich die Geschichte nicht überzeugen. Es liegt nicht darin, wie es gestaltet wird, sondern einfach in dem Ansatz, eine Geschichte mit so vielen Punkten auf so wenig Raum zu erzählen, dadurch werden mir die einzelnen Szenen viel zu kurz und die Entwicklung der Figuren erscheint mir viel zu dicht an bestehende Filme und Motive angelegt, die ich sehr gut kenne.

Aber es gefällt ja sonst sehr vielen und es scheint auf jeden fall etwas zu sein, was man viel öfter machen könnte. Ich würde nur dazu raten, die Geschichte entweder von Anfang an deutlich kleiner anzulegen oder den Umfang der Geschichte deutlich zu erhöhen.

Gruß
Quinn

 

Wer noch einen Tipp abgeben möchte, wer hier auf Jagd gegangen ist, der schreibe besser schnell seinen Kommentar :). Schon morgen wird die Maske einen Namen tragen.

 

Liebe Freunde,

aus meiner Sicht hat sich die Maskenball-Idee wirklich gelohnt. Einerseits habe ich nun auch Kommentare von Rezensenten erhalten, die sich sonst nur selten im Bereich Spannung/ Krimi bzw. Science Fiction blicken lassen, wo ich bisher meine Stories veröffentlicht habe. Andererseits war ich neugierig, wer meine Handschrift erkennen würde. Ein dritter Punkt ist der, dass alle, die hier geantwortet haben, selbst erfahrene Autoren sind, also genau wissen, worüber sie schreiben. Das ist ein Unterschied zu anderen Themen, wo häufig Anfänger rezensieren, die sich aber erst mal darüber klar werden müssen, welche Punkte ihnen beim Schreiben und Lesen überhaupt wichtig sind. Vielen Dank an alle, Ihr habt mir sehr geholfen.

Feirefiz, Du beschreibst den Text als klassisch, das passt mir ganz gut. Ich lese Autoren wie Greene, Le Carré, Forsyth, die ja alle für einen eher ruhigen, beinahe etwas altmodischen Stil bekannt sind. Besonders habe ich mich darüber gefreut, dass Du es spannend fandest, denn es war ja das Hauptanliegen dieser Geschichte, spannend zu sein.

Deine Enttäuschung am Ende ist etwas, das ich zunächst nicht verstehen konnte. Aber da sich ja mehrere Kommentatoren so geäußert haben, hat es mich beschäftigt. Ich sehe es nicht ganz so, dass dieses Zusammentreffen von Jaguar und Scharfschützin nur ein Zufall war. Dass der Erzähler die Position eines Rationalisten vertritt, heißt nicht, dass es nur eine rationale Lesart des Geschehens geben kann. Organi hätte dazu sicher etwas anderes zu sagen, aber es war eben nicht seine Geschichte. Vielen Dank für Deinen Kommentar!

Rick, es ist so, wie Du geschrieben hast: Abenteuergeschichten sieht man nicht oft auf KG.de (warum eigentlich?), und das hat mir in Bezug auf den Maskenball auch ein wenig Sorgen gemacht. Die werden das in der Luft zerreißen, dachte ich anfangs. Aber glücklicherweise war mein Vorurteil unberechtigt. Ich fühlte mich beim Schreiben an Geschichten wie "Der alte Mann und das Meer", "Moby Dick" und Filme wie "Der Geist und die Dunkelheit", "Der weiße Hai", "Orca, der Killerwal" etc. erinnert und war mir nicht sicher, ob man da überhaupt noch ein bisschen was Neues reinbringen kann. Doch dann lief es irgendwie, und jetzt mit dem Abstand von ein paar Wochen finde ich die Geschichte auch ganz passabel. Vielen Dank für Dein Statement!

Bernadette, mir war beim Schreiben bewusst, dass der Leser erst einmal nicht verstehen wird, weshalb es kein Licht im Dorf gibt. Doch ich fand, dass die Auflösung dieser Frage nicht allzu lange auf sich warten lässt, denn schon in der zweiten Szene wird das ja aufgeklärt. Wenn man mitten ins Geschehen einsteigt, lassen sich sich die unmittelbar vorangegangenen Geschehnisse nicht eindeutig rekonstruieren. In diesem Fall, hat der Hauptheld Santi einen Hinweis bekommen oder die Katze selbst gesehen oder einfach intuitiv entschieden, zum Waldrand zu laufen. Der Jaguar hat mit seiner Beute den Weg gewählt, der ihm am liebsten ist – nachts in einem Dorf ohne Licht ist das ohnehin kaum von Belang.

Deine Detailkritik fand ich sehr nützlich. Da werde ich an der Geschichte nachbessern. Was Deinen letzten Hinweis auf das Ende betrifft, das sehe ich entschieden anders. Hättest Du gesagt, das Ende sei Dir zu harmlos oder zu mild – okay. Aber Zuckerwatte? Das weise ich zurück. Zuckerwatte ist nach meinem Verständnis eine Ende ohne Substanz, nur süßlicher Schaum. Es dient einzig und allein dem Wunsch des Leser, dass alle Dinge gut enden mögen, widerspricht in seiner Logik aber dem realistischen Verlauf konfliktreicher Entwicklungen.

In diesem Fall ist es so, dass Vashkova (mehr oder weniger gegen ihren Willen) zu einer Bearbeitung ihres Traumas geführt wird. Erneut eine Waffe zu berühren ist zwar nur eine Geste, aber damit beginnt es. Der Erzähler behauptet nicht, dass für Vashkova nun alle Probleme gelöst sind. Sie hat sich nach der Jagd eine Woche lang nicht im Dorf sehen lassen, was zeigt, dass sie noch immer eine Einzelgängerin ist.

Santi und Vashkova fallen sich am Ende auch nicht in die Arme (was für mich Zuckerwatte wäre). Die beiden witzeln ein wenig herum, was zeigt, dass Vashkova beginnt, mit einem anderen Blick auf die Dinge zu schauen. Das ist keine Garantie für Heilung. Ich kann mir zwar eine Menge düsterer Ausgänge dieser Geschichte vorstellen, das bedeutet aber nicht, dass man bei der aktuellen Variante von Zuckerwatte sprechen müsste.

Natürlich sind solche Einschätzungen immer auch Geschmacksfrage. Niemand kann sagen, wo ein rationales Urteil endet und eine persönliche Vorliebe beginnt. Obwohl ich Deine Zuckerwatte-Kritik nicht teile, hast Du sicher recht, dass man das Ende noch besser hätte gestalten können. Um ehrlich zu sein, hatte ich die Geschichte ein wenig satt. Das Projekt zog sich ziemlich in die Länge. So intensiv hatte ich vorher an keiner Kurzgeschichte gearbeitet, und ich wollte das Dinge endlich fertigbekommen. Vielen Dank für Deine Zeit und Deine Mühe!

Anakreon, nachdem ich Deinen Hinweis zum Grauen gelesen habe, ist es mir auch aufgefallen. Das werde ich ändern. Vielen Dank fürs Lesen und Deine Komplimente. Schön, dass Du meine Handschrift erkannt hast.

JoBlack, ich habe irgendwo in der Anleitung für Dramatiker gelesen, man solle kein Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand damit schießen wird. In diesem Sinne deute ich auch Deine Hinweis "Diese ganzen falschen Fährten, die da gelegt werden, lösen natürlich hohe Erwartungen aus, die dann nicht eingehalten werden."

So hätte ich das auch annehmen können, aber da Du ja dann noch einmal geschrieben hast "Für mich wäre die Geschichte ideal, wenn sie das eingehalten hätte, was sie verspricht…" regt sich bei mir Widerstand: Als Anhänger des Konstruktivismus sage ich dazu, dass eine Geschichte gar nichts verspricht. Die Erwartungen, die Du beim Lesen entwickelst, haben mehr mit Dir als mit der Geschichte zu tun.

Eine Abenteuergeschichte ist keine Sozialkritik und kein Psychogramm. Sie kann Ausflüge in diese Richtung unternehmen, muss es aber nicht. Ich finde nicht, dass Dr. Santi noch eingehender charakterisiert und analysiert werden muss, denn seine Motive in der Geschichte sind ja deutlich geworden. Und ich finde schon überhaupt nicht, dass hier die Charaktere dem Plot geopfert werden. Du hast aber sicher recht, wenn die Figurenzeichnung noch plastischer sein könnte. Daran werde ich arbeiten. Vielen Dank fürs Lesen!

Ane, bei Kritiken dieser Art wünsche ich mir immer ein Beispiel, wie man das besser machen könnte, damit ich es verstehe. Natürlich schrecken viele Rezensenten davor zurück, weil man damit dem Autor auch irgendwie den Text wegnimmt. Aber in meinem Fall kannst Du da unbesorgt sein. Also falls es Dich juckt, hilf mir auf die Sprünge. Vielen Dank fürs Lesen.

Goldene Dame, vielen Dank für Deine Kritik. Zum Ende haben ja einige was geschrieben. Das wird mir Stoff zum Nachdenken sein.

Schwups, ich hätte darauf gewettet, dass Du mich als Autor identifizierst, weil Du Dir ja auch schon bei anderen Geschichten viel Mühe gegeben hast, mir zu helfen. Und ich lag richtig! Ich denke der Grund, weshalb ich gern Kritiken von Dir lese (sei es zu meinen Geschichten oder anderen) ist der, dass ich Deine Kommentare immer als Hinweise und Vorschläge lesen kann. Du begegnest dem Autoren einer Geschichte stets auf Augenhöhe, das mag ich sehr.

Ich werde einige Deiner Anmerkungen umsetzen. Kurz zum Thema "Ohnmacht der Dorfbewohner". Ich stimme Dir zu, dass die mit ihren Beilen losrennen könnten. Deshalb habe ich den Generator ausfallen lassen. Ich stelle mir einen Kampf gegen eine Raubkatze im Dunkeln als entsetzliche Aufgabe vor. Aber vielleicht würde in diesem Moment die Solidarität siegen. Ich weiß es nicht.

Was das Hin und Her betrifft, bevor die Russin überzeugt werden kann, das ist tatsächlich eine klassische Figur. Der Held weigert sich und muss quasi gezwungen werden. Ich wollte das mal ausprobieren.

Beim Schreiben habe ich den mystischen Parallelzweig der Geschichte nur angedeutet, um zu zeigen, dass es auch andere Lesarten dieser Vorgänge gibt. Ist mir schon klar, dass man als Leser auch vermutet (und sich vielleicht wünscht) dass es in dieser Richtung weitergehen könnte. Vielen Dank für Deine Zeit, das Lesen und das Schreiben!

Möchtegern, mir ist die Problematik mit dem Format erst aufgefallen, als der Text online stand. Ich habe sonst bei meinen Geschichten Szenenüberschriften, die es dem Leser leichter machen, sich zu orientieren. Die habe ich diesmal weggelassen, um das Autorenraten nicht zu leicht zu machen. Vielen Dank für Deinen Hinweis.

Fliege, das große Ende mit einem Knall ist natürlich eine feine Sache. Aber ich sehe es ähnlich wie Du: Wenn man zu viel daran herumbastelt, wird es oft anstrengend für den Leser. In diesem Fall fand ich, dass die Katze erlegt werden sollte und die Geschichte damit ihren natürlichen Abschluss finden würde. Alle Alternativen, die mir dazu eingefallen sind, kamen mir zu konstruiert vor.

Freue mich, dass es Dir gefallen hat, obwohl Du sonst diese Art Geschichten nicht häufig liest. Dieser Mensch-Tier-Konflikt ist - glaube ich - etwas, das uns alle auf einer tiefen Ebene berührt. Vielen Dank für Deinen Kommentar!

Quinn, über den Anfang hatte ich eine ganze Zeit nachgedacht. Mir fiel das auch auf, aber ich wollte den Straßennamen nicht übersetzen. Vielleicht ändere ich das aber doch noch.

Dass Du das Handwerk durchschimmern siehst, hängt natürlich mit meinem Level als Geschichtenschreiber zusammen. Es wird Zeit brauchen, bis alles organischer ineinandergreift.

Besonders nachdenklich hat mich Dein Gedanke gemacht, dass es eine (Wort-)Grenze gibt, die man beim Schreiben von komplexen Geschichten nicht unterschreiten darf. Das ist natürlich richtig und offensichtlich, habe ich mir so aber noch nie so richtig klar gemacht. Vielen Dank für Deine Mühe!

 

bei Kritiken dieser Art wünsche ich mir immer ein Beispiel, wie man das besser machen könnte, damit ich es verstehe.

Du hast:
hochgewachsen
blaß
reglos
fern
abwesend
dunkle Augen
blondes Haar (graue Strähnen)
ausgezehrte Züge

Das klingt eher nach einer leicht verbitterten Elbin als nach einer Trinkerin. Letztere stinkt, hat vielleicht schon einen oder ein paar Zähne verloren, ihr Gesicht ist dauergerötet, ihre Augen verquollen, der Zopf verfilzt ... das muss man natürlich nicht alles so drastisch beschreiben, das muss auch gar nicht alles der Fall sein, aber bei mir kommt zu wenig davon an.

Ist mir eben noch ins Auge gefallen:

Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl
Nachdem er sie dazu gezwungen hat, sich das tote Mädchen anzusehen, finde ich "Mitgefühl" schlicht unpassend. Bei Asterix bei den Schweizern werden die Römer erst verhauen und dann mit Verbänden und Pflastern versorgt, aber Mitgefühl wird dabei nicht unterstellt, sondern Ordnungsliebe.

Santi unterstelle ich einen in der Not gut ausgeprägten Willen. Er könnte sich ein wenig schämen, dass er das zeigen (und Anna Vashkova antun) musste, um zu bekommen, was er will. Er könnte sich selbst sagen, dass es zum Wohle aller war. Aber mitfühlen ... das klingt so abgehoben. Distanzierter wäre nur noch "Anteilnahme". Als wäre er beim Begräbnis eines Menschen, den er nicht kennt. Dabei verhält es sich genau umgekehrt.

Ich hoffe, etwas ist klarer geworden,

LG
Ane

 

Hallo Ane,

Du hast in Deiner ersten Kritik den Mangel an Lebendigkeit und Einfallsreichtum, Farben und Gefühlen moniert, einen Mangel daran, was eine gute Geschichte ausmache. Du hast das beispielhaft so begründet: der Blick des Jaguars – der eine wichtige Rolle spielt - wird nicht beschrieben, sondern nur Santis Reaktion. Außerdem mache Vashkovas Charakterisierung als bleich, halbtransparent, abwesend es dem Leser schwierig, sie sich vorzustellen.

Über diese beiden Beispiele kann man sicher diskutieren. Für die Beschreibung des Jaguarblicks hätte ich gern Deine Variante. Das reicht mein Können als Schreiber noch nicht aus. Es wäre toll zu lesen, wie jemand anders das löst.

Zu Vashkova: Ihr Krankheitsbild passt zu ihrem seelischen Dilemma. Ich habe mir vorgestellt, dass Vashkova sich aus der Realität wegtrinkt. Wie beschreibt man eine Frau, die beginnt, sich aufzulösen, nicht ganz im Hier und Jetzt weilt, sondern in der Vergangenheit, zu einem Zeitpunkt, der nicht mehr wiederkehren wird? Ein deutliches Symptom alkoholsuchtbedingter Leberzirrhose ist Blässe der Haut. Das passt also, auch wenn man Alkoholiker oft rotgesichtig darstellt.

Ich finde nicht, dass die von Dir genannten Beispiele Dein Gesamturteil, es fehle das, was eine gute Geschichte ausmache, rechtfertigen. Als Kritiker würde ich das dann entweder relativieren oder genauer begründen oder – wie ich von Dir erbeten hatte - zeigen, wie man es besser macht.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus!

Das ist mal eine packende Abenteuergeschichte. Die Akteure sehen sich einer Gefahr gegenüber, ohne Aussicht auf Hilfe von außen. Es geht also zunächst darum, eigenes Potential zu aktivieren, um eine Lösung herbeizuführen. Aber selbst da gibt es bereits Hürden zu überwinden. Da kommt keine primitive „Hurra, jetzt geht’s es aber los“ Stimmung auf. Und immer wieder gibt es Rückschläge. Das find ich sehr gut gemacht.

Die Figuren sind recht gut angelegt. Santi ist ein bunter Hund, was der so alles macht! Die Vashkova ist blasser, na ja, sie macht auch zunächst nix, außer mit ihrem Schicksal zu hadern. Ich denke, dass ist so okay. Grad dieser Unterschied ist nicht ohne Reiz. Und Santis Aufwecken oder Reaktivieren der Vashkova, auch sehr schön und für mich sogar der Kern der Geschichte.
Wenn ich an der Vashkova mäkeln müsste, dann, weil sie so archetypisch ist. Russin, groß, blond, Killerin mit Verbindung zum KGB, irgendwann an ihrer Aufgabe zerbrochen, dann
Trinkerin und Einsiedlerin. Nach der Vergangenheitsbewältigung – mit dem Jaguar erschießt sie gewissermaßen ihr altes Ich – fällt sie in die „Normalität“ zurück. Da fehlt mir irgendwo ein kleiner Bruch im allzu bekannten Gefüge.

Es steckt viel Allgemeinmenschliches drin – z.B., dass die Vashkova erst Anteil nimmt, als sie mit dem Unglück direkt konfrontiert wird, dass ein „Macher“ nötig ist, um die wichtigen Dinge in die richtige Richtung voranzutreiben –, aber das Allgemeinmenschliche ist in der Story gut genug versteckt.

Gut und richtig finde ich, dass die Dämonisierung des Jaguars zwar erwähnt (allgemeinmenschlich), aber nicht von den Hauptfiguren mitgetragen wird. So bleibt eine horizontale Verbindung zwischen den Kontrahenten gewahrt und die Geschichte rutscht nicht Richtung Kitsch.


Der Schauplatz ist gut recherchiert, das Ambiente erscheint mir stimmig. Um anfangs zu wissen, wo das Ganze sich zuträgt, muss man ein wenig überlegen, bzw. wissen, dass es sich um spanische Namen handelt und dass Jaguare in Südamerika vorkommen (ich glaube, in Nordamerika leben nur ihre schwarzen Brüder, die Panter).


Hinter ihm, im Zentrum von São Jorge, knisterten ein paar Wachfeuer, aber hier, in der Nähe des Waldes, drohte die Schwärze der Dschungelnacht. Vom Marktplatz her hörte man den startenden Dieselgenerator rumpeln.
Hinter ihm knistert es, „aber“ vor ihm ist es finster. Das „aber“ würd ich weglassen und zwei Sätze bilden.
Mit „man“ entfernt sich der Erzähler unnötig von seiner Figur. Ich würd „man“ durch ein „er“ ersetzen.

Die Männer erfasste das Grauen, als der Jaguar den vor ihm am Boden liegenden Körper packte und im flackernden Flutlicht davonschleifte.
(Das) Grauen erfasste die Männer …, oder ganz anders sortieren:
Als der Jaguar den vor ihm am Boden liegenden Körper packte und im flackernden Flutlicht davonschleifte, erfasste das Grauen die Männer.
Bringt man ein „als“ am Satzanfang, erzeugt es Spannung. Mittendrin wirkt es langweilig, weil es zu einer Art „Erklärbär-als“ für die vorangestellte Behauptung degradiert wird.

Der Generator setzte aus, und das Dorf sank zurück in die Finsternis.
Zum Dorf gehört auch der Marktplatz samt einiger Wachfeuer.

Santi starrte stumm in Richtung des Waldrandes.
Warum steht da nur „stumm“ und nicht auch: „und ohne sich am Arm zu kratzen“?

"Das Biest trägt ihn auf einen Baum", sagte jemand tonlos.
Ich weiß nicht, dieses „tonlos“ liest man oft in dem Zusammenhang. Ich meine jedoch, tonlos ist keine Kurzform für „ohne besonderen Tonfall“.
„Biest“ ist für mich nicht hundertprozentig negativ besetzt (z.B. du kleines, freches Biest, du!), Bestie dagegen schon.

Hauses, das ein bereits fortgeschrittenes Stadium des Verfalls erreicht hatte. Ein paar Stützpfeiler, Bretter, Dielen und Dachziegel leisteten letzten Widerstand, doch bald würde hier der Dschungel siegen.
Wenn ich lese: „bereits fortgeschrittenes Stadium des Verfalls“ entsteht augenblicklich ein Bild. Die nachgelieferten Details widersprechen diesem Bild.
Ich würde so ein Resümee des Erzählers (wenn es denn überhaupt nötig ist) nicht vor die ausführliche Beschreibung platzieren.

Auch hier:

Und wie sie dort stand, hochgewachsen, blass, reglos, umgeben von faulendem Holz und wuchernden Orchideen, wirkte sie auf Santi seltsam fern und abwesend. War früher sicher eine Schönheit, dachte er, als er auf Vashkova zuging. Ihre dunklen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zum blonden Haar, das sie zu einem Zopf gebunden trug. Doch die ausgezehrten Züge verrieten die Trinkerin, und dass sich bei einer Frau ihres Alters bereits graue Strähnen zeigten, passte zu diesem Bild.
„War früher sicher eine Schönheit, dachte er,“ steht als zusammenfassendes Urteil (diesmal des Protagonisten) mitten in der Beschreibung der Frau.

Vashkova betrachtete ihn einen Moment lang mit leerem Blick,
Ich weiß nicht, dieser leere Blick in Kombination mit betrachten, das passt für mich nicht.
Überhaupt ist „leerer Blick“ eine umgangssprachliche Wendung, die ich eher in schwülstigen Texten erwarte. Genauso wie zuvor die „drohende“ Schwärze der Dschungelnacht und immer dieses „stumm“ als unsinnige Ergänzung zu starren und betrachten.

Santi sah sie mit ernstem Gesicht an. "Heute nacht hat dieses Tier Antonio Milanello getötet,
Ernst find ich hier zu schwach. Ich stelle mir schon bei dem ganzen Wortwechsel davor weder neutrale Gesichtsausdrücke noch freundliche Gesichtszüge bei Santi vor. Dafür sind das Gesagte und die Dringlichkeit einfach nicht geeignet. Hier nun müsste eine Steigerung kommen.

Santi betrachtete sie stumm.
… und ohne sich am Arm zu kratzen.

um die Leute vom Wildern und Schmuggeln abzuhalten."
Würd ich mal versuchen, ohne Substantivierung hinzukriegen.

"Und?", fragte Santi.
Fragezeichen und fragte?

Sie sah ihn mit einem finsteren Blick an
Immer wieder „Blick“, wo Gesichtsausdruck gemeint ist. Das ist arg Umgangssprachlich. Warum nicht einfach: Sie sah ihn finster an. Das wäre die Kurzform von: Sie sah ihn mit finsterer Miene an.

"Das habe ich", erwiderte Santi und rückte seine Brille zurecht. "Glauben Sie mir, …“
Das kann man auch mal so schreiben: "Das habe ich." Santi rückte seine Brille zurecht. "Glauben Sie mir, …“ Es muss nicht immer stehen: fragt, sagt, erwidert, beharrt usw., wenn zwei Personen miteinander reden.

Vashkova zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Schulterzucken als Reaktion auf eine Information bedeutet: Ist mir doch egal.

Er kniete nieder zu der schmächtigen Gestalt und schlang seine Arme um das tote Mädchen, als wollte er Maria Flores vor dem Entsetzen schützen, das jetzt in einer machtvollen Woge das gesamte Dorf überrollte.
Ja, da schleicht wieder das böse Schwulstmonster durch den Text. Das muss nicht sein, zumal es sich relativ leicht vermeiden lässt.
Jetzt wird es ein wenig kompliziert, mal schauen, ob ich das hinkriege.
"Rodrigo!" Organi rüttelte heftig an ihm, und Santi kam zu sich - zitternd, bleich, elend. Sie standen vor der Leiche eines Mädchens.
So. An dieser könnte Santis Verhältnis zu dem Mädchen eingeflochten werden.
Im vorliegenden Text findet der Leser diese Info viel zu spät, um Santis Gefühle angesichts der Leiche zu verstehen. Nämlich dort:
"Das ist Maria Flores", sagte Santi. "Ich war dabei, als sie vor zwei Monaten eingeschult wurde."
Das sagt er zu Vashkova, obwohl die sich wohl kaum dafür interessieren wird.
Weiterhin würde ich die Beschreibung der Wunden ebenfalls vorverlegen (also weg von der Veranda hin zur Schule).
Dann kann der Leser Santis Gefühle selbst nachvollziehen, ohne dass sich der Erzähler, um die gewünschte Wirkung zu erlangen, in Schwulst suhlen muss.

Insgesamt ist das kein schwülstiger Text, aber hier und da finden sich Tendenzen.

Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl und sagte: "Sie werden diesen Jaguar töten."
Voller Mitgefühl und dann dieser knallharte Befehlssatz: "Sie werden diesen Jaguar töten."
Das passt so nicht. Da muss eine Trennung zwischen. Vielleicht so:
Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl, aber was er sagte, war: "Sie werden diesen Jaguar töten."
Da machte ein „aber“ ausnahmsweise Sinn. Damit käme die Trennung von seinen Gefühlen zur Vashkova, die ja vorher schon mal leicht (vielleicht auch zu leicht) angedeutet wurden, und dem Sachzwang zum Tragen. Dieser Zwiespalt ist doch auch interessant.


Fazit: Mir gefällt die Geschichte sehr gut.
Ich rate dazu, nach weiterem Schwulst zu fahnden und das Wort „stumm“, es kommt in verschiedenen Varianten mindestens sechsmal im Text vor, weitgehend (ich glaube, viermal ist es sinnlos verwendet) zu eliminieren.

Lieben Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Asterix!

Vielen Dank für Deinen ausführlichen und hilfreichen Kommentar. Ich finde, er holt mich genau da ab, wo ich stehe: Meinem Gefühl nach sind mir bei dieser Geschichte mehrere Dinge ganz gut gelungen, so wie Du es auch schreibst. Dann aber ist da natürlich auch so manches, das man verbessern könnte und sollte. Und Du beschreibst einige dieser Schwachstellen so konkret und einleuchtend, dass mir die Überarbeitung der Geschichte sicher noch einmal eine Menge guter Einsichten liefern wird. Vielen Dank dafür.

Ich werde mich in den nächsten Wochen an die Geschichte setzten, um alle Hinweise, die dazu bisher gekommen sind in die Überarbeitung einfließen zu lassen. Die meisten Deine Empfehlungen werde ich schamlos eins zu eins übernehmen.

Kurz ein paar Punkte mit denen ich noch hadere:

Die Verwendung von stumm habe ich bisher nie mit den von Dir geäußerten Gedanken gesehen. "Santi starrte stumm in Richtung des Waldrandes." Das ist für mich so wie "Santi starrte sprachlos in Richtung des Waldrandes." Es geht nicht nur darum, dass er etwas x-beliebiges nicht tut, sondern dass er die Fähigkeit zu sprechen, kurzzeitig verloren hat. Ich werde Deine Hinweise dazu mal genauer durchdenken.

Tonlos habe ich immer verstanden als "flüstern", also sprechen ohne dem Laut einen Ton zu geben.

Dann: Santi betrachtete Vashkova voller Mitgefühl und sagte: "Sie werden diesen Jaguar töten." Ich verstehe zwar, dass Du das als gegensätzlich auffasst, denn das ist ja auch so. Aber diesen Effekt hatte ich ja gerade beabsichtigt. So wie beispielsweise: "Sie lächelte grausam." Ich hatte gehofft, dass das knallharte "Sie werden diesen Jaguar töten." auf einer höheren Ebene mit Santis Mitgefühl vereinbar erscheint. Denn dass er ein Freund der Menschen sowohl im Allgemeinen und als auch im Konkreten ist, hat zur Folge, dass er manchmal hart sein muss. Immerhin war es ja auch grausam, Vashkova die Leiche des Mädchens vor die Füße zu legen.

Noch einmal vielen Dank für Deine Mühe und Deinen Rat!

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus!

Freut mich, dass dir einige Hinweise hilfreich erscheinen.

"Tonlos", da habe ich jetzt mal im Duden nachgesehen, hätte ich vielleicht vorher tun sollen, und muss nun sagen, du hast recht. Dennoch sagt mir mein Gefühl immer noch, das ist unpassend, und das ist eben dieses subjektive Empfinden, was man aus den Kritiken ja naturgemäß nicht raushalten kann.

Mitgefühl und sagte: "Sie werden diesen Jaguar töten."
Immerhin hat es ja, wie von dir beabsichtigt, funktioniert.

Die Verwendung von stumm
Tja, sprachlos gibt dem Bild schon eine tiefere Bedeutung. Da kann ich annehmen, dass er etwas sagen will, es aber nicht herausbekommt, weil ihn eventuell die Gefühle überlaufen, Kloß im Hals oder so ähnlich. Stumm ist einfach stumm. Jedenfalls ist das meine Lesart.
Wenn der Erzähler in dem Moment mehr in die Figur eintaucht, dann hätte er mehr oder Genaueres berichten können als: Der Mann starrt stumm. Das ist, gerade in dem emotionalen Moment, mir zu sehr von außen betrachtet. Stumm ist das, was man von außen mitkriegt, sprachlos hat da schon mehr Aussage vom Inneren der Figur heraus.
Dieses „Armkratzen“ ist von mir kein gedankenloses Beispiel. Das ist, genau wie stumm, die pure Außensicht. Denn man weiß letztendlich nicht, warum sich jemand den Arm kratzt, selbst dann nicht, wenn die Situation Rückschlüsse anbietet. Der wahre Anlass kann ein Jucken sein oder Verlegenheit oder Unschlüssigkeit oder es kann eine stressbedingte Neigung zeigen.

Lieben Gruß

Asterix

 

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