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Wolfgang
Ich hab schon ewig nicht mehr an ihn gedacht, aber dann erst gestern wieder. Weiß gar nicht mehr, wieso. Irgendwas lag in der Luft. Hat man ja manchmal. Schwache Momente, wenn dich alles aus der Bahn werfen kann. Wenn du bei irgendeinem Frauenfilm auf einmal anfängst und dich fühlst, als hättest du zwei Eimer fettiges Zeug gegessen und dann Rauch in die Augen bekommen. Oder wenn du denkst, dass irgendjemand so ein Räuchermännchen angezündet hat, diese kleinen Dinger, die so ganz weihnachtlich riechen und die dich irgendwie von der Seite erwischen. Aus einem toten Winkel. Es ist ja mehr ein Stolpern. Man stolpert manchmal kurz.
Und als ich gestern stolperte, muss ich kurz an ihn gedacht haben. Hab schon ewig nicht mehr an ihn gedacht, aber dann erst gestern wieder.
Es war nicht schwer, rauszukriegen, wo er wohnt. Mädchen wissen so was. Es gibt irgendwelche Mädchen, wahrscheinlich die, die sowieso dageblieben wären und die jetzt verheiratet sind und auf das erste Kind warten, die wissen so was. Die bleiben mit allen in Kontakt. Die schreiben kleine Listen. Die tragen Namen in ihre Büchlein ein und Telefonnummern und schicken Rund-Mails raus und treffen dich beim Einkaufen und sagen: „Hast du gehört?“ oder: „Weißt du schon das Neuste?“ Aber an normalen Tagen geht man dann an ihnen vorbei, natürlich höflich, also eigentlich bleibt man kurz stehen und hört ihnen auch zu, aber nicht so richtig. Man sagt dann so was wie: „Jetzt muss ich aber wirklich weg, muss noch ins Lidl rüber, Cornflakes kaufen.“ Nein, das sagt man natürlich nicht. Man hört aufmerksam zu und nickt auch und alles, aber man sagt selbst nichts oder nicht viel, damit sie sich blöd vorkommen mit ihren Listen und ihren Fragen und ihrem Ehering. Man gibt ihnen zu verstehen, dass man jetzt ein eigenes Leben hat, ein ganz eigenes. Und dass das alles früher war. Viel früher. Und nicht mehr heute. Meistens sind diese Mädchen mit ihren Listchen wirklich lästig. Außer wenn man gerade gestolpert ist, dann ruft man sie auch einmal an und fragt: „Hast du was von Wolfgang gehört?“
Man selbst hat viel von Wolfgang gehört. Aber nicht mehr an ihn gedacht. Schon ewig nicht. Manche sagen, Wolfgang ginge es nicht gut. Wenn man sich trifft zu Bier und Schnitzel, einmal im Jahr. Ein gemeinschaftliches Stolpern, das ist schon okay. Das ist was anderes. Die sagen dann, Wolfgang ginge es nicht gut, und schauen einen an, so als müsste ich wissen, was mit Wolfgang ist. Nur weil ich damals neben ihm gesessen hab. Weil wir das waren, was man damals so Freunde nannte. Weil ich ihn auf Partys gefahren habe. Und weil ich mit ihm geredet hab über seine Freundin und was er später mal machen will und so. Deshalb schauen sie mich dann mit ihren Schnitzeln an und die Mädchen mit ihren Listen spitzen die Ohren und hören genau zu, aber ich sage dann immer: „Nein, ich habe von Wolfgang nichts gehört.“ „Ihm soll es ja nicht so gut gehen“, sagen sie dann. „Ja“, sage ich. „Genau wie der Eintracht, nachdem der Scheiß-Heynckes alles kaputt gemacht hat.“ Damals mit dem Okocha und dem Yeboah. Dieser Arsch.
Das Problem ist, du fasst gestern einen Entschluss, und musst ihn heute einlösen. Aber du bist ja nicht mehr der von gestern. Du bist der von heute. Heute stolperst du nicht mehr. Heute könnte Julia Roberts kommen und ganz süß gucken und Bambi könnte sterben und ein riesiges Stadion könnte zu einem Song mitsingen und es wäre mir egal. Felsenfest würd ich da stehen und sagen: „Ach, Gottchen. Kommt doch mal runter.“ Aber jetzt steh ich vor dem Haus, in dem Wolfgang wohnt. Ist ein großes Haus, so ein anonymes. Eins mit Klingelschild. Eins, in dem der Wolfgang, den ich mal kannte, nie wohnen würde. Jetzt stehe ich vor dem Haus und frage mich, was zum Teufel ich sagen soll. „Tja, Wolf, schöne Scheiße, dass dir deine Freundin weggestorben ist. Und das mit dem Koks danach, du, das war aber ne Scheiß-Idee. Schwamm drüber, lass zu nem Eintracht-Spiel fahren.“ Soll ich sagen: „Weißt du noch, damals in Spanien. Die Nutte im Museum. Riesen Sache, oder?“ Und wenn er grade drauf ist? Soll ich dann Requiem for a Dream mit ihm gucken? Fear and Loathing in Las Vegas? Soll ich mir auch so eine, so eine Line reinziehen? Wenn er Geld von mir will. Wenn er weinen will. Wenn er reden will. Wenn er will, dass ich stolpere, dass ich tröste, mit ihm rede.
Das Versprechen von gestern bindet mich nicht. Das Versprechen von gestern gilt nicht. Und wenn mich das nächste Mal einer fragt, wie es Wolfgang so geht, dann sag ich: „Ach, er wohnt ganz schön, hab ich gehört. Du kannst ihn ja mal besuchen.“