- Beitritt
- 22.10.2011
- Beiträge
- 2.960
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 34
Das Ende des Wartens
Manchmal glaubte Anna, das Warten habe sich in die Erinnerung ihrer Wohnung geprägt. Ein geisterhafter, blasser Pfad, der von der Küche zum Bad führte. Manchmal glaubte sie, das Warten habe ein Gesicht.
Noch fünf Stunden.
Sie rückte Bilder zurecht, die gerade hingen, und Sessel, die dort standen, wo sie sollten. Dann begann sie von vorn. Sie zupfte am Goldlack, der in einem Kübel auf dem Balkon blühte, und schnitt trockene Blüten heraus. In ihrer linken Hand häuften sich Blättchen, sie vergrub ihr Gesicht darin und sog den Duft ein.
Nur noch diesen Vormittag musste sie überstehen und die Zeit, bis der Arzt sie hineinrief, dann war das Warten vorbei. Für eine Weile. Dann konnte sie weinen oder glücklich sein. Sie würde mit allem zurechtkommen, sie würde es müssen. Für eine Weile.
Noch vier Stunden.
Anna wanderte weiter, durchmaß die Räume, um die Zeit voranzutreiben. Endlich, endlich losfahren, das Warten abkürzen bis zu dem Moment, wenn sie vor dem Arzt saß.
Sie hatte gedacht, sie sei geduldiger. Doch dann war das Warten in ihren Leib gekrochen und hatte die Furcht geboren. Sie nährte sich von Anna, fraß sie bei lebendigem Leib. Und als das Warten genug hatte von der Hülle, zu der Anna geworden war, schickte es die zweite Tochter: die Hoffnung. Anna wusste nicht, welche der beiden Töchter grindiger war.
Noch drei Stunden.
Sie schminkte sich, kirsch und schiefergrau, zog den knallroten Tanga an. Der Arzt würde ihn nicht sehen, diesen zu engen Fetisch, aber Anna würde ihn spüren, wenn der String beim Hinsetzen in die Haut kniff. Ihre Gedanken konnten sich mit den Bändchen in die Schenkel bohren, während ihr Oberkörper sich mit ruhiger Gelassenheit dem Arzt entgegenneigte. Was immer er sagen würde, das Warten wäre vorbei. Endlich.
Eine Bahn kam, spuckte Menschen aus, Anna trat zurück, ließ Platz für die Aussteigenden. Graue Gesichter, die zu Boden stierten, Stimmen, die in ihren Ohren stachen. Geplärre. Die Tür schloss mit einem Schmatzen und stieß einen Schwall säuerliche Luft auf das Gleis. Es roch nach ungewaschener Kleidung.
Die Ziffern der Anzeigentafel rückten vor, noch eine Minute. Anna schaute in den Tunnel, überlegte, von welcher Seite die Bahn einfuhr. Ein Luftzug erfasste sie, etwas schrillte, eine Hand riss sie zurück. „Sind sie wahnsinnig?“ Der Mund der alten Frau sprühte Speichel, schwere graue Haare, gewunden zu einem unordentlichen Knoten. Anna sah ihr nach, als sie davonging. Der Dutt schwang im Rhythmus ihrer Schritte von links nach rechts. Vorsichtig stieg Anna in die Bahn, wich Kaugummiblasen und Kopfhörern aus, streifte einen Schenkel, kniff die Falte in ihrem grauen Hosen-Anzug gerade. Jemand aß Pommes frites. Um sie herum schwirrten Stimmen, die alle gleichzeitig quäkten, „und dann hab ich … aber ich … und dann ist er ...“ Ein Mädchen strich ihr Haar zurück. Affektierte, gezupfte Augenbrauen, der Mund klaffte. Noch eine Stunde.
Sie erinnerte sich.
Ihr Leben hatte schon immer aus Warten bestanden. Auf den Job, die Tochter, den Mann, auf den Erfolg und wieder auf den Mann. Darauf, dass das Leben schöner wurde. Oder wenigstens blieb. Zuletzt hatte sie darauf gewartet, dass die Infusionen austropften und sich durch ihren Körper brannten, darauf, dass ihr übel wurde. Sie hatte sich müd und trüb gewartet.
Im Wartezimmer blätterte sie sich durch eine Zeitung, überlegte, was dagegen spräche, die Bilder an den Wänden gerade zu rücken. Von draußen kreischte und bimmelte es. Schließlich schloss sie das Fenster.
Die Sprechstundenhilfe wies mit ausgestreckter Hand auf das geöffnete Sprechzimmer, eine Galionsfigur mit Klettslippern. Nachdem Anna die Tür geschlossen hatte, blickte sie zaghaft zu dem Arzt hin. Er starrte auf den Schreibtisch. Als er sie anschaute, verzog sich sein Gesicht zu einer Maske. Die Fältchen an seinen Augen sahen tot aus.
„Frau Mönig, da sind Sie ja!“ Von draußen brauste noch immer der Straßenlärm, manchmal gellte eine Hupe. Mit durchgestrecktem Rücken schritt sie vor seinen Schreibtisch, nahm Platz. Hier war es still. Ganz still. Das Warten stand im Zimmer. Noch hatte es ihr den Rücken zugekehrt.
„Ich habe gute Nachrichten.“ Der Arzt öffnete beide Arme. „Sie haben es geschafft.“ Er strahlte, sein Lachen erreichte die Augen, ließ den Kranz von Fältchen flirren. „Die Quälerei hat sich gelohnt.“ Er streckte die Hand nach ihr aus. „Wir haben gewonnen.“ Zögernd ergreift sie seine Finger. Von draußen tönt Gelärme, das Bimmeln einer Fahrradglocke, ein paar Kinder, die sich ihr Lieblingseis zurufen. Himbeer, fällt ihr ein. Und Joghurt, obwohl keiner sie gefragt hat. Direkt vor dem Fenster singt eine Amsel. Ein Männchen, denkt Anna.
Zuhause würden sich die Schatten nicht mehr in den Ecken ihrer Wohnung sammeln, sie würden zu Boden sinken und sie würde sie wegfegen mit einem rauen, fröhlichen Besen. „Ja“, antwortet sie.
Auf dem kleinen Platz vor der Arztpraxis herrscht Getriebe, ein vergnügtes Menschenkarussell. Fahrradfahrer klingeln sich vorbei, aus einem Korb am Lenker linst ein aufgeregter, kleiner Hund. Männer mit Baskenmützen schwatzen über das letzte Spiel der Borussia, eine alte Frau wirft Brot für die Tauben. Zwei Teenies plagen sich mit riesigen Einkaufstüten, schnattern von den neuen Schuhen, die sie gleich anziehen werden. Ein junger Mann streift Anna im Vorbeigehen mit seinem Blumenstrauß, honiggelber Freesienstaub haftet an ihrer Jacke. „He, hoppla, mein Anzug ist frisch gewaschen.“ Ihre Stimme zittert.
„Na dann ziehen Sie ihn doch aus, sieht bestimmt noch hübscher aus.“ Er sagt es frech und mit einem bewundernden Blick. Dabei zieht er die Nase kraus und fängt sie mit seinen Augen. Nur mit Mühe und kichernd reißt sie sich los. Sie stöckelt vorbei an der älteren Dame auf der Parkbank, die mit einer riesigen Zeitung kämpft, und setzt sich. Neben ihr hockt ein Mädchen, das ihrem Opa ein iPhone zeigt. Ihre Stimme überschlägt sich, so sehr preist sie dessen Vorzüge. Der Opa zieht die Stirn in Falten und starrt auf das kleine Kästchen in ihrer Hand, dann deutet er auf seine Zeitung, nimmt das iPhone und packt es liebevoll ein. Das Mädchen jauchzt und zeigt seinem Opa die geöffnete Hand, prustend schlägt er ein. Und Anna lacht mit, einmal iPhone der Herr, wie hätten Sie es denn gern, eingewickelt und to go?
Gegenüber von dem kleinen Platz, in einem kleinen, frischen Park, blühen Pfingstrosen. Nur durch eine Böschung und Gleise von ihr getrennt. Zwischen Skulpturen und Fliederbüschen führt ein Weg zu einem weißen Pavillon. Ist das nicht der junge Mann von vorhin, der gerade dort läuft? Klar, das sind seine breiten Schultern, der wippende Haarschopf. Neben ihm schlenkern die Blumen. Und jetzt klingt Musik aus dem Park, ein Saxophon setzt ein, nein, nicht nur eines, es sind drei Bläser. Anna steht auf. Vielleicht tanzen sie da drüben im Park? Vielleicht geht sie ja selbst dorthin? Vielleicht tanzt sie mit dem jungen Mann, der eben so frech war? Worauf wartet sie? Sie braucht nicht länger zu warten, sie wird erwartet. Von Blumen, der Musik, dem jungen Mann. Klänge fluten in ihren Körper, ihr Becken wiegt sich, ganz sacht, ein Schritt vor, zurück, eine Drehung. Es ist Pantera Mambo, ihr Lieblingsstück. Ihre Hüften kennen den Takt, schwingen und kreisen, tanzen und sich verlieben, das erwartet sie. Die Hand eines Mannes wird sich auf ihren Rücken legen, er wird an den Hüften entlangfahren, mit glühenden Händen, und die Bänder ihres Strings tasten und das Weiche ihrer Haut. Sie fühlt sein Bein zwischen ihren, die Vorfreude, den Rhythmus, das Wiegen und Fühlen und Spüren. Ihr ist ganz heiß. Sie will nicht warten, nein, sie will tanzen, sie hat keine Zeit, eine Ampel zu suchen, einen Übergang über die Gleise. Schnell klettert sie die Böschung hinunter. Der Schotter strahlt Hitze, die ihre Sohlen durchdringt. Sie überklettert den ersten Schienenstrang, balanciert die Holzschwelle entlang. Von Weitem schmettert das Saxophon, fast ein bisschen grell, aber das ist egal, sie wird tanzen, sich drehen, die Wärme seiner Hände genießen. Etwas ruckt an ihrem rechten Fuß, sie zieht, doch der Pump hängt fest. Mit aller Kraft reißt sie an dem Schuh, zerrt, holt Schwung, um sich zu befreien, zerrt noch mehr, strauchelt, knickt um und schlägt lang hin. Der Schotter bohrt sich in ihr Fleisch. Als sie sich aufstützt, ihre verdrehten Beine bewegen will, fährt ein scharfer Schmerz durch ihr Knie, etwas reißt, als wäre ein Stück des Knorpels abgefräst. Der Ton hallt jetzt, dehnt sich, ganz lang, ganz hell, ganz grell, bis er über ihr zusammenschlägt. Es ist kein Saxophon, das ist schon lange verstummt. Es ist ein Brausen, das sie hört, ein Kreischen und Schrillen, das immer lauter wird. Dann ist es still. So still, dass Anna es hören kann, das Wispern, mit dem das Warten sich zu ihr dreht.