Ändere nichts und nichts ändert sich
Sie klammerte sich an die Kanten ihres Schreibtischs, wie an eine Brüstung, die sie vor dem Absturz in eine tiefe Schlucht bewahrt. Ihre Gedanken schweiften zurück an ihr Treffen. Egal wie sehr sie versuchte, sich auf das vor ihr aufgeschlagene Buch zu konzentrieren, es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie las die Wörter vor sich, wie die aneinandergereihten Buchstaben einer ihr fremden Sprache. Ihre Lippen formten die einst vertrauten Worte und doch erschloss sich ihr kein Sinn. Die Buchstaben entschwanden ihr noch bevor diese sie erreichen konnten, wie Staub der sich ins Nichts auflöst. Sie musste nur an eine Sache denken: Wie sehr er sich doch verändert hatte, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Sie sah ihn vor sich mit seinem strahlenden Lächeln und seiner überlegenen Art. Nichts war mehr geblieben von dem unsicheren, verschlossenen Jungen aus früher Vergangenheit, der bemüht war um jedes Wort und unsicher durch den Raum schweifte. Etwas war mit ihm geschehen, hatte ihn verändert. Ihre beiden Leben waren nicht mehr eng genug miteinander verbunden, um das Geschehene zu ergründen. Sie konnte nur Vermutungen aufstellen. Doch egal was es sein mochte, sie wollte dasselbe erreichen.
Sie spürte wie sich ihr Inneres verkrampfte und sie die Eifersucht übermannte. Es ging ihr hierbei nicht um den Jungen, für den sie einst Gefühle hatte. Welcher vielleicht auch heute noch die Macht besaß ihr Herz einen Tick schneller schlagen zu lassen. Nein es ging, wie egoistisch dies auch erscheinen mag, einzig und allein um sie selbst. Wieso schaffte er es sich zu ändern und sein Glück zu finden, während sie Tag ein Tag aus ihre Schlachten gegen die Ungeheuer des Alltags kämpfe, um sich jeden Abend erleichtert in die Einsamkeit ihrer eigenen vier Wände zurückzuziehen. Dankbar einen weiteren Tag überlebt zu haben.
Etliche Male hatte sie sich bereits vorgenommen ihr Leben zu ändern, eines Morgens aufzuwachen und eine andere zu sein. Alles was geschehen war hinter sich zu lassen und endlich das Leben zu führen, dass sie sich immer erträumt hatte. Doch so simpel war es nun mal nicht. Wie oft hatte sie schon den Entschluss gefasst ihrem Leben eine neue Bedeutung zu geben und wie oft schon ist sie an ihren eigenen Zweifeln gescheitert. Doch noch gab es Hoffnung. Noch hatte sie nicht aufgegeben. Vielleicht würde sie es dieses Mal schaffen. Plötzlich fühlte sie wie die Eifersucht verdrängt wurde von einem warmen inneren Gefühl, dass sich langsam über ihren gesamten Körper ausbreitete und selbst die entferntesten Winkel der Leere erreichte. Von der inneren Kraft überwältigt benötigte sie nicht mehr den sicheren Halt ihrer Schreibtischkante und sprang selbstsicher auf. Es war Zeit etwas zu ändern, noch nie war sie sich dessen so bewusst wie in diesem Moment. Hastig zog sie ihre Stiefel an, griff wahllos nach einer Jacke und schmiss achtlos die Tür hinter sich zu. Keine weitere Sekunde wollte sie vergeuden auf dem Weg in ihr neues Leben.