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Überraschungsei
Ich lag auf dem Bett und starrte abwechselnd auf meine Uhr über der Tür, und an die Zimmerdecke. Schon fast eine Stunde zu spät, viertel vor acht war es. Den Film, den wir uns ausgesucht hatten, würden wir auf keinen Fall mehr sehen können. Langsam fragte ich mich wirklich wo Léon blieb. Er kam zwar öfter zu spät, aber ließ nie so lange auf sich warten. Ob er mich wohl einfach vergessen hatte? Schließlich hatte ich donnerstags für gewöhnlich nie Zeit … Über sein Handy war er auch nicht zu erreichen, obwohl es angeschaltet war. Nun, dann würde ich einfach zu ihm fahren. Für meine Eltern hinterlegte ich eine Nachricht auf dem Küchentisch, dann schloss ich die Haustür ab und radelte los, quer durch die Stadt. Es waren nicht viele Menschen unterwegs, denn es sah nach Regen aus. Am Himmel waren alle erdenklichen Grautöne vertreten, von tauben- bis bleigrau, aber es gab kein einziges Fleckchen Blau mehr. Ich trat kräftiger in die Pedale. Eigentlich könnte ich ja wütend auf ihn sein, zumindest für den Fall, dass er mich wirklich vergessen hatte. Aber wir waren schon so lange zusammen, dass das bei einer Verabredung die so von unseren Gewohnheiten abwich, vielleicht mal passieren konnte. Wir mussten uns dringend etwas einfallen lassen, um mehr Abwechslung in unsere Beziehung zu bringen. Nicht, dass ich daran dächte sonst Schluss mit ihm zu machen, ich wollte nur noch nicht in einen stumpfen Alltagstrott verfallen.
Léon wohnte in einem netten Reihenhaus am Rande der Stadt, das ich schon nach fünfzehn Minuten erreichte. Die Vorgärten waren gepflegt und vielen Fenstern sah man an, dass auch eines oder mehrere Kinder hinter dieser Fassade wohnten. Das Auto von Léon, ein roter Golf, stand vor dem Haus. Gut, dann war er also da. Ich stellte mein Fahrrad neben das Auto und klingelte. Der kleine Bruder öffnete, ein riesiges Eis in der Hand, und verzog sich dann gleich wieder ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür hinter mir und war schon halb die Treppe hinauf, als mir noch etwas hinterher gerufen wurde: „Lena, sag ihm mal er soll sich sein Handy holen, das klingelt die ganze Zeit wie bescheuert.“ Ich sagte ja und wusste nun auch, weshalb niemand rangegangen war. Ich betrat das Zimmer ohne anzuklopfen.
Léon lag im Bett. Und neben ihm lag meine beste Freundin, Selma. Kein Zweifel, kein Irrtum möglich. Sie lagen nebeneinander im Bett und hatten, dem Kleiderberg daneben nach zu urteilen, auch nichts mehr an. Sie sahen mich an, stumm wie griechische Statuen. Léon öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus, also schloss er ihn gleich wieder. Selma richtete sich nur langsam auf und zog sich die Decke bis unters Kinn. Bevor ich mich umdrehte und die Treppe hinunter rannte sah ich noch, wie Léon blitzschnell in seine Boxershorts stieg und hörte ihn dann hinter mir herpoltern, immer noch ohne etwas zu sagen. Ich lief nach draußen und schwang mich auf mein Fahrrad. Es hatte angefangen zu regnen, eine wahre Flut ergoss sich über der Stadt und innerhalb von Sekunden war ich bis auf die Unterwäsche patschnass. „Lena! Lena, verdammt, warte! Lena, bitte!“, hörte ich ihn rufen. Durch das Unwetter klang es wie die Stimme des Hauptdarstellers eines alten schwarz-weiß Filmes. Ich wusste, er stand hinter mir in seinen Boxershorts mitten auf der Straße, den mageren Oberkörper leicht vorgebeugt. Ich wusste, wenn er wieder rein ging würden sich kleine Pfützen auf dem Boden bilden, von dem Wasser das an seinen langen Haaren herunter tropfte. Ich drehte mich nicht um. Und ich weinte nicht. Ich fuhr durch den strömenden Regen nach Hause.
Ich schloss die Tür auf und hörte gleich wie meine Mutter in der Küche herumwerkelte.
„Lena, bist du wieder da?“ Ich antwortete nicht sondern streifte schnell meine nassen Sachen ab und warf sie einfach in den Wäschekorb im Abstellraum. Dann huschte ich, nur in Unterwäsche und Socken, die Treppe rauf in mein Zimmer. Bevor ich die Tür hinter mir schloss rief ich noch: „Mama, ich hab heute keinen Hunger.“ „Alles ok bei dir?“ Ich hörte wie meine Mutter auf den Flur trat. „Klar“, sagte ich, und ehe sie noch mehr fragen konnte, schloss ich ab. Ich zog den Stecker von meinem Telefon aus der Steckdose und schaltete mein Handy aus. Dann legte ich mich ins Bett, zog die Decke über den Kopf und rollte mich darunter zusammen. Jetzt liefen die Tränen. Sie wollten gar nicht mehr aufhören. Es waren heiße Tränen, so heiß, dass sie auf meinen Wangen und auf meinem Hals wie Feuer brannten. Ich wurde wie im Fieber geschüttelt und schluchzte wie sonst nur ein kleines Kind schluchzen kann, das sich ungerecht behandelt fühlt. Es tat weh. Alles in und an mir tat schrecklich weh.
Die nächsten Tage blieb ich zu Haus. Léon und Selma hatten jeweils mehrere Male angerufen, aber ich verspürte kein Bedürfnis, jemals wieder mit einem der beiden zu reden. Meine Eltern wussten inzwischen Bescheid und ließen mich weitestgehend in Ruhe. Das war auch gut so, denn wenn mich jemand in den Arm genommen hätte, hätte ich sofort wieder angefangen zu weinen. Ich saß mit einer Tasse voll heißer Milch mit Honig in der einen, Salzstangen in der anderen Hand und besonders dicken Wollsocken an den Füßen auf dem Fensterbrett und sah dem immer noch heftig und fast ununterbrochen fallenden Regen zu. Nur sehr selten ging eine gut eingepackte Gestalt mit Regenschirm oder doch zumindest mit Hut draußen vorbei, sonst war die Straße wie ausgestorben. Nach zwei Tagen Fensterbrett wusste ich genau wann wer in der Straße aufstand oder ins Bett ging, wer Mittagsschlaf hielt und wann wo die Rollläden hochgezogen oder heruntergelassen wurden. Zwischendurch sah ich fern, und zwar völlig wahllos, je nachdem was gerade lief. Zum Beispiel die Sendung mit der Maus. Denn seit Neuestem gab es in meinem Kopf auch einen Moderator. „Hallo Kinder! Das ist die Lena. Die Lena hat ihren Freund und ihre beste Freundin im Bett erwischt. Klingt komisch, ist aber so.“
Am fünften Tag gegen zwölf Uhr mittags reichte meine Mutter mir schließlich das Telefon ins Zimmer, Anna war dran. Sie überredete mich, sie und ihren Freund in die Disko zu begleiten. Anfangs sträubte ich mich, aber schließlich gewann die gute Anna doch. Ich machte mich also fertig, lieh mir ausnahmsweise ein T-Shirt von meiner Mutter und stand pünktlich abholbereit unter dem schützenden Vordach unseres Hauses. Anna und ihr Freund kamen, ich stieg ins Auto und nach zehn Minuten waren wir da. Wir gaben unsere Sachen an der Garderobe ab und betraten den riesigen Raum. Die Disko war in einer zu diesem Zweck umgebauten Fabrikhalle und ziemlich voll. Trotzdem entdeckte ich Léon und Selma sofort. Sie standen allerdings nicht beieinander, sondern jeder bei seinen Freunden. Ich blieb bei Anna, stellte mich aber so hin dass ich die anderen beiden beobachten konnte. Vor allem Selma betrachtete ich eingehend. Das hübsche Gesicht saß auf einem anmutigen Hals und das lange schwarze Haar, die dunklen, leicht oval geformten Augen, genauso wie die recht dunkle Haut und die schlanke Statur sahen zugegebenermaßen ziemlich sexy aus. Ja, hübsch war sie, aber das gab ihr natürlich nicht das recht mit meinem Freund ins Bett zu steigen. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass der Drink in ihrer Hand voll mit Gift wäre, das sie an einem langsamen, qualvollen Tod zu Grunde gehen lassen würde. Und Léon wünschte ich einfach nur die Pest an den Hals. Ich fragte mich, ob die beiden verliebt ineinander waren, oder ob es pure Langeweile gewesen war. Egal, ich würde bestimmt nicht fragen, und diese Feiglinge schienen auch nicht erpicht auf ein Gespräch mit mir zu sein. Ich kippte den Rest meines Cocktails runter und besorgte mir einen neuen.
Der Zeiger meiner Armbanduhr rückte weiter vor und der Alkoholpegel stieg merklich. Mittlerweile war ich in ein angeregtes Gespräch mit Tatu, einem alten Schulfreund, vertieft und Selma und Léon kamen mir nur noch vor wie zwei lächerliche Witzfiguren, wie sie da standen und es vermieden den jeweils anderen oder gar mich anzusehen. Jedes Mal wenn ich anfing länger darüber nachzudenken, musste ich unweigerlich kichern.
Irgendwann war dann der Punkt erreicht, an dem in deinem Kopf jemand anfängt, ohne dich Karussell zu fahren. Tatu, der seinerseits ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern war, merkte wohl dass ich nicht mehr allzu sicher auf den Beinen war, und fragte ob ich mit nach draußen kommen wolle. „Du, ich glaub das regnet immer noch, da bleib ich lieber drin.“
„Wir können uns ja in mein Auto setzen und die Scheiben runterkurbeln oder so.“ Er grinste mich an. Ich grinste zurück und nickte. Er legte den Arm um mich und wir liefen zu seinem Auto. Eine Zeit lang saßen wir nur da und unterhielten uns, doch dann zog er mich zu sich heran und küsste mich. Er schmeckte nach Bier, und wurde mit der Zeit immer aufdringlicher. Ich ließ das zu … und wir schliefen miteinander während der Regen aufs Dach prasselte. „Willkommen zurück, Kinder. Das ist noch mal die Lena. Die Lena möchte nicht alleine sein. Klingt komisch, ist aber so.“
Hinterher zündete er sich eine Zigarette an und fragte mich ob ich denn auch eine wolle. Ich schüttelte den Kopf und musste schon wieder grinsen, wegen des Klischees der „Zigarette danach“. Ich betrachtete ihn von der Seite. Er sah verdammt gut aus, der kleine Tatu von damals war nicht mehr wieder zu erkennen. Wir schwiegen, und schließlich sah er auf seine Uhr.
„Du weißt, dass das mein letzter Abend hier war? Morgen früh … oder besser gesagt in ein paar Stunden zieh ich weg von hier.“
Ich nickte.
„Soll ich dich nach Hause fahren?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Danke, aber meine Sachen sind noch drinnen.“
„Ich kann auch solange hier warten, ist wirklich kein Problem.“
„Nein, ich geh lieber zu Fuß.“ Ich lächelte ihn an. Er lächelte zurück.
„Ich meld mich bei dir, und man sieht sich bestimmt noch mal.“ Er umarmte mich zum Abschied.
„Halt die Ohren steif, Lena.“
Ich nickte wieder. „Du auch,Tatu.“
Ich stieg aus und er fuhr davon. Aus uns beiden wäre niemals etwas geworden. Aber als Kumpel hätte ich so einen wie Tatu schon gut brauchen können. Na ja, er war ja nicht aus der Welt.
Ich atmete tief ein, mittlerweile hatte ich wider einen klaren Kopf. Mir war bewusst, dass einige Leute da drinnen sich böse das Maul über mich zerreißen würden. Alle hatten mich und Tatu gehen sehn, und wir waren ziemlich lange draußen geblieben. Nach solchen Geschichten ist der Kerl oft ein Held, ein Aufreißer, der alle haben kann, das Mädchen allerdings eine morallose Schlampe. Aber das kümmerte mich nicht. Sollten die doch denken was sie wollten, solange auch Selma und Léon ihren Teil abbekamen, und das würden sie, dessen war ich mir sicher.
Tatsächlich, als ich wieder rein ging rief irgendjemand hinter mir höhnisch „Da kommt unsere kleine Partyfickerin ja. Schaut mal Leute, die schwebt ja förmlich.“ Ich ignorierte diesen Kommentar, holte meine Sachen und verabschiedete mich von Anna und den Anderen. Léon und Selma standen nun doch beieinander. Für einen winzigen Augenblick hörte mein Herz auf zu schlagen – so kam es mir zumindest vor – doch dann setzte es wieder ein.
Ja, es tat weh. Und ja, es würde vorbeigehen.
Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Überall waren Pfützen, schwarze mini – Meere, in denen sich das Licht der Straßenlaternen und Leuchtreklamen spiegelte.
Aber es regnete nicht mehr.
Meine Lebensanschauun hat sich seit diesen Ereignissen etwas verändert, das Leben – oder zumindest meines - ist nur in den seltensten Momenten mal „Party“. Es ist ein Überraschungsei. Ein Überraschungsei mit zuwenig Schokolade, zuviel Papier drum herum und – wenn du Pech hast - einer wirklich beschissenen Überraschung in der Mitte.