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100 Leben

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08.02.2016
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100 Leben

Nachdem Lukas im Chichu-Art-Museum zusammengebrochen war, beschloss er früher abzureisen. Er war verwirrt und sprach kaum noch mit mir. Dabei hatte der Ausflug nach Naoshima verheißungsvoll begonnen, als wir an einem Montagmorgen, aus einem für April viel zu kalten Yokohama kommend, im Hafen von Uno die Fähre bestiegen und zum ersten Mal, seit wir in Japan angekommen waren, unsere Gesichter mit breitem Lächeln und geschlossenen Augen der aufgehenden Sonne zu wandten. Ich war in unserem Reiseführer auf die Insel aufmerksam geworden und hatte versucht, Lukas davon zu überzeugen, dass uns eine Abwechslung gut tun würde. Vor allem die Bauwerke von Ando Tadao, schienen seine Neugierde zu wecken. Dag gab es das Benesse House, ein Hybrid aus Hotel und Museum und das Chichu-Art-Museum, das als Bauwerk unter der Erdoberfläche versteckt ist und mit den darin beherbergten Bildern, Installationen und Objekten zu einem einzigen Kunstwerk verwächst.

Wir bestiegen also in Uno die Fähre, die uns nach Miyanoura, dem Fährenanlegeplatz auf Naoshima, bringen sollte. Mit uns reisten einige junge Paare. Wir freuten uns über das schöne Wetter, das Meer und die winzigen Inseln, die unsere Fähre auf dem Weg passierte. Eine davon war nur ein schwarzer Hügel, auf dem Bergbaumaschinen standen. Auf einem Schild war „Mitsubishi Materials Corporation“ zu lesen. Am Sonnendeck unserer Fähre, unweit des Hecks, saß einsam ein alter Mann. Hände und Kinn auf einen Gehstock gestützt, starrte er Richtung Festland. Ich hörte ihn etwas vor sich hin murmeln: „Früher waren alle diese Inseln schwarz...“, glaubte ich zu verstehen. Die anderen Passagiere liefen aufgeregt von Reling zu Reling, riefen begeistert, wenn sie etwas Schönes entdeckten, und machten eifrig Fotos. Nachdem ich eine Weile über das Deck spaziert war und mich der allgemeinen Freude angeschlossen hatte, setzte ich mich zu Lukas. Er hatte seinen Blick auf die schwarze Insel gerichtet und, sobald ich Platz genommen hatte, sagte er: „Naoshima ist doch auch ein beliebter Selbstmordort.“ Ich hatte davon nichts gehört und verneinte, aber er war fest davon überzeugt. Er habe Geschichten gehört vom Norden der Insel, wo sich immer wieder Menschen von hohen Klippen ins Meer stürzten. Vor allem Paare würden diesen Ort immer wieder für Doppelselbstmorde aussuchen. Das sei Unsinn, denn es gebe keine Klippen auf Naoshima. Höchstens zum Baden stürzen sich die Mensch dort ins Wasser. Außerdem gebe es so etwas wie Doppelselbstmorde kaum noch. Er war aber nicht davon abzubringen. Während wir uns unterhielten, setzte sich ein junges Paar neben uns und nickte uns lächelnd zu. Lukas sprach sie auf Japanisch an, aber sie schienen ihn nicht recht zu verstehen. Ich verstand zwar, was er sagen wollte, aber ich hätte es auch nicht besser formulieren können. Er musste seinen Satz mehrmals neu beginnen und umformulieren bis die Frau schließlich in gebrochenem Englisch antwortete. Sie hätten gehört, Naoshima sei unglaublich schön und sie wollten es sich unbedingt einmal ansehen. Sie hätten sich über Mixi durch einen gemeinsamen Bekannten in einer Gruppe für Bildende Kunst kennen gelernt und beschlossen, diesen Ausflug gemeinsam zu machen. Lukas wandte sich mir zu und blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als die Fähre anlegte, verabschiedeten sie sich freundlich und sie sagte noch: „Vielleicht sehen wir uns ja auf der Insel wieder“, bevor sie in den Bauch des Schiffes hinab stiegen.

Nachdem wir die Fähre verlassen hatten, fanden wir nach kurzem Suchen eine Herberge für die heutige Nacht. Unsere Gastgeberin war ein altes Mütterchen, das uns gekrümmt von unten herauf anlächelte. Sie benützte einen Stock zum Gehen, aber bewegte sich ungemein flink und behände über die Stiegen und durch die Gänge, als sie uns das Haus und unser Zimmer zeigte. Es schien, als wären wir die einzigen Gäste, alle Zimmertüren standen offen und man konnte frisch gemachte Betten sehen.
„Kommen um diese Jahreszeit nicht viele Touristen hierher?“, fragte Lukas.
„Es kommen den ganzen Sommer über Scharen von Touristen, nicht, und alle hier auf der Insel vermieten Zimmer, nicht, und es kommen viele Paare, die ein schönes Wochenende hier verbringen wollen, nicht, aber wenn man nicht genug Doppelbetten hat, ist es schwierig, nicht. Hier ist übrigens die Toilette“, antwortete sie.
„Seit die Benesse Corporation hierhergekommen ist, hat sich sicher vieles für sie verändert“, hakte Lukas nach. Die Alte seufzte und sagte:
„ Ja, die Benesse Corporation, nicht wahr...zuerst Mitsubishi und dann Benesse. Ihr gehört die ganze Insel sozusagen, nicht. Und einige andere Inseln in der Umgebung auch, nicht.“ Sie führte uns in unser Zimmer durch eine Schiebetüre, die sich nicht verschließen ließ. Es gab darin ein Stockbett und einen Kleiderschrank.
„Für Wertsachen haben wir Spinde, nicht. Wenn sie einen Spind benutzen möchten, nicht, dann bekommen sie von mir einen Schlüssel für 500 Yen,nicht. Die Spinde sind groß, nicht, sie können Ihre Koffer problemlos hineinstellen. Aber, nicht, es ist außer ihnen nur ein Pärchen für heute Nacht hier, nicht, sie werden keine Spinde brauchen. Die haben unser einziges Doppelbett, nicht. Ich sage ihnen das Leben hier hat sich verändert, nicht. Benesse macht ihre Sache und wir dürfen von den Touristen, die sie bringen, leben, nicht, und so leben wir einfach länger, nicht. Wir fahren nicht mehr vor Tagesanbruch mit den Booten aufs Meer hinaus, wir haben kaum noch frische Fische, wir haben kein eigenes Holz mehr, nicht, aber wir sind ohnehin zu schwach, um es selbst zu fällen, aber wir leben hier, nicht, und wir leben noch ein bisschen weiter, nicht. Hier sind die Duschen für dieses Stockwerk. Wir haben leider kein Bad. Sie könne hier nur Duschen, nicht. Aber wenn sie baden wollen, gehen sie doch in das öffentliche Bad. Es ist ganz in der Nähe und sehr beliebt bei den Besuchern von Naoshima, nicht. Es wurde von Meister Otake gemacht, nicht. Otake Shinro, kennen sie ihn? Benesse hat ihn hierher geholt und er hat dieses Bad gemacht. Es ist sehr beliebt. Im Winter gehen auch die Bewohner von Naoshima dort hin, nicht. Man fühlt sich wirklich Jahre jünger, nicht, nach dem Baden dort. Schauen sie es sich unbedingt an.“ Wir bedankten uns und sagten, dass wir es abends vielleicht noch besuchen wollten. „Ja machen sie das“, sagte sie, „es hat abends bis zehn Uhr geöffnet. Jetzt zeige ich ihnen noch den Aufenthaltsraum, nicht, dann haben sie alles gesehen, nicht.“ Sie führte uns wieder ins Erdgeschoß, schob eine Schiebetür auf, die sich gleich gegenüber des Hauseingangs befand, und zeigte uns ein Zimmer mit einer großen Eckbank, vor der ein Couchtisch stand. Auf einem Tisch in einer Ecke stand sich eine automatische Espressomaschine, daneben ein Kühlschrank und ein Getränkeautomat. „Sie können hier alles frei benützen, nicht. Rauchen, nicht, tun sie bitte nur hier. Jetzt werde ich sie aber wieder alleine lassen“, sagte sie. Sie verneigte sich mehrfach, während sie sich schon rückwärts davon bewegte. Wir verneigten uns ebenfalls

Im Aufenthaltsraum, saß auf der Couch das junge Pärchen, das vermutlich in dieser Nacht die Herberge mit uns teilen sollte. Sie blickten uns an und nickten uns lächelnd zu. Wir grüßten ebenfalls mit einem Nicken und entschieden uns, eine Weile hier zu bleiben, um Kaffee zu trinken und eine Seven Stars zu rauchen. Lukas fragte die beiden, ob wir uns zu ihnen setzen dürften. „Bitte, bitte“, sagte der Mann und wies auf die freien Plätze neben ihnen. Wir kamen mit ihnen über die üblichen Fragen ins Gespräch: Wo wir her kämen, wie lange wir in Japan blieben, wo wir noch hinfahren wollten und wo es uns bisher am besten gefallen habe. Dann erzählten sie ein wenig über sich. Sie seien beide aus Fukuoka, wo sie gemeinsam studiert hatten und zusammengekommen waren. Sie hatten vor kurzem ihr Studium abgeschlossen und geheiratet. Gerade als sie zusammen ziehen wollten, wurde der Mann von seiner Firma nach Sapporo versetzt, weshalb sie sich schon bald trennen müssten. Denn in vier Tagen müsse er die Stelle antreten. Wir drückten unsere Empörung aus und fragten, ob er denn den neuen Posten nicht ablehnen könne. Doch er erklärte uns, dass so eine Situation nicht unüblich sei. Er sagte etwas und benutzte ein Wort, das wir nicht verstanden. Er bemerkte unsere ratlosen Blicke und versuchte es zu umschreiben. Soweit ich es verstand, bedeutete es „umziehen, um eine neue Stelle anzutreten und dabei seine Familie zurücklassen.“ Da könne man gar nichts machen, sondern müsse sich einfach fügen. Seine Frau schwieg die meiste Zeit und nickte ab und zu bekräftigend. Sie sahen beide jünger aus als wir. Wenn sie gerade ihr Studium abgeschlossen hatten, waren sie wohl nicht älter als 23 oder 24. Plötzlich fragte Lukas unvermittelt: „Habt ihr auch davon gehört, dass Naoshima ein beliebter Selbstmordort sein soll?“ Mir war die Frage sehr unangenehm. Ein wenig besorgt blickte ich auf unsere Gesprächspartner. Der Mann schien ein wenig verlegen auf den Boden zu blicken. Die Frau sah Lukas mit ihren großen Augen an, legte den Kopf leicht zur Seite und wiederholte langsam: „Selbstmordort?“ Dann hielt sie sich die Hand vor den Mund und begann dahinter versteckt zu kichern. „Ein Selbstmordort“, wiederholte sie noch einmal, als sie sich wieder beherrschen konnte. Nun lachte auch der Mann und schüttelte den Kopf. Sie sagte: „Dass hier ein Selbstmordort sein soll, habe ich noch nie gehört. Hier ist es viel zu schön, der Ort strahlt viel zu viel Hoffnungen aus. Außerdem gibt es hier nirgends Klippen, von denen man sich stürzen kann. Und wenn man eine konventionellere Methode wählen will, braucht man doch nicht so weit raus fahren. Das ist doch viel zu viel Mühe. Aber nur weil ich noch nie davon gehört habe, heißt es nicht, dass es das hier nicht gibt. Gebt Bescheid, wenn ihr einen Platz findet, der sich zum Selbstmord eignet. Das würde mich sehr interessieren“, sagte sie etwas mokant. Lukas lächelte verlegen und schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: „Also gut, gib mir deine Telefonnummer, ich sage Bescheid, wenn ich ihn gefunden habe.“ Sie und ihr Mann blickten sich kurz schmunzelnd an. dann willigte sie ein und holte ihr Mobiltelefon aus ihrer Tasche. Uns fiel sogleich das aus Seide geflochtene Band auf, das von dem Telefon baumelte. Es war weinrot und glich eher einem Accessoire für einen festlichen Kimono als für ein Telefon. „Ein sehr schönes Band hast du da“, sagte Lukas. „Danke. Gewöhnlich mag ich keine Accessoires für das Mobiltelefon. Ich finde die meisten, die ich sehe, hässlich oder kitschig. Aber dieses Band gefällt mir. Er war ein Geschenk.“ Sagte sie und sah ein wenig unsicher zu ihrem Mann. Lukas und sie tauschen Telefonnummern aus. Dann verabschiedeten wir uns und machten uns auf den Weg, die Attraktionen der Insel zu erkunden.

Als wir beim Benesse House ankamen, war es bereits später Nachmittag. Es befand sich auf der Spitze eines Hügels und wir mussten von der Busstation einige Minuten bergauf gehen, bis wir es erreichten. Es war ein Luxushotel mit einem angeschlossenen Museum. Die Hotelgäste hatten freien Zugang zu den Ausstellungsräumen, die Besucher des Museums konnten aber nicht in die Hoteltrakte vordringen. Das Bauwerk war karg und kühl aus grauem Stahlbeton. An den Decken liefen tief grüne Rohre durch alle Räume. Wir schlenderten durch die Gänge und Hallen, mehr beeindruckt vom Bauwerk und vom hellen Licht in den verwinkelten Räumen, als von den ausgestellten Stücken. Außer uns war das Gebäude leer. Wir trafen keine anderen Besucher, bis wir zu einer riesigen Glaswand kamen durch die grelles Licht ins Innere fiel. Ein Teil des Glases ließ sich beiseiteschieben und gab den Weg frei auf eine Terrasse, die nach Westen ausgerichtet war und einen freien Blick auf das Meer eröffnete. Eine riesige rote Sonne tauchte alles in ein kräftiges orangefarbenes Licht, das aussah, als wäre es so dicht, dass man darin schwimmen könne. Und hier waren sie: die jungen Besucher Naoshimas, die von überall aus Japan gekommen waren, durch das starke Gegenlicht nur als schwarze Schemen zu erkennen, standen oder saßen sie in Zweiergruppen über die Terrasse verteilt und blickten in die untergehende Sonne. Ich ging zum Rand der Terrasse von der ein steiler Hang hinunter zur Straße und dann weiter zum Meer führte. Ich wandte mich um, um die Gesichter der anderen Besucher sehen zu können. Ich dachte, ich würde unter ihnen das Paar aus unserer Herberge finden, aber sie waren nicht dabei. Sie mussten an einen anderen Ort der Insel gegangen sein. Schließlich suchten wir wieder den Ausgang und kamen dabei durch einen Raum, der 100 Live and Die von Bruce Nauman beherbergte, der aber von den übrigen Besuchern unbeachtet blieb. Nur uns beide überraschten alle 100 Leben und Sterben, die plötzlich gleichzeitig aufleuchteten und unsere verblüfften Augen blendeten, als wir an dem Objekt in der Mitte des Raumes vorüber gingen. Alle anderen hatten einen anderen Ausgang gewählt.

Wir kehrten mit dem Bus nach Miyanoura zurück und weil noch Zeit war, beschlossen wir, das öffentliche Bad zu besuchen. Viele Touristen standen um das Gebäude des Bades, betrachteten es und machten Fotos. Es war wie ein Haus aus Treibgut errichtet, mit Teilen eines Schiffes, eines Flugzeugcockpits und zwei Palmen am Dach. Von überall aus Japan kamen die Teile, die einst eine andere Funktion erfüllt hatten. Zu unserer Verwunderung war im Inneren der Badehalle nichts von den jungen Touristen zu sehen. Das Bad schien nur von älteren Menschen besucht zu werden, die wir für Bewohner von Naoshima hielten. Ein älterer Mann duschte neben mir. Er benutzte nicht wie ich bequem einen Schemel, sondern brauste sich frei hockend ab. Als er fertig war, erhob sich mit Leichtigkeit. Als ich von dem Hocker aufstehen wollte verging der Schmerz in meinen Knien nur langsam und es dauerte ein wenig, bis ich wieder aufrecht stehen konnte. Die Badehalle war mit weißen Kacheln ausgelegt und hatte verschiedene bunte Verzierungen. An der Decke und an einer Wand liefen grüne Rohre, die knapp über dem Wasserbecken endeten und manchmal fielen aus ihnen einige Tropfen in das Becken. Die Rohre hatten eine glänzend grüne Farbe, die nicht so aussah, als seien sie gestrichen, sondern als wäre es die Farbe ihres Materials. Wir entspannten uns in dem heißen Wasser und lauschten den Gesprächen der anderen Besucher, die sich fröhlich unterhielten, als würden sie sich alle schon lange kennen. Worüber sie sich unterhielten konnten wir nicht verstehen.

Nach dem Bad kehrten wir erfrischt in die Herberge zurück. Es war bereits später Abend, aber weil wir noch recht munter waren, entschieden wir, uns in den Aufenthaltsraum zu setzen, um dort vielleicht noch unsere Erlebnisse des heutigen Tages mit unseren Mitbewohnern zu teilen. Als wir in die Herberge ankamen, bemerkten wir im Vorraum, dass deren Schuhe noch fehlten und wollten deshalb auf sie warten. Wir saßen im Aufenthaltsraum, tranken Asahi Superdry aus silbernen Dosen und rauchten Seven Stars. Wir warteten, doch es war vergebens. Als es bereits tief in der Nacht war, beschlossen wir doch auf unser Zimmer zu gehen. Wir schauten noch einmal kurz in den Vorraum, aber ihre Schuhe waren noch immer nicht zu sehen. Am Weg zu unserem Schlafgemach ging Lukas zu ihrer Tür und lauschte. Mit einem Kopfschütteln gab er mir zu verstehen, dass er nichts hören konnte. Mich überraschte das nicht, denn wenn sie schliefen, gab es nicht viel zu hören. Lukas aber schien beunruhigt und nachdenklich.

Am nächsten Tag erwachten wir erst vormittags. Wir gingen in den Aufenthaltsraum um Kaffee zu trinken. Die Herberge war leer. Es war als hätten wir das ganze Haus gemietet. Von unseren Mitbewohnern fehlte immer noch jede Spur. Ich meinte, sie seien wohl früher als wir aufgestanden und losgegangen, um den Tag nützen zu können. Lukas sagte nichts. Er nickte nur und wir sprachen nicht weiter über das Thema. Wir fuhren mit dem Bus zum Chichu-Art-Museum. Im separaten Kassagebäude wurden wir von ganz in weiß gekleideten Angestellten empfangen. Sie erinnerten mich an Pflegepersonal oder Anstaltswärter. Sie erklärten uns, nachdem wir Karten gekauft hatten, den weiteren Weg zum Museum und wiesen uns in die Verhaltensregeln ein, deren wesentlicher Punkt war, dass das Gebäude selbst ein Kunstwerk sei und man es deshalb mit dem entsprechenden Respekt behandeln solle. Von den Kassen führte eine Straße einen Hügel hinauf. Wir folgten der Straße und nach einer Weile erreichten wir einen Weg, der von der Straße weg zu einem Tor führte, durch das man in den Hügel hinein gelangte. Das war das Tor zu den unterirdischen Gängen und Räumen des Museums. Die Straße aber führte noch weiter und unsere Neugierde hieß uns, ihr noch ein wenig zu folgen. Doch sie entpuppte sich als Sackgasse. Sie endete mit einer Absperrung direkt vor einigen Sträuchern, durch die ein Trampelpfad führte und weil das Ende der Straße unbefriedigend war folgten wir dem Pfad weiter. Wir wussten nicht, was wir genau erwarteten, aber wir wollten sehen, wie die Insel dort aussah, wo keine Touristen hinkamen. Als wir Büsche beiseiteschoben, die den Weg überwucherten, standen wir plötzlich vor einem Abgrund. Der Weg endete an einer steilen Klippe mit scharfkantigen Felsen viele Meter oberhalb der Meeresbrandung. Es war ein spektakulärer Anblick und ich war begeistert. Lukas aber hockte sich ganz an die Kante und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen nach unten. Er wandte den Kopf umher, als würde er etwas suchen. Dann erhob er sich und sagte trocken: „Gehen wir zum Museum.“ Auf dem Weg zurück sprachen wir kein Wort.

Als wir das Museum betraten musste ich an einen Bunker denken: die unterirdische Konstruktion, der kalte Stahlbeton, die dunklen Gänge. In den Räumen und Gängen standen stumm die Anstaltswärter in ihren weißen Uniformen. Sie überwachten die Besucher, die schüchtern durch den Komplex schlichen und nur manchmal Rufe der Begeisterung ausstießen, wenn sie aus dem düsteren Schatten um eine Ecke bogen und plötzlich in einem strahlend hell erleuchteten Raum standen. Raffiniert angebracht Öffnungen ließen das Tageslicht in manche Räume und auf manche Exponate fallen. Wir schlenderten durch die Räumlichkeit, ließen die Ausstellungsstücke auf uns wirken und ich war noch verwirrt von dem seltsamen Raumgefühl, als wir aus einem Objekt von James Turrell stiegen, als Lukas zu mir sagte, ich solle kurz warten und davon lief. Ich sah ihn erst wieder, als man ihn in ein Büro der Museumsverwaltung trug. Ich erfuhr erst später, als er wieder zu sich gekommen war und wir das Museum verlassen hatten, was geschehen war.

Wir stiegen gerade aus dem Objekt Open Field, da bemerkte Lukas eine Frau, die er für unsere Bekanntschaft aus Herberge hielt. Er wollte sie ansprechen und ging auf sie zu. Doch sie schien zielstrebig ihren Weg zu gehen und beachtete ihn nicht. Sie war alleine. Lukas folgte ihr, doch er hatte Mühe sie nicht zu verlieren. Sie durchschritt die Gänge, als würde sie das jeden Tag tun. Sie benutzte eine Treppe, die in die unterste der drei Etagen des Bauwerks führte. Als Lukas zu der Treppe gelangte, hatte er sie bereits aus den Augen verloren. Er konnte nur noch ihre Schritte hören. Er stieg ebenfalls hinunter in die unterste Etage. Die Schritte waren nun verstummt und andere Besucher gab es dort keine. Es war still. Er war in einem Gang an dessen Decke grüne Rohre verlegt waren. Er folgte dem Gang zu einer Türe die halb offen stand. Er drückte sie auf und dahinter fand er einen weiteren Gang. Er wollte gerade in den Gang eintreten als er etwas auf dem Boden liegen sah, etwas Längliches. Er bückte sich und hob es auf. Er erkannte es nicht gleich, da der Gang nur schwach beleuchtet war. Doch als er es knapp vor seine Augen hielt bemerkte er, dass er ein aus Seide geflochtenes Band für ein Mobiltelefon in seinen Händen hielt. Ruckartig setzte er sich wieder in Bewegung und lief den scheinbar endlos langen Gang hinunter. Er geriet immer mehr außer Atem und Schweiß tropfte ihm in die Augen, während er weiter auf einen schwarzen Fluchtpunkt zu lief, dem er aber nicht näher zu kommen schien. Er wusste nicht, wie lang er gelaufen war, als er schließlich in einiger Entfernung eine Tür erkannte. Völlig erschöpft näherte er sich ihr und sah, dass sie aus demselben grünen Metall war wie die Rohre, die immer noch die Decke entlang liefen. Er lehnte sich gegen die Türe und wollte daran lauschen, doch sein Schnaufen war so stark, dass er nichts hätte hören können. Durch den Spalt zwischen Tür und Boden drang ein Lichtstrahl. Er zog kräftig am Türgriff, weil er erwartete, dass die Tür schwer sei. Doch sie schwang ruckartig auf und Lukas stand plötzlich in einer großen weißen Halle, in der er von einem grellen Licht geblendet wurde. Doch er konnte keine Lichtquelle ausmachen. Der ganze Raum strahlte so hell, dass er die Augen zusammen kneifen musste, um etwas zu erkennen. Die Halle war leer, weiß und glatt. An der Decke liefen die grünen Rohre aus verschiedenen Richtungen spinnennetzförmig in der Mitte zusammen und hinunter in ein quaderförmiges Objekt das im Zentrum des Raumes hing. Von dem Objekt ging ein sonores Brummen aus, das den Boden der Halle in Vibration versetzte. Immer noch nach Luft japsend und geblendet bewegte sich Lukas unsicher auf das Objekt zu. Es war etwa zwei Meter hoch, einen Meter breit und einen halben Meter tief. Es bestand aus demselben Material wie die Rohre die oben hinein liefen. Je näher er dem Objekt kam, desto stärker wurde die Vibration und das Brummen wurde lauter. Ihm wurde übel und schwindelig während er sich langsam näherte. Keuchend und völlig entkräftet erreichte er das Objekt. Es fühlte sich glatt und kühl an und, obwohl davon das Brummen ausging, schien es völlig bewegungslos zu sein. Lukas streckte eine zitternde Hand zu einem Griff an der Vorderseite aus. Das Objekt öffnete sich langsam und das Brummen wurde immer lauter, bis es schließlich zu einem mächtigen Donnern anschwoll. Der Raum erzitterte. Er versuchte das Objekt schnell wieder zu verschließen, doch die Erschütterung und der Donner waren so heftig geworden, dass er schreiend, sich die Ohren zu haltend, zu Boden stürzte und von dem Beben gebeutelt wurde, bis er die Besinnung verlor.

Ich hatte da bereits etwa ein Stunde gewartet, war in den Ausstellungsräumen umher gegangen und hatte schließlich begonnen, die Aufseher zu fragen, ob sie jemanden mit der Beschreibung Lukas gesehen hätten. Doch niemand wusste etwas. Ich versuchte, ihn auf seinem Mobiltelefon anzurufen, doch in dem unterirdischen Bauwerk konnte ich keinen Empfang bekommen. Da gab es einen Aufruhr. Eine Gruppe von weiß gekleideten Aufsehern trug einen Mann, der offensichtlich nicht bei Bewusstsein war. Ich lief zu ihnen und erkannte Lukas. Sie trugen ihn zu den Verwaltungsräumen des Museums und setzten ihn in einem Büro auf eine Couch. Da kam er gerade wieder zu sich. Ein Museumsangestellter reichte ihm ein Glas Wasser. Er nahm es und trank es mit einem Zug aus. Dann starrte er auf den Boden, sagte nichts und sah niemanden an. Der Angestellte fragte ihn, ob er in Ordnung sei. Lukas nickte. Der Mann vom Museum sagte: „Es tut mir Leid, sie sind in einen Raum geraten, der eigentlich verschlossen hätte sein sollen. Der Raum ist noch in Arbeit. Der Künstler experimentiert dort mit Licht und Ton, aber es ist noch lange nicht fertig. Es ist auch ein wenig gefährlich, wie sie gesehen haben und unsere Besucher sollten noch keinen Zutritt haben. Nur der Künstler und seine Mitarbeiter dürfen dort hinein. Es tut mir wirklich sehr Leid, dass sie trotzdem hineingehen konnten. Es sind vor allem die Tonexperimente, die sehr unangenehm sein können. Aber sie haben sich ja zum Glück die Ohren zu gehalten. Sie sollten sich bald wieder erholen. Bleiben sie noch ein wenig hier sitzen und trinken sie noch ein Glas Wasser. Wenn sie möchten holen wir ihnen einen Arzt, wenn sie sich nicht besser fühlen.“ Wir blieben noch ein wenig dort sitzen. Lukas sprach nicht. Er sagte nur nach einiger Zeit: „Gehen wir.“ Ich half ihm auf und stützte ihn für ein paar Schritte, doch er konnte bald wieder alleine gehen, wenn auch nur langsam. Wir gingen zur Busstation und fuhren mit dem Bus zurück zu unserer Herberge. Dort packten wir unsere Sachen und gingen zum Hafen, wo wir auf die Fähre warteten, die uns wieder zurück auf das Festland bringen sollte. Erst jetzt, als wir warteten, begann Lukas wieder zu sprechen. Er erzählte mir, was geschehen war und zeigte mir das Band, das er gefunden hatte. Es sah dem von der Frau aus der Herberge wirklich verblüffend ähnlich. „Denkst du wirklich, dass sie da unten war? Und was war in dem Objekt? Als du es geöffnet hast, meine ich“, fragte ich.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich konnte es nicht genau sehen, weil alles so grell war in dem Raum“, antwortete er.
„Aber du hast doch sicher versucht hineinzuschauen. Deshalb hast du es doch geöffnet“, ließ ich nicht locker.
„Ich weiß nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Sinne funktioniert haben oder ob ich halluziniert habe. Es ist irgendwie absurd, deshalb glaube ich nicht so richtig, was ich gesehen habe. Ich konnte auch nicht lange den Blick darauf richten, bevor ich zusammengebrochen bin, wirklich nur einen Funken, einen Bruchteil einer Sekunde. Aber in diesem Augenblick, als sich das Objekt öffnete und ich kurz sehen konnte, glaube ich, dass ich darin hunderte Mobiltelefone gesehen habe“, erzählte er.
„Das ist wirklich eigenartig. Aber gut, wir wissen nicht, was das ganze einmal werden soll. Ich hab ganz vergessen zu fragen, wer der Künstler eigentlich ist, der das macht. Und glaubst wirklich, dass es die Frau aus unserer Herberge war, die dort hineingehen gesehen hast?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete er und hielt mir sein Mobiltelefon hin, das er eben erst aus seiner Tasche gezogen hatte. Er hatte jetzt, da wir wieder Empfang hatten, eine SMS bekommen und sie war von ihr. Soweit ich das Japanisch verstand, auch wenn es etwas seltsam klingt, sagte sie, dass sie schon früher abgereist seien, weil Naoshima für sie doch ein sehr deprimierender Ort gewesen sei, wo der Tod glatt sei und glänze. So etwa hatte sie es formuliert. Ich reichte Lukas das Telefon und er begann eine Antwort zu tippen. Ich sah auf das Display und las: „Wir haben ihn gefunden.“

 
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Hej Douki

diese Geschichte habe ich mit großem Interesse gelesen und fühlte mich in einem Gemisch aus Murakami und Inoue wieder. Auch habe ich vor längerer Zeit einen Roman gelesen, der von zwei Selbstmördern handelte , die sich in einem Hotel auf einer Insel begegneten. Mir ist der Titel und Autor entfallen. Werde aber sicher den ganzen Tag darüber nachdenken und das Buch im Regal suchen.

Ich kann nicht beurteilen, ob es eine Technik ist, die auf etwas Inhaltliches hinweist, wenn du z.B. Sätze mit immer den gleichen Worten wiederholst.

"Er konnte nur noch ihre Schritte hören. Er stieg ebenfalls hinunter in die unterste Etage. Die Schritte waren nun verstummt und andere Besucher gab es dort keine. Es war still. Er war in einem Gang an dessen Decke grüne Rohre verlegt waren. Er folgte dem Gang zu einer Türe die halb offen stand. Er drückte sie auf und dahinter fand er einen weiteren Gang. Er wollte gerade in den Gang eintreten als er etwas auf dem Boden liegen sah, etwas Längliches. Er bückte sich und hob es auf. Er erkannte es nicht gleich, da der Gang nur schwach beleuchtet war. Doch als er es knapp vor seine Augen hielt bemerkte er, dass er ein aus Seide geflochtenes Band für ein Mobiltelefon in seinen Händen hielt. Ruckartig setzte er sich wieder in Bewegung und lief den scheinbar endlos langen Gang hinunter. Er geriet immer mehr außer Atem und Schweiß tropfte ihm in die Augen, während er weiter auf einen schwarzen Fluchtpunkt zu lief, dem er aber nicht näher zu kommen schien. Er wusste nicht, wie lang er gelaufen war, als er schließlich in einiger Entfernung eine Tür erkannte. Völlig erschöpft näherte er sich ihr und sah, dass sie aus demselben grünen Metall war wie die Rohre, die immer noch die Decke entlang liefen. Er lehnte sich gegen die Türe und wollte daran lauschen, doch sein Schnaufen war so stark, dass er nichts hätte hören können. Durch den Spalt zwischen Tür und Boden drang ein Lichtstrahl. Er zog kräftig am Türgriff, weil er erwartete, dass die Tür schwer sei. Doch sie schwang ruckartig auf und Lukas stand plötzlich in einer großen weißen Halle, in der er von einem grellen Licht geblendet wurde. Doch er konnte keine Lichtquelle ausmachen."

Ich kann mich auf deine japanische Story gut einlassen, obwohl sie beinahe überladen ist mit japanischen Themen, wie Kontrast Moderne: Tradition, Naturbeschreibung (eine aufgehende Sonne war zu viel ;) ), Konflikt junger Paare, Selbstmord. Hab ich was vergessen? Nein, du. Mir fehlt eine schöne Beschreibung zum Essen. :D

Natürlich gefällt mir auch diese leicht surreal anmutende Szene im Museum mit dem gleißenden Licht und den Tönen. Selbst die Übersetzung der alten Dame macht mir nichts aus, als sie durch ihr Haus führt sowie der Hinweis auf die Altersbeweglichkeit (Mann im Badehaus).

Dennoch bräuchte es sicher mehr Zeit für eine wirklich gute, fühlbare Beschreibung der einzelnen Szenen, die mir nichts ausgemacht hätten.
Gerne mehr davon!

Es haben sich kleinere Schreibfehler eingeschlichen, die dir wahrscheinlich beim nochmaligen Lesen finden würdest und korrigieren könntest.

Jā mata ne, Kanji

 
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Hallo Douki,

ich muss direkt sagen, dass ich mich mit Japan gar nicht auskenne und es mir daher zuviele Ortsnamen sind. Aber das ist ja mein privates Problem ;O)

Ansonsten kann ich die seltsame Stimmung dieser Geschichte gut spüren. Ich mag offene Ende. Das ist immer eine Herausforderung für den Leser. Leider muss ich gestehen, dass Du mich am Ende mit mehr Fragezeichen als Ausrufungszeichen allein lässt.

Bsp. Der Alte man vom Anfang.

unweit des Hecks, saß einsam ein alter Mann. Hände und Kinn auf einen Gehstock gestützt, starrte er Richtung Festland. Ich hörte ihn etwas vor sich hin murmeln: „Früher waren alle diese Inseln schwarz...“, glaubte ich zu verstehen
??? Brauche ich die Info für die Geschichte. Auch die Rohre sind für mich schwierig. Die sind im Schwimmbad und in dem Raum? O.k.Der Freund des japanischen Mädels ist tot, aber ist das Ganze ein künstlerisches Selbstmordprojekt, oder ein selbstmörderisches Kunstprojekt, oder bin ich ganz auf dem Holzweg?

Magst Du mir vielleicht weiterhelfen?

Viele Grüße

Xayide

 

Hallo ThomasQu, Kanji, Xayide!

Zunächst mal danke fürs Lesen und Kommentieren.

Ja, die Geschichte hat viele Details und sollte auch rätselhaft sein. Wobei in den vielen Details Antworten versteckt sind. Das scheint, wenn ich eure Kommentare lese, allerdings nicht so recht geklappt zu haben. Erklären möchte ich dazu eigentlich nichts, sondern lieber versuchen es das nächste Mal besser zu machen.
Kanji - als ich deinen Namen das erste Mal gelesen habe, hab ich mir schon gedacht, dass dich die Geschichte interessieren könnte ;)

Liebe Grüße,
Douki

 

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