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24 Minuten
Mein Name ist Stefan Knecht. Ich bin Sachbearbeiter bei Zeus, einer bedeutenden Versicherungsfirma. Heute, am 1. Oktober, soll darüber entschieden werden, wer ab nächsten Monat den Abteilungsleiter ersetzt, der kürzlich gegangen ist. Für alle Beteiligten ist es der wichtigste und größte Tag ihres bisherigen Lebens. Bei aller Spannung, mit der die Entscheidung erwartet wird, bin ich mir bis zum Morgen des betreffenden Tages sicher, dass die Wahl auf mich fallen wird. Doch dann lässt die Intrige eines Kollegen alles aus den Fugen geraten.
Dies ist der längste Morgen meines Lebens.
Alles, was Sie lesen, passiert in Echtzeit.
Die folgenden Ereignisse finden zwischen 7:00 und 7:05 Uhr statt.
„Na Schatz, das ist doch ein ganz neues Gefühl, neben einem frischgebackenen Abteilungsleiter aufzuwachen, oder?“
„Noch hast du den Job nicht, schon vergessen?“
Typisch, Katrin, die Miesmacherin. Gönnt mir nicht die kleinste Freude, ohne sie mit einem überflüssigen Spruch zu garnieren. Und wenn sie gestern die heißeste Nacht ihres Lebens gehabt hätte.
„Schatz, wie oft soll ich es dir denn noch sagen: Der Maihofer frisst mir aus der Hand. Für ihn bin ich der beste Kumpel, den man sich vorstellen kann. Du hättest sehen sollen, wie er mich angeguckt hat, als er mir letztens auf die Schulter klopfte. Als wäre ich sein Sohn. Ich sage dir, der Job ist mir so gut wie sicher.“
Katrin lächelt und beginnt sich anzuziehen. „Da kam gestern ein Anruf, spätabends, weißt du noch? Du solltest besser den Anrufbeantworter abhören.“
„Ja, du hast mich ja ganz schön heftig davon abgehalten, abzuheben.“
Wir grinsen uns verschmitzt an. In solchen Momenten sind alle Ehekrisen vergessen.
Ich drücke den Knopf, um die Nachricht abzuhören.
„Hi, Stefan, du alter Schleimscheißer. Hier ist Frank. Du hast vielleicht geglaubt, niemand könne dich mehr daran hindern, den Job zu kriegen, aber da hast du dich getäuscht. Bisher bist du das liebste Kind vom Maihofer gewesen, aber morgen früh werde ich es sein.
Ich bin um halb sieben bei seiner Villa, wenn er aufsteht. Ich werde ihm Frühstück ans Bett bringen, Hausputz machen und ihm den Rasen mähen. Und die ganze Zeit werde ich ihm sagen, was für ein Glück die Firma hat, jemanden wie ihn als Chef zu haben, und wie wohl sich alle, besonders ich, unter seiner Führung fühlen. Was er für dich empfunden hat, wird auf mich übergehen, und wenn ich dann den Job habe, werde ich auf dich herabsehen und dich auslachen. Mach’s gut und noch viel Spaß in deinem weiterhin armseligen Scheißleben.“
Ich erstarre. Halb sieben. Dieser Schweinehund hat über eine halbe Stunde Vorsprung. Sofort übernimmt der Krisenmanager in mir das Ruder.
„Katrin, mach Frühstück nur für eine Person. Hol den Anzug aus der Wäsche und beeil dich mit dem Bügeln. Es geht um Leben und Tod.“
„Um Leben und ... Was ist überhaupt los?“
„Frank will mir den Job wegnehmen. Katrin, ich brauche jetzt all deine Unterstützung. Ich hol den Wagen aus der Garage. Kümmere du dich um den Anzug.“
Gehetzt nehme ich meine Schlüssel zum Wagen und hoffe, dass Katrin rechtzeitig fertig sein wird.
Die folgenden Ereignisse finden zwischen 7:05 und 7:10 statt.
„Okay, ich bin im Wagen. Katrin, könntest du bei Franks Frau anrufen, um herauszufinden, wer vielleicht noch alles in die Verschwörung eingeweiht war?“
„Stefan, findest du es nicht ein klein wenig übertrieben, jetzt so einen Aufstand ...“
„Katrin, du glaubst nicht, wie wichtig diese Sache ist. Größer, als du dir vorstellen kannst. Wenn es Frank gelingt, die Gunst vom Maihofer zu erschleimen, bin ich weg vom Fenster. Kriegt er den Job, wird er mich auf dem Kieker haben, und die ganzen Spacken in der Abteilung können mich sowieso nicht leiden. Dann ist’s Essig mit der Karriere die nächsten zehn Jahre, wenn nicht länger. Ruf mich zurück, wenn du Näheres weißt. Kannst du nichts aus Franks Frau rausholen, hacke dich in die Navisysteme der Autos aller meiner Kollegen und finde heraus, ob sie in letzter Zeit bei Maihofers Villa gewesen sind.“
Schweigen.
„Katrin, hörst du mich?“
„Ähm, Stefan, ich soll was?“
„Du musst dich in die N... okay, ruf einfach Franks Frau an, ja?“
Ich lege auf und trete aufs Gas. Es geht um Alles oder Nichts. Jede Katze, die jetzt im falschen Moment meine Bahn kreuzt, hat Pech gehabt.
Es ist nicht weit bis zu meinem Ziel. Gleich werde ich Franks erbärmlichen Gebrauchtwagen in der Auffahrt sehen. Das wird mir zusätzlichen Auftrieb geben. Niemand darf an mir vorbeiziehen, dem Geiz wichtiger ist als Geschmack. Ich werde Franks Schmierentheater entlarven, Maihofer die Augen öffnen und ihm zeigen, wer seine Gunst wirklich verdient.
Aber da ist niemand. Nur der große leere Vorhof und die verschlossene Garage. Das ist unmöglich. Im Bruchteil einer Sekunde greife ich zu meinem Handy und verbinde mit unserer Telefonnummer. Niemand meldet sich.
„Verdammt, Katrin, geh endlich ran.“ Irgendetwas läuft hier falsch. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Aber das ist einfach zu billig und nicht Franks Art. Was ist hier los? Ist das ein Ablenkungsmanöver? Gibt es etwas, das ich übersehen oder überhört habe? Irgendeinen versteckten Hinweis auf das, was Frank wirklich vorhat? Schweißgebadet schaue ich in alle Richtungen, als wäre dort irgendwo die Antwort verborgen. Katrin meldet sich noch immer nicht.
Es wird Zeit, den Plan zu überdenken, und zwar schnell. Zurück zur Basis. Hoffentlich hat Maihofer nicht am Fenster gestanden.
Die folgenden Ereignisse finden zwischen 7:10 und 7:15 statt.
Auf dem ganzen Rückweg lasse ich das Handy am Ohr, halb auf das unablässige Freizeichen und halb auf die Straße konzentriert. Wieso geht sie nicht ran?
Plötzlich ertönt das Besetztzeichen. Was soll das? Hat sie den Verstand verloren? Und dann durchfährt mich siedendheiß ein weiterer Gedanke: Hat sie sich überhaupt nicht um das gekümmert, worum ich sie gebeten hatte?
Das Handy fällt mir aus der Hand. Wie besessen trete ich das Pedal durch.
Die Auffahrt kommt in Sicht. Ein Wagen parkt dort, halb verdeckt von den Büschen. Ohne dass ich sagen könnte warum, flammt in meinem Kopf ein Alarm auf. Dann erkenne ich Franks Schrottkarre. Nein, das kann nicht sein!
Ich parke den Wagen quer vor der Einfahrt, springe hinaus und werfe mich verzweifelt gegen die Haustür. Ein heftiger Schmerz schießt durch meine Schulter, als ich zurücktaumele, ohne etwas bewirkt zu haben. Dann fällt mir ein, dass die Tür wahrscheinlich nicht abgeschlossen ist, was sich sofort bestätigt. Ich trete ein. Geräusche von Hektik, leises Gemurmel. Aus dem Schlafzimmer.
Meine unheilvolle Ahnung schlägt in Panik um. Schneller als ich selber denken kann, bin ich zur Tür und habe sie aufgestoßen.
Frank steht da, Oberkörper nackt, Hose kaum zugeknöpft. Katrin mit zerzausten Haaren, kaum in die Hose reingeschlüpft.
„Verfluchter Wichser!“ Frank stürzt unter dem Gewicht meines Körpers aufs Bett. Meine Fäuste hageln unter Katrins hysterischem Gekreisch auf seine Schnöselvisage ein, während meine Beine seine Oberarme festnageln.
„Au, bitte, au, Stefan, es tut mir Leid ... Oooh ...“
„Es tut dir Leid? Es tut dir Leid?“
„Versteh doch ... es ist nichts Persönliches ...“
Meine Faust kracht ein weiteres Mal auf Franks Schläfe.
„So, nichts Persönliches, ja?“
„Es geht nicht um Katrin ... Ich will sie dir nicht wegnehmen ...“
„Was? Wovon redest du da?“
Er presst die aufgeplatzten Lippen zusammen und schweigt.
Mein Zorn ist wie Nebel, der sich langsam lichtet. Es geht nicht um Katrin ...
Ich schüttele ihn durch. „Was hat das zu bedeuten?“
Er schweigt immer noch.
„Katrin, bring die Socken aus der Wäsche her. Die ungewaschenen. Und einen Teller und eine Gabel.“
Sie ist so verwirrt, dass sie sofort tut, was ich sage.
Die folgenden Ereignisse finden zwischen 7:15 und 7:20 statt.
Frank ist zäher, als ich gedacht habe. Im Büro quiekt er laut auf, wenn ein Sessel quietscht, aber das Kratzen der Gabel auf dem Teller kann ich schon bald selbst nicht mehr ertragen, während er weiterhin trotzig das Kinn vorreckt und stumm leidet.
So komme ich nicht weiter.
„Also gut, Frank. Du hast es nicht anders gewollt.“
Er prustet und hustet, als ich ihm meine alten Socken unter die Nase halte.
„Aufhören. Aufhören. Verdammt, das ist es nicht wert.“
„Was ist es nicht wert?“
„Bitte ... nimm ... diese Socken weg. Ich kann ... nicht mehr atmen ...“
„Okay. Nun, was ist?“
„Es war ein Ablenkungsmanöver. Ich sollte ... dafür sorgen, dass du die nächste halbe Stunde mit mir beschäftigt bist, damit du zu spät zur Arbeit kommst. Maihofer soll Thomas zum Abteilungsleiter machen, und ich bin dann sein Stellvertreter und kriege immer gute Beurteilungen. Das war der Deal.“
Ich schaue auf die Uhr und springe auf. Verdammt, fast wäre sein Plan sogar aufgegangen!
„Ich muss los.“
Als ich aus dem Zimmer den Flur entlang renne, kann ich hören, wie Katrin fluchend auf Frank einschlägt.
In Sekundenschnelle sitze ich wieder im Auto und bin mit quietschenden Reifen losgefahren.
Immer wieder sehe ich auf die Uhr. Es ist zwar nicht weit, und ich werde vor Arbeitsbeginn da sein, aber das werden auch Franks Mitverschwörer, weil sie wissen, dass Maihofer immer eine Viertelstunde früher da ist. Vielleicht haben sie ihn schon jetzt am Wickel und quatschen ihn mit irgendwelchem Mist über mich voll.
Ich muss ihn aufklären. Wo ist mein Handy? Es müsste doch noch auf dem Beifahrersitz sein. Nein, es liegt davor auf der Fußmatte. Ich bin auf der Landstraße, die in die Stadt führt. Keiner kommt mir entgegen. Ich beuge mich nach unten und holpere prompt auf den Grünstreifen. Beinahe hätte ich einen Begrenzungspfosten gerammt.
Ich muss anhalten. Der Grünstreifen zwischen Straße und Graben ist schmal. Ein Laster fährt hupend an mir vorüber.
Das Handy ist ausgeschaltet. Seltsam. Ich drücke die Einschalttaste. Nichts. Noch einmal. Nichts. Verzweifelt hämmere ich mit dem Daumen auf der Tastatur herum, aber das verfluchte Gerät bleibt stumm. Es kann doch nicht durch den Sturz kaputt? Oder sind es die Batterien? Was zum Teufel ist los?
Ich schmettere das Handy zu Boden. Wenn ich Maihofer aus dem Lügengeflecht von Thomas, Frank und wer immer sonst noch befreien will, muss ich selbst in der Firma auftauchen, und ich habe schon viel zuviel Zeit verloren.
Ein Mercedes hupt laut, als er mir bei meinem Start links ausweichen muss, und dann noch einmal, als ich ihn überhole.
Das Bürogebäude kommt in Sicht und viel zu langsam näher. Die Sekunden verstreichen im Zeitlupentakt.
Die Parkplatzschranke. Wertvolle Sekunden Verzögerung? Wo ist der Chip für den Automaten? Wo?
Hastig durchwühle ich meine Taschen und das Handschuhfach. Nichts.
Wo habe ich ihn zuletzt abgelegt? In meinem Kopf rasen die Bilder vorüber, aber ich komme einfach nicht drauf. Bestimmt fragt Maihofer Thomas gerade, ob er die Stelle annehmen will.
Panik. Ich kann keine Rücksicht mehr auf Holzschranken nehmen, wenn die Zukunft auf dem Spiel steht. Maihofer wird das verstehen.
Ich setze quietschend zurück und breche durch.
Die folgenden Ereignisse finden zwischen 7:20 und 7:24 statt.
Mein Platz wurde nicht blockiert. Gut. Wahrscheinlich haben sich alle zu sehr auf Frank verlassen.
Ich stoppe mit qualmenden Reifen und renne raus, ohne auch nur die Tür zuzumachen.
Die Firmenniederlassung ist in den oberen drei Stockwerken. Ich hämmere auf den Fahrstuhlschalter ein, als die Kabine zu langsam nach unten kommt, und dann auf den Knopf für die oberste Etage, auch als der Fahrstuhl schon auf dem Weg nach oben ist. Ich glaube zwar nicht, dass er dadurch schneller wird, aber man darf nichts unversucht lassen.
Das große Hauptbüro. Dahinter Maihofers persönlicher Bereich. Thomas tritt gerade aus der Tür.
"Stefan!" Sein Gesicht ist eine einzige Maske aus boshafter Ironie. "Stell dir vor - ich hab den Job!"
Eine eiserne Faust schließt sich in mir zusammen. Die ganzen Strapazen, die Angst, die Mühen, die Gunst des Chefs zu gewinnen - alles umsonst?
Plötzlich ist die Welt in einen roten Schleier gehüllt. Jemand stößt einen bestialischen Schrei aus, dass mir die Kehle brennt, stürzt sich auf Thomas und prügelt auf ihn ein, dass mir die Fäuste schmerzen.
Ein anderer packt mich an der Schulter und versucht mich von Thomas zu trennen. Wahrscheinlich ein Mitverschwörer. Er kassiert einen kräftigen Fausthieb.
"Herr Knecht!" Das ist Maihofers Stimme.
Mein Kopf wird wieder klarer. Thomas wälzt sich am Boden und hält sich die blutende Nase. Ein Stück abseits steht Maihofer, auch er hält sich die Nase.
Irgendetwas ist hier falsch gelaufen ...
"Herr Knecht!" Maihofers Gesicht ist rot wie eine Tomate, und so habe ich ihn nicht mehr brüllen hören, seit er Olaf beim Rauchen seiner Zigarren erwischt hat.
"Gerade hatte ich Ihnen mitteilen wollen, dass ich Sie zum Abteilungsleiter machen werde. Und was muss ich sehen? Sie schreien los wie ein Irrer und schlagen auf Ihren Kollegen ein, bloß weil der einen harmlosen Scherz macht!
Ihren Abteilungsleiterposten können Sie vergessen. Und das hier", er deutet auf sein blutendes Riechorgan, "wird Konsequenzen haben, das verspreche ich Ihnen!"
Dann ist er wieder im Büro verschwunden und lässt mich mit Thomas allein, der immer noch am Boden liegt und anfängt zu kichern. Das Kichern steigert sich zu Gelächter, das Gelächter zu Wiehern, das von den Bürowänden widerhallt, während er mit der Hand rhythmisch auf den Boden klopft.
Eigentlich könnte ich jetzt wieder auf ihn eindreschen, aber ich bin einfach zu sehr damit beschäftigt, dazustehen und mir wie ein Vollidiot vorzukommen.