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80 Prozent Janis

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29.08.2001
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80 Prozent Janis

Das Telefon schrillte, und obwohl sie es ganz leise gestellt hatte, hatte es diese enervierende Penetranz, mit der sich nur Janis anzukündigen pflegte. Ihn erkannte sie immer, irgendwie, an seinem Klingeln. Ein Blick auf das ISDN-Display, ein Blick auf die Uhr, natürlich es war Janis, und natürlich klingelte das Telefon in Wahrheit nicht anders als sonst, aber es war Wochenende, Freitag Abend, und wer außer Janis rief sie da schon an.
Eine leichte Übelkeit befiel sie, die sie achtlos beiseite drängte, weil sie sich lieber darauf konzentrieren wollte, wie oft er es diesmal klingeln lassen würde, und wie lange die Pause wäre bis zu seinem nächsten Versuch, sie, die für ihn Unerreichbare, zu erreichen. 17, 18, 19, 20...
Durch das offene Hinterhoffenster wehten ein paar Zweige in ihre Küche, während die Kaffemaschine im Dämmerlicht leise stöhnte, der Kalk hatte sich in den letzten zwölf Monaten ungehindert abgelagert, weil sie ganz andere Dinge im Kopf hatte als die alte Maschine zu entkalken, und starker Kaffee war sowieso nie verkehrt, wenn man mit Janis zu tun hatte. Sie goß sich gedankenverloren eine Tasse ein, tiefschwarze Brühe, die noch viel stärker war als sonst, ein Großteil des Wassers war längst verdunstet, aber es half wenigstens gegen den Brechreiz.
Draußen auf dem Hof hallte in der Dämmerung, die sich wie eine Drohung über die Stadt legte, das Kreischen einer Mutter gespenstisch wider, aber vom Kind hinter den offenen Fenstern war kein Mucks zu hören. Sie fand das viel unheimlicher, bedrückender, als wenn das „größte Arschloch, das ich je gesehen habe, dich müßte man sofort in ein Heim stecken, warum lebst du überhaupt“, laut und durchdringend zu weinen begonnen hätte, was die natürliche Reaktion gewesen wäre, oder etwa nicht.
Leise regte sich da etwas, nein, nein, das andere Kind, wie alt es wohl war, sie wollte bei der nächsten Gelegenheit einmal darauf achten. Die Mutter, Celine, alleinerziehend , 32 oder so, kannte sie vom Sehen. Und an die Männer, die oft aus Celines Wohnung kamen, konnte sie sich sogar gut erinnern, Südländer waren es, Türken meistens, sehr gutaussehend und immer gehetzt wie auf der Flucht, nur das Kind hatte sie bisher nie bewußt wahrgenommen. Aber vielleicht hatte es die Gabe, sich unsichtbar zu machen, und das wünschte sie ihm. „Unsichtbar und taub und immun und sich am besten unter dem Gewand des Schutzengels verstecken und die Tränen daran trocknen, denn der Himmel wartet, vielleicht komme ich schon früher, dann bist du mich endlich los, Mama, wo ich dir ja immer nur eine Last bin. Und dann hört auch deine Migräne auf und...“ Ein Laut kam aus ihrer Kehle, rauh, ein Schluchzen, gepreßt und doch fast gebellt. Nein, nein, was interessierte sie dieses komische Gör von unten, war ja nicht ihres, und es wird schon was gemacht haben, wenn die Mutter so ausklinkt. BASTA!

21, 22, 23... Das Telefon klingelte weiter ohne Unterlaß. Hartnäckig, das gefiel ihr an Janis, hartnäckig war er bis zur Selbstaufgabe, weil es ihm egal war, welchen Preis er zahlen mußte, um andere dahin zu bringen, wo er sie haben wollte. Sie brachte er immer wieder dazu, Dinge zu tun, von denen sie sich einredete, sie niemals tun zu wollen, so wie neulich, und nun wurde ihre Übelkeit stärker. 28, 29, 30... Sie wußte, daß er gerade durch sein Appartement tigerte, lauernd den Hörer des schnurlosen Telefons zwischen Ohr und Schulter geklemmt, auf dem kurzen Weg zwischen Sessel und Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen oder Eis für den Whiskey aus seiner gut bestückten Hausbar. Einmal war sie dort gewesen. Damals hatte er auch telefoniert, und gelauert hatte er und sie mit alkoholischen Getränken versorgt. Dafür, daß sein Appartement winzig war, hatte er Alkoholvorräte darin, die jede Bar eines 5-Sterne-Hotels in den Schatten gestellt hätten. Edel, hilfreich und gut.
Janis, der selbstverständlich kein Alkoholproblem hatte, „du spinnst ja wohl total“ hatte er sie haßerfüllt angezischt, als sie einmal eine klitzekleine Andeutung in die Richtung gewagt hatte. Dabei war es ihr herzlich egal gewesen, ob sie ihn verletzte und helfen wollte sie ihm damit schon gar nicht, scheißegal, es war nur so, daß sie im Glashaus saß, und da war Vorsicht einfach angebracht. Ihre Masche, sich und andere zu beruhigen, bestand darin, allen Leuten zu erzählen, daß sie ein Alkoholproblem habe, und die ließen sie dann auch schnellstens in Ruhe, weil Co-Alkoholiker das Thema im allgemeinen nicht so gerne vertiefen.
Für jemanden, der regelmäßig viel trank, sah Janis noch ganz gut aus. Sie mochte seinen kleinen, runden und wohlgeformten Hintern, was auch daran lag, daß sie Janis am liebsten von hinten sah, nämlich dann, wenn er sich entfernte. Schleunigst am besten.

Janis hieß eigentlich Johannes, aber bei einer Taufe vor ein paar Jahren, wo er eine ganze Dorfgemeinschaft im Niederbayerischen unter den Tisch gesoffen hatte, bekam er naheliegenderweise und unter Gröhlen, Rülpsen und anderen Ausfällen von den anderen den Spitznamen „Johannes, der Säufer“. Seitdem nannte er sich Janis, ein Name, den sie früher wunderschön fand, ihren Sohn hatte sie einmal so nennen wollen, aber das war, bevor sie Janis kannte, und das würde sie nun ganz bestimmt nicht mehr tun. Und einen Sohn wollte sie auch nicht mehr, auch keine Tochter, eine Tochter schon gar nicht.

Einmal, ein einziges Mal hatte sie mit Janis geschlafen, zumindest hatte sie es versucht. Das war Monate her, an einem dieser verfluchten Freitage. Es war ein Fehler gewesen, natürlich, das hatte sie von Anfang an gewußt. Aber er hatte so friedlich ausgesehen und irgendwie schutzbedürftig, wie ein fast sattes Kind, das noch ein kleines bißchen mehr braucht. So hatte er durch ihren Schleier ausgesehen, den ihr der Alkohol vor die Augen geweht hatte, und der dort flatterte, die Umgebung wunderschön weich zeichnend, sogar Janis. Es hatte sie irgendwie gerührt, ihn so zu sehen, betrunken und dabei friedlich, ausnahmsweise friedlich. Er hatte keinerlei Annäherungsversuche gemacht, sie selbst hatte die Initiative übernommen, weil sie ihn, redete sie sich ein, ein einziges Mal entspannt, ruhig, zufrieden sehen wollte. Die Wahrheit war, daß sie ihn herausreißen wollte aus seinem glückseligen, wohligen Dämmerzustand, der sie zwar anrührte, aber auch verdammt nervös machte. Und als er dann keine Erektion bekam, nach all den hochprozentigen Getränken, war es mit seiner Ruhe schlagartig vorbei. Doch statt zu toben oder sie wüst zu beschimpfen, fing er an zu heulen, wie ein Kleinkind. Es war einfach unerträglich, und sie war völlig verzweifelt, weil sie nicht wußte, was sie tun sollte, damit er aufhörte. Ihr fiel nichts besseres ein als ihre Wohnung zu verlassen und in einer Bar um die Ecke eine schwarze Decke aus Alkohol um sich zu schlingen. Der Schleier war weg, nichts war mehr schön, weich, und als sie ein Bekannter, der sie in der Bar entdeckt hatte, mitleidig nach Hause brachte, war Janis weg. Drei Wochen lang blieb ihr Telefon danach stumm. Freitag für Freitag, das hatte es noch nie gegeben. Und statt sich zu freuen, daß sie endlich ihre Ruhe hatte, vermißte sie Janis so, daß sich alles in ihr zusammenzog.

Angefangen hatte alles damit, daß er ihr ein Tonband vorspielte, ganz beiläufig, bei einem seiner Besuche in ihrer Wohnung, an einem Freitag, spätabends. Sie waren beide nicht mehr nüchtern, aber betrunken waren sie auch längst noch nicht.
Das Zimmer, in dem sie saßen, war dunkel, bis auf die milchigen Strahlen des Vollmondes, der sich über den Dächern von Berlin aufgepumpt hatte und sparsam durchs Fenster leuchtete. Sie hörten eine Kassette von Gabrielle, und sie kämpfte wieder einmal mit den Tränen beim Song Nummer sechs, einer unerfüllten Liebesgeschichte, in der eine Frau meint, nicht mehr leben zu können ohne ihren Liebsten: Over you. Janis stand plötzlich auf und zerfetzte ihre Melancholie, indem er das Tapedeck einfach ausschaltete, frech wie Gassendreck. Und dann legte er eine Kassette ein, die er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, zerkratzt, mitgenommen, sie mußte tausendmal gespielt worden sein, so sah sie aus. Janis drückte den Startknopf und lauerte aus Augenschlitzen auf ihre Reaktion. „Was ist das für eine Scheiße?“ hatte sie verwirrt gemurmelt, als eine Unterhaltung am Familientisch ihren Lauf nahm.
Alleine der Gedanke an damals genügte schon, um sie in heftigen Aufruhr zu versetzen. Erst hatte sie gedacht, das sei ein verdammtes Kinderhörspiel und
gefragt, ob er nicht „Pumuckl“ einlegen könne, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, das jede Sekunde zu entgleisen drohte. Doch dann war sie verstummt,
irgendwann sagte sie einfach kein Wort mehr und verfolgte gebannt die Unterhaltung, in der es um Schulden ging, um Arbeitslosigkeit und um Zusammenhalt, Hoffnung und Zuversicht. Kinder waren auch da, sie sprachen und sie bekamen eine Antwort. Viel, viel später hatte Janis ihr gestanden, daß dieses Band sein schönstes, bestes sei und daß die anderen völlig anders seien, schrecklich, schrecklich vertraut, was ihn selbst anginge, schrecklich vertraut. O Gott, sie wollte gar nicht mehr wissen, und sie wollte auch nicht hören, wie um alles in der Welt er an diese Aufnahmen gekommen war. Sie hatte sich geschämt, diese Unterhaltung zu belauschen, und sie hatte sich gewunden wie ein Aal, weil sie sich nicht von den Stimmen berühren lassen wollte, vor allem nicht von denen der Kinder. Und dann war ihr schlecht geworden, so übel, aber übergeben hatte sie sich nicht, jedoch gelauscht bis zum Ende, das einmal nicht bitter war. Und als Janis an diesem Abend diese Kassette
wie zufällig in ihrem Tapedeck vergessen hatte, hatte sie sich gefreut, denn sie wollte diese Unterhaltung wieder hören, immer und immer wieder, bis sie sie
auswendig konnte, und das war nach dem vierten Mal der Fall.

So war das mit Janis, der sich seine Kicks am liebsten holte, indem er andere Menschen observierte oder belauschte. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, hätte er mit Sicherheit auch Kameras in fremden Wohnungen installiert, das Konzept von Big Brother, der TV-Container-WG in Köln, es hätte von ihm sein können. Komischerweise guckte er sich diese Sendung nie an. „Pah“, grunzte er verächtlich, „wer will denn diese geschnittene Scheiße sehen? Das ist doch nicht das Leben! Das ist, wie sich die kranken Fernsehfritzen das Leben vorstellen, sonst nichts.“
Hätte Janis die finanziellen Möglichkeiten gehabt, er hätte sich in jedem Fall und sofort Kameras zugelegt.
Seine Obsession waren völlig normale Menschen, am liebsten Familien, und ihr Alltag, auf außergewöhnliche Typen stand er nicht, und ihm ging es auch kein bißchen um Sex, obwohl er schon ein Spanner war, ein Lebensspanner eben. Sie fand das völlig krank, abstoßend, widerwärtig, eklig. Warum hatte sie sich da
hineinziehen lassen, sie wußte es nicht, wirklich nicht.

Drei Wochen nach der Sache mit seiner Potenzstörung klingelte ihr Telefon endlich wieder am Freitag. Janis kam gleich zur Sache, denn sie war sofort an
den Apparat gekommen, was gegen die Spielregeln war, aber auf die pfiff sie, weil sie ihn so vermißt hatte: „In deinem Haus wohnt eine alleinerziehende
Mutter, Sally oder so ähnlich, die hat einen 10jährigen Sohn, sie ist die nächste!“
„Nein!“ hörte sie sich stöhnen, „nicht Celine, sie nicht, bitte!“
„Doch, sie oder keine!“
Dann legte er einfach auf. Sie zitterte, biß sich auf die Unterlippe, bis sie den ersten Blutstropfen schmecken konnte, und war völlig durcheinander. Nein, hämmerte
es in ihrem Kopf. Ja. Nein, ich will das nicht hören, nicht Celine, nicht die Türken, nicht das Schweigen des Kindes. Ja. Nein, nicht sie, jede andere, aber
nicht Celine. Ja! Janis wollte sich einfach an ihr rächen. Sie begann leise zu schluchzen, verzweifelt, weil sie wußte, daß sie aus der Sache nicht aussteigen konnte, süchtig wie sie nach den fremden Leben war, nur diese Überdosis Celine würde sie nicht verkraften, das wußte sie auch.

Deshalb ging sie nicht ans Telefon an diesem Freitag. Und auch an keinem Freitag mehr danach. Sie ging überhaupt nicht mehr ans Telefon.

 

schwere geschichte, aber gut. sehr gut sogar, finde ich. intensiv geschrieben, fast so, als hättest du ähnliches erlebt. ich bin jedenfalls nicht mehr vom lesen weggekommen.
einzig der schluss hat mir nicht so wirklich gefallen, wie als würde etwas fehlen, aber vielleicht wolltest du das ja so...
manchmal wirkt eine geschichte stärker, wenn ein entscheidender teil weggelassen wird, habe ich mal gehört...
jetzt habe ich genug qautsch geschrieben aber ich fand die geschichte ehrlich gut.
cornflake
*crunchcrunchknusper*

 

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