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Abgefuckt
„Die Viele-Welten-Interpretation postuliert, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt“, sagte Gustav. „Und für jede Möglichkeit gibt es ein Universum.“
Neben ihm hing Noah. Dieser fragte: „Wovon redest du?“
„Ich versuche, unsere Situation in Relation zu bringen...“, erwiderte Gustav. „Wenn es unendlich viele Universen insgesamt gibt, dann gibt es auch unendlich viele Universen, die noch abgefuckter sind als unseres.“
„Aber auch unendlich viele, die weniger abgefuckt sind“, sagte Noah.
Gustav nickte. „Wenn das stimmt, ist jeder Mensch in jedem Universum sowohl Glückspilz, als auch Pechvogel.“
„Ich finde, wir sind ziemliche Pechvögel...“, entgegnete Noah und hob seinen Blick zur Decke.
Gustav folgte dem Fingerzeig und seufzte. „Ich neige dazu, dir zuzustimmen...“
Sie beide waren erst vor kurzem in diesem spärlich beleuchteten Kellerraum erwacht, die Hände mit Ketten über ihren Köpfen verbunden, die Füße nur so gerade den Boden berührend. Das letzte, woran sie sich erinnerten, war, dass sie gemeinsam durch eine dunkle Gasse gegangen waren. Dann ein pochender Schmerz, und anschließend – nichts.
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir hier sind“, sagte Noah, der die Augen wieder gesenkt hatte. „Wenn meine Frau das hier sieht...“
„Nachdem deine Frau das Konzept genauso ablehnt wie du – und wie ich, wie ich hinzufügen möchte – musst du dir darum wohl keine Gedanken machen“, erwiderte Gustav. „Wir müssen uns damit abfinden. Wir sind hier.“
Noah schnaubte. „Weil du mich überredet hast...“
„Deine Frau braucht das Geld genauso dringend wie meine Kinder. Es geht hier darum, dass wir uns um unsere Familien kümmern, schon vergessen?“ Gustavs Lippen waren zu einem sanften Lächeln gekräuselt. Er entschloss sich, für etwas Ablenkung zu sorgen. „Außerdem, ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass wir gar keine Wahl haben?“
„Natürlich ist mir der Gedanke gekommen“, sagte Noah gereizt. „Irgendwie muss ich ja in dieser Drecksgesellschaft dafür sorgen, dass meine Frau über die Runden kommt...“
„Das meine ich nicht“, entgegnete Gustav gelassen. „Ich rede über die Viele-Welten-Interpretation. Jeder behauptet ständig, die Theorie sei ein Argument dafür, dass der Mensch tatsächlich einen freien Willen hat. Aber was, wenn wir nur in diesem stinkenden Keller hängen, weil schon alle anderen Möglichkeiten vergeben sind? Denk darüber nach: Wenn ich im Restaurant sitze und das Steak bestelle, dann tue ich das womöglich nur, weil ich mich in einem anderen Universum für den Fisch entschieden habe. Wenn das zutrifft, könnten wir weder uns selbst, noch deine ‚Drecksgesellschaft‘ für unsere missliche Lage verantwortlich machen.“
Noah machte einen Gesichtsausdruck, der von großer Abneigung diesem Thema gegenüber zeugte. Dennoch erwiderte er: „Wenn es eine unendliche Anzahl an Möglichkeiten gibt, dann gibt es auch immer eine Wahl.“
„Auf der Speisekarte sind aber nicht unendlich viele Gerichte verzeichnet“, sagte Gustav. „Obwohl die Speisekarte natürlich in jedem Universum anders aussehen könnte...“ Er ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. „Ich denke, es hängt alles davon ab, ob das Universum endlich oder unendlich ist. Wenn es endlich ist, kann es auch nur eine endliche Anzahl von Möglichkeiten geben, oder? In dem Fall...“
„Halt die Klappe!“, unterbrach ihn Noah harsch. „Als gäbe es nichts Wichtigeres, über das du dir Gedanken machen könntest. Sieh nach oben, vielleicht fällt dir dann was ein.“
„Nicht sehr inspirierend“, sagte Gustav. „Ich finde Quantenphysik interessanter als Gliedmaßen.“ Er sah zu Noah, der den Blick verdrießlich erwiderte.„Du bereust es, hier zu sein, oder? Du wärst lieber bei deiner Frau...“
„Wärst du jetzt nicht lieber bei deinen Kindern, anstatt hier zu hängen und darauf zu warten, dass dieser Psychopath durch die Tür kommt, dir die Arme abhackt und dich dann verbluten lässt?“
„Nein. Das wäre paradox. Wenn wir die Viele-Welten-Interpretation mal beiseite lassen, oder auch jeden anderen Denkansatz, der uns einen freien Willen abspricht, dann haben wir uns diese Sache doch ziemlich genau überlegt. Wir sind hier, um unsere Familien zu retten. Daher gibt es keinen Ort im ganzen Universum, an dem ich in diesem Augenblick lieber wäre.“
Plötzlich hörten sie Schritte von außerhalb des Kellerraumes. Immer lauter wurden sie, und als das Geräusch seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, verstummte es. Ein neuerlicher Laut ertönte, diesmal von der Tür. Jemand öffnete das Schloss. Die Tür schwang nach innen auf, und herein trat ein beleibter Mann. Gustav hatte ihn zuvor auf Bildern gesehen, dennoch war er fasziniert von dessen Erscheinung. Große Teile seines Gesichts waren bedeckt von einem ungepflegten Vollbart. Er trug ein feines, schwarzes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, dazu eine Jogginghose. Sein rechter Fuß steckte in einem zerschlissenen Turnschuh, der linke in einem vornehmen Herrenschuh.
Nachdem er seine Gefangenen neugierig gemustert hatte, schloss er die Tür, nahm einen Stuhl und setzte sich ihnen mit verschränkten Armen gegenüber. Er spuckte auf den Boden und räusperte sich. „Seid ihr dumm?“ Nacheinander nahm er sie ins Visier. „Nachts durch eine dunkle Gasse zu gehen und zu erwarten, ihr würdet am anderen Ende heile wieder rauskommen?“
Gustav antwortete gleichgültig: „Ja, wir sind dumm.“
„Hattet ihr keine Angst?“
„Nicht wirklich.“
„Und jetzt?“
„Auch nicht.“
Ihr Peiniger betrachtete erneut Noah und sagte: „Er hat Angst.“ Ein Grinsen formte sich in den Tiefen seines Bartes. „Das kann ich ihm ansehen.“
Noahs Blick traf den des Mannes, aber er erwiderte nichts. Stattdessen ergriff wieder Gustav das Wort: „Ihn irritiert vermutlich, dass sämtliche Arme, die hier von der Decke baumeln, nur noch ihren Mittelfinger haben. Ich muss gestehen, auch für mich ist das kein schöner Anblick.“
„Würde es dir besser gefallen, wenn noch alle Finger dran wären?“, fragte der Mann.
„Bedingt.“ Gustav wunderte sich, dass sein Gegenüber noch nicht zur Tat geschritten war. Aber er wollte sich nicht beklagen. „Wieso haben Sie sie abgetrennt?“
„Meine Art, der Welt den Stinkefinger zu zeigen. Kreativ, findest du nicht?“
„Bedingt.“
Plötzlich erhob Noah seine Stimme: „Ich habe es mir anders überlegt. Ich will gehen.“
Sowohl Gustav, als auch ihr Peiniger sahen ihn überrascht an. „Du kannst nicht gehen“, sprach letzterer. „Ich brauche frische Arme für meine Sammlung. Von meinen ersten Fundstücken ist nicht mehr viel übrig, und ich muss sie ersetzen.“
„Oh, ich bitte dich“, sagte Noah herablassend, „das hier ist bloß Show. Wenn du unsere Arme nicht bekommst, werden sie dir neue zukommen lassen.“
„Sie?“, fragte der Mann. „Wer ist ‚sie‘?“
Gustav seufzte. Hätte er diese Sache doch nur alleine durchgezogen. Aber die Verantwortlichen hatten ihnen eine dicke Bonusprämie versprochen, wenn sie es zu zweit machten. Abgesehen davon, dass dadurch mehr Blut flöße, würden die Zuschauer das Geschehen noch interessierter verfolgen, weil zwei Freunde ein Schicksal teilten. Angeblich wäre dies etwas Neues.
„Na, sie!“, antwortete Noah energisch. „Sie, die uns gesagt haben, dass wir um Mitternacht durch diese Gasse gehen sollen, weil das deine Zeit und dein Gebiet sind. Verstehst du nicht? Das alles hier ist eine Farce!“
„Sei still, Noah!“, sagte Gustav mit zusammengepressten Zähnen. „Du verdirbst noch alles...!“
„Wovon spricht er?“, wandte sich der Mann an ihn.
Gustavs Antwort kam prompt: „Keine Ahnung.“
„Wir werden beobachtet“, erklärte Noah, „von Millionen Menschen, die im Moment in ihren Wohnzimmern sitzen und auf ihren Fernseher starren. In der Decke dieses Kellers wurde eine versteckte Kamera installiert. Sie nimmt alles auf.“
Ihr Peiniger starrte ihn einen Moment lang an, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Gustav. „Ich werde jetzt einen deiner Arme befreien und ihn mir genauer ansehen, damit ich festlegen kann, an welcher Stelle ich ihn abtrennen werde. Bitte wehre dich nicht.“
„Würde mir nicht im Traum einfallen“, sagte der Angesprochene, erleichtert, dass Noahs Worte keine Wirkung zeigten. Der Mann befreite Gustavs rechtes Handgelenk aus der Fessel, krempelte den Ärmel des Pullovers zurück und tastete vorsichtig den Arm ab.
„Es ist wahr!“, beharrte Noah. „Du weißt nichts davon, weil du schon dein ganzes Leben beobachtet wirst. Dir wird eine Welt vorgegaukelt, die nicht mehr existiert, dir und vielen anderen. Die Menschen haben Gefallen gefunden am Blutvergießen. Das Ganze ist wie Big Brother, bloß... pervers.“
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Gustav gelacht. Stattdessen zischte er: „Sei endlich still!“
„Gustav und ich, wir sind an dieser Welt gescheitert. Wir verachten das, was man dir hier antut, aber wir sind arme Hunde. Wir haben kein Geld und müssen irgendwie für unsere Familien sorgen. Deswegen haben wir uns hierfür gemeldet. Jeder, der sich live vor der Kamera abschlachten lässt, erhält einen großen Geldbetrag. Damit können meine Frau und seine Kinder über die Runden kommen. Aber es ist Quatsch, es ist Schwachsinn. Was bringt das alles, wenn wir nicht mehr da sind, um uns um sie zu kümmern? Bitte, lass uns frei!“
Der Mann hatte sich Noah zugewandt, schien aufmerksam zu lauschen. Da bemerkte Gustav, dass ein Hackbeil hinten in der Jogginghose des Serienmörders steckte, und er traf eine Entscheidung.
„Es ist ein Witz“, fuhr Noah fort. „Du bist nur eine Marionette der Medien, ohne freien Willen, und weißt es nicht einmal, und wir sind auch noch bereit mitzuspielen. Für Geld. Wir geben unseren Familien Geld und setzen sie gleichzeitig einem Schmerz aus, der mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Es ist ein Witz. Ich hätte mich niemals dazu - “
Weiter kam er nicht. Gustav hatte sich das Beil geschnappt und es in die Brust seines Freundes gerammt. Knochen splitterten, und Blut spritzte ihm entgegen. Mit einigem Kraftaufwand zog er das Beil wieder heraus, wodurch noch mehr Blut aus dem Körper trat. Noch drei Mal wiederholte er die Prozedur und dachte dabei an seine Kinder. Sie würden zwar ihn verlieren, aber eine Zukunft gewinnen. Mit dem Erlös für seinen Tod standen ihnen alle Wege offen. Wenn Noahs Frau Glück hatte, würde auch sie den Betrag erhalten. Sicher war dies nicht, denn den plötzlichen Sinneswandel ihres Mannes würden die Verantwortlichen womöglich als Vertragsbruch werten. Gustav hatte gehandelt, damit er nicht mit hineingezogen würde.
Als sein Werk vollbracht war, betrachtete er das blutige Beil in seiner Hand. „Ich habe die Arme unversehrt gelassen.“ Dann reichte er es dem Mann und fügte hinzu: „Mach dir nichts draus. Wir alle sind irgendjemandes Marionette.“
Mit argwöhnischer Miene nahm sein Gegenüber das Mordinstrument entgegen. „Ich ziehe es vor, meinen Opfern die Arme abzutrennen, während sie noch leben. Dann sind sie frischer.“
„Wenn du dich beeilst, sind sie noch frisch genug“, sagte Gustav. Sein zukünftiger Schlächter machte sich sofort an die Arbeit, und während Gustav ihm zusah, murmelte er: „Für Universen wie dieses wurde das Wort ‚abgefuckt‘ erfunden...“