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Abweichung

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13.10.2008
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Abweichung

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Karl Wender hatte sein Geheimnis bisher vor den Menschen geheim halten können. Es war nicht immer einfach gewesen. Er wusste, dass er unnormal war. Hinter seinen Ohren wucherten zwei fleischige Beulen, die ihm fast auf die Schulter fielen. Das war es, was die meisten Leute bereits abschreckte. Doch die beiden Dinger verliehen ihm auch die Gabe. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch, der zu so etwas fähig war. Er tat es allerdings nicht sehr oft. Nur heute wieder.
Karl war in die Stadt gefahren, um für die nette Nachbarin, die ihn immer normal behandelte, etwas ‚in Ordnung‘ zu bringen. Sie hatte ihm von ihrem Sohn erzählt. Dass er sich von seinen Freunden in eine fiese Sache hatte hineinziehen lassen. Drogen und Waffen. Sie hatte Angst um ihn. Verständlich.
Also hatte er sich in seiner Lieblingskneipe an seinen bevorzugten Platz gesetzt. In die Ecke. Hier achtete schon lange niemand mehr auf seine Wülste. Als er sein Bier bekommen hatte, nahm er einen Schluck, lehnte sich zurück und ... sah hin!
Das reelle Bild, die Männer an der Theke, die Wirtin, der Raum. Alles verschwamm. Hier und da huschten plötzlich Erscheinungen durch das Bild. Kamen und verschwanden.
Karl sah die parallelen Möglichkeiten des aktuellen Moments. Die hier möglich waren. Und er erkannte, dass dieser Ort stabil war. Sollte er sich zum Eingreifen entscheiden, war es gut, an einem stabilen Ort zu sitzen. Er begann, sich im Geiste aus dem Lokal zu bewegen. Dass war ganz einfach. Er musste nur daran denken. Auf diese Weise bewegte er sich zum alten Hafen, dorthin, wo sich Patrick, der Sohn seiner Nachbarin, öfter aufhalten sollte.
Während er seine Konzentration dorthin lenkte, tauchte an der Theke Bernd Henkel auf. Wurde wieder durchsichtiger und festigte sich dann aber. Er wirkte niedergeschlagen und verwirrt. Bestellte ein Bier und einen Schnaps.
Doch dann stutzte er. Er blickte jemandem hinterher, der einfach durchsichtig wurde. Starrte verwundert auf das zweite Glas Bier, das gerade neben seinem erschien. Und auf die anderen Dinge.
Hätte Karl den Mann gesehen, wie er auf die Schwankungen, die eigentlich nur er sah, reagierte, er hätte die Sitzung sofort beendet.
So aber bemerkte Bernd, nachdem er sich erst einmal beruhigt hatte, dass der Mann in der Ecke der einzige war, der sich nicht veränderte.
Er sah auch, dass Karl wie in Trance da saß.
Bernd gab sich einen Ruck, kam mit seinen zwei Bieren in die Ecke und setzte sich neben ihn. Er bemerkte die beiden Dinger am Hals und wurde endgültig neugierig. Eine Weile sah er noch dem Treiben der entstehenden und vergehenden Wahrscheinlichkeiten zu, ohne zu wissen, was er da beobachtete, dann stieß er Karl an.
Es war schmerzhaft, aus der Konzentration gerissen zu werden. Karl hatte die Möglichkeiten am Hafen abgesucht und tatsächlich einen Strang gefunden, der die Sache mit Patrick bereinigen konnte. Doch jetzt fand er sich plötzlich in der Kneipe wieder.
Und neben ihm saß ein Mann, der ihn ansah und interessiert seine Auswüchse anstarrte. Hin und wieder blickte er hinter sich in den Raum mit den Leuten.
‚Was konnte der wissen?‘, dachte Karl noch ‚Eigentlich nichts‘, da sagte der Mann: “Sehr gut, jetzt ist alles wieder normal!“
Das war es für Karl auf einmal ganz und gar nicht mehr!
„Wie bitte? Ich … ich habe wohl geschlafen“, stotterte er.
„Ja sicher“, höhnte der Andere. „Und ich konnte ihre Träume sehen!?“
Der Mann nahm einen großen Schluck. Hatte der wirklich etwas sehen können? Konnten die Veränderungen, die er sah, am Ende reelle Schwankungen der Wirklichkeit sein? Nein, denn dann wäre er bestimmt früher schon aufgefallen. Aber warum konnte dieser Mann ...? Konnte er überhaupt? Karl war verwirrt und antwortete:
„Meine Träume gehen Sie gar nichts an, und außerdem kann man die natürlich nicht sehen!“
Der Andere lächelte unsicher. In der Mine des Mannes schwang noch etwas mit, dass Karl nicht definieren konnte. „Dann waren das eben keine Träume. Aber was war es dann?“ versetzte Bernd.
Die Frage kam wie ein Schuss.
Karl hatte noch nie darüber nachgedacht, was geschah, wenn er die Stränge der Wahrscheinlichkeiten abklopfte. Bisher war er davon ausgegangen, daß die Veränderungen nur in seinem Kopf sichtbar waren. War das vielleicht ein unbekannter Effekt, der den Mann zusehen ließ? Oder gab es eine Drift, die ihn unmerklich von seiner eigenen Realität forttrieb und seine Veränderungen dadurch von Anderen erkannt werden konnten? Soviele Fragen und der Mann saß da und starrte ihn an. Sein Schweigen musste der als Eingeständnis sehen.
„Nun“, machte er einen weiteren Versuch, „was glauben Sie denn, was Sie gesehen haben? Erzählen Sie doch mal!“
Karl probierte das Psychoanalyse-Spiel.
Doch entweder kannte der Mann den Trick oder er fiel einfach nicht darauf rein.
„Nein, nein. Bei mir läuft zwar momentan nicht alles gerade, aber ich weiß noch, was ich sehe. Und das eben war seltsam, während Sie mit glasigen Augen in die Luft geglotzt haben. Außerdem haben sie diese Dinger da!“
Bernd zeigte mit einer fahrigen Handbewegung auf die Wülste an seinem Hals. Die Bemerkung traf Karl härter als ihm lieb war. Er fühlte sich in die Enge gedrängt. Etwas, das ihm schon lange nicht mehr passiert war. Mehr um sich abzulenken, als um den Kerl herauszufordern fragte er:
„Was war seltsam? Daß ich vom Rauch Tränen bekomme?“
Seine Stimme klang dennoch hart. Aber das war ihm im Moment egal. Der Unbekannte lächelte jetzt nicht mehr, schien aber seine Sicherheit noch nicht verloren zu haben, als er antwortete:
“Schemen halt. Leute verschwanden, kamen, flackerten sogar. Und ich hatte auf ein Mal zwei Gläser Bier. Alles sehr interessant. Finden Sie etwa nicht?“
Er hatte etwas gesehen! Karl konnte es nicht fassen. Wie war das möglich? Ihm wurde klar, daß er viel zu wenig über seine Fähigkeit wusste. Es hatte ihm stets gereicht, daß er sie dann und wann einsetzen konnte.
Aber er wollte sich nichts anmerken lassen, wollte sein Geheimnis nicht einfach so preisgeben. Und er wusste mit einem Mal, wie er es anpacken konnte. Bernds Offenheit war seine Schwäche!
„Und Sie sind sicher, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist?“, versetzte Karl. Er traf damit genau den wunden Punkt. Denn bei Bernd war nicht alles in Ordnung.
Weg war die Überheblichkeit, keine Spur mehr von Sicherheit. Karl nutzte die Überraschung des Mannes, um mit geschlossenen Augen die nächsten Ebenen abzusuchen. Er sah in einer der näheren Möglichkeiten, die damit auch wahrscheinlicher waren, den Mann betrunken an der Theke stehen, gestikulieren. Er wirkte total zerknirscht, irgendwie verloren. Karl glaubte nicht an Schicksal, aber dass er in die Realität dieses Mannes gedriftet war, als er gerade seine Fähigkeiten einsetzte, schien ein Effekt zu sein, der dem Wirken eines solchen verdächtig nahe kam.
Und in Karls Welt, in dieser für Bernd scheinbar besseren Realität, konnte der die Veränderungen, die nur Karl sah, wie in einem Kino mitansehen? Vielleicht ein Nebeneffekt. Karl wusste es nicht.
Er öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines sehr verzweifelten Mannes.
„Ich war sicher, dass …! Es war so real. Ich...“
Er wusste bereits, dass er den Mann nicht einfach ignorieren konnte.
Wenn er sich aus dieser Situation verdrücken würde, bestand die Gefahr, dass der sich doch noch was antat, so wie er sich in seiner Welt aufgeführt hatte.
„Ob Sie’s glauben oder nicht, das habe ich auch manchmal. Muss mit dieser Kneipenluft zu tun haben.“ Er hob sein Glas und prostete Bernd zu.
„Ich heiße Karl.“ sagte er und versuchte ein aufmunterndes Lächeln.
Er müsste die Sache mit Frau Junkers Sohn auch von Bernds Strang aus beheben können, wenn er mit ihm in dessen Welt ging, um ihm zu helfen.
Er würde es auf jeden Fall versuchen.

 

Statt auf Papier, hier!

Hallo zusammen.
Ich hatte diese Geschichte eigentlich für die 42er geschrieben, deren Einsendeschluss jetzt Mitte Oktober ist. Mein Unterbewusstsein hat es fertig gebracht, daß ich den Termin verpasste, das noch einzutüten. Die Knappheit der Geschichte rührt also daher, daß es eine Zeichenbegrenzung gab. Auch glaube ich, daß die Story zu stark fantastisch ist, um sie mit den normalen Geschichten, die für 'Abseitig' (wahrscheinlich) geschrieben werden, zu vergleichen.
Ich hoffe aber, hier auf KG.de kommt diese Kürze durchaus an.
Viel Spass beim Lesen.
Harri G.

 

Kein Problem. Die Sache ist ganz einfach.
Ich habe Koontz noch garnicht gelesen, liegt mir nicht. Insofern bin ich auf jeden Fall dankbar dafür, daß Du mich darauf aufmerksam machst. Ich weiß leider auch nicht, welche Geschichte Du ansprichst.
Davon abgesehen freue ich mich, daß Du meine Geschichte gelesen hast. Danke.

Nur einmal als Erklärung: Ich hatte hier herumgestöbert, und den Aufruf der 42erAutoren gesehen. Das Thema 'Abseitig' hat mich nach kurzem Meditieren direkt zu dieser Geschichte geführt.
Ein bisschen doof, daß dieses Thema auf diese oder sehr ähnliche Art bereits behandelt wurde. Ich vertrau Dir da mal.
Vielleicht lese ich auch mal einiges quer, um zu sehen, was die anderen und besonders Koontz daraus gemacht haben.
Viele Grüße
Harri

 

Hallo Harri!

Na, dann freut es mich, dass du dich hast inspirieren lassen. Ja, zugegeben, ich finde die tausend-Wörter-Beschränkung auch etwas knapp, aber naja, mal sehen, was aus meinem Text wird.
Zu deinem: Erstmal solltest du dir die Regeln zur Zeichensetzung bei Dialogen ansehen. Du hast da die anfängertypischen Fehler drin.
Thematisch: Es gibt sicherlich kein einziges Thema, dass nicht irgendjemand schon vor uns aufgegriffen hätte.
Ich persönlich finde deine Version etwas langweilig. Karl übt also seine Gabe aus, du deutest auch einen Konflikt an, nämlich dass Bernd es mitbekommt und Fragen stellt, aber dann würgst du das schnell wieder ab. Karl stellt eine kritische Gegenfrage und Bernd knickt sofort ein. Zu simpel für meinen Geschmack.
Merkwürdig finde ich auch, dass Bernd Karl gar nicht auf seine angeblich doch so überaus auffälligen Ohrwucherungen anspricht.

Naja, soviel fürs Erste von mir. Willkommen.

Grüße
Chris

 

Hallo Chris!
Bei der wörtlichen Rede hast Du mich kalt erwischt. Denn ich bin immer wieder unsicher, wie ich das machen soll. Kalt erwischt deshalb, weil in nahezu jedem normalen Buch nachgesehen werden kann, wie es geht.
Also an dieser Stelle Danke für die Anregung. Habe da Einiges zu überprüfen.:dozey:
Zum Konflikt zwischen Karl und Bernd kann ich nur sagen, daß ich bei den Rahmenbedingungen den ersten Teil hätte kürzer halten müssen. Wäre dieser Konflikt mein Hauptanliegen gewesen, hätte ich das auch gemacht. So blieb nicht viel Raum. Aber ich stimme mit Dir überein, dass ich da Potential verschenkt habe, das den Charakter der Geschichte geändert hätte.
Tja, Dein letzter Punkt hat mir beinahe rote Ohren beschert, die Wülste durfte ich nicht auslassen. :Pfeif:
Insgesamt also ein großes Dankeschön!
Grüße
Harri

 

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