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Adagio - ein Arrangement vielleicht
Er erwachte gerade aus einem seichten Traum. Die Gegenwart dämmerte ihm aber nicht so grußlos wie sonst. Das Sein war leicht und floss sehr langsam. Es war angenehm innezuhalten. Die Umgebung nahm er erst schemenhaft wahr. Als wolle er sich eine Vorfreude erhalten für den Gedanken, woanders aufgewacht zu sein
Neben ihm lag sie. Er wendete sich ihr zu. Kristin. Eine sanfte braune Düne erhob sich vor dem Weiß der Wäsche. Ein frischer Morgenwind zog durch das leicht geöffnet Fenster. Momente, in denen draußen wenig Autos fahren. Die Sonne wärmt erst ein bisschen. Ein Kiosk wird geöffnet. Die ersten Zeitungen wurden hineingetragen. Er hatte seine Schlagzeile schon - sie lag neben ihm.
- Verliebt.
- Verliebt?
Er legte seinen Kopf auf ihren Bauch und zog ihren Geruch tief ein. Anhalten. Standbild. Er hatte sich auf eine weit schwierigere Situation vorbereitet. Was war mit ihr? Wer war sie? Bloß ein bisschen Gleichgewicht in dieses Gedanken-Wirrwarr bringen, dachte er und sank zurück ins Kissen. Den weitaus drängendsten Gedanken ließ er nur kurz am Bewusstsein. Zum Glück trug er keinen Ring. Natürlich war sie keine Madonna oder ein Engel. Was er an ihr wohl mochte? , begannen seine Überlegungen. Trotz aller Voreingenommenheit hatte es ihm ihr kleines Tattoo angetan.
Sie war schon früh auf dem Stadtteilfest gewesen. Bekannte wurde begrüßt, Kinder begutachtet. Mit ihrer Freundin Aysche wurde die internationale Frauensolidarität heraufbeschworen. Gab es Neuigkeiten? Unablässig durchforstete sie die Menschengruppe. Eine Art automatisierte Wahrnehmung hatte sie sich angewöhnt. Kam da nicht der Richard? Richie nannten ihn viele. Sie hatte ihn neulich beim Türken gesehen.
Aysches Stimme versank kurz im Hintergrund. Was war das Anziehende? , fragte sie sich. Warum sollte er mehr sein als nur eine soziale Bezugsgröße. Scheiß Job! schoß es ihr bei diesem letzten Gedanken in den Kopf. Jetzt hatte er sie gesehen. „Aysche – wie wär´s mit einem kleinen Ortwechsel?“
„Oh- haben wir was entdeckt?“ Je länger sie befreundet waren, desto weniger Geheimnisse konnte sie haben.
Etwas später sah sie ihn wieder. Ihre Offenheit gewann Überhand. Und er holte ihnen beiden Prosecco. Schnell trafen sie eine stille Übereinkunft und sie sahen sich überrascht dabei zu.
- Warum auch nicht? , dachten beide. Und weitaus früher als erwartet verließen sie das Fest.
Sie hatten einige sogenannte Bekannte gemeinsam. Lockere Verbindungen. Es war nichts Überraschendes zu erwarten. Auch emotional kalkulierbar. So schien es ihr zunächst. Doch jetzt, wo er neben ihr lag, drängte eine alte Vorahnung hoch, dass da was passiert, dem sie schon manches Mal wie eine Unbeteiligte zugesehen hatte. Wollte sie sich wieder so verlieren? Alte Strickmuster. Kratzig. Verlieben? Dieses verdammte Gefühl. Nein – das konnte nicht sein. Nicht jetzt. Schon nach dieser kurzen Zeit? Oder sollte sie jetzt einfach aufwachen? Spielend hätte sie das gekonnt.
Sie hatte sich die letzten Wochen einen aufregenden Sommer vorgestellt - als Single. Schließlich hatte sie jetzt einen frischen Ex. Zwei Fußballweltmeisterschaften waren genug. Ausgelebt, abgelüftet – entliebt. Aber – war es etwa jetzt nicht aufregend? Das, was sie wollte? Diese aufgewühlte Klarheit war erfrischend. Ihre Hand war schon wieder auf der Reise zu ihm. Wie soll es jetzt weitergehen? Einfach nur spüren. Abschalten. Und sie drehte sich leicht zu ihm hin.
Ein paar Autos fuhren indessen vorbei und das Poltern von Tonnen auf dem Gehweg war zu hören.
Es ärgerte ihn, wie er selbst nicht ohne Stolz feststellte, wie sie es genoss. Er glitt hinauf, dorthin, wo die Haut zarter wurde. Das Düne hinab, talwärts. Eine leichte Steigung.
Es war so selbstverständlich gewesen, sie einfach anzusprechen. Sicher - sie hatten sich schon einige Male gesehen, aber eher beiläufig. Dennoch hatte er ihren Namen erfahren, den er anfangs häufiger als sonst bei der Anrede benutzte.
„Guten Morgen Kristin.“
Und dabei betonte er zum zweiten Teil ihres Namens mehr ein Erstaunen - ja, vielleicht auch etwas Bewunderndes. Plötzlich spürte er aber eine gewisse Distanz. Die Gefühle könnten ihm entgleiten. Der kurze Schlaf hatte die Wirklichkeit verblassen lassen. Nicht viel, aber groß genug, um sich orientieren zu müssen. Dies zu bedauern – hätte es nicht etwas Erleichterndes?
Und ihr ging es nicht viel anders. Dennoch spielten die beiden mit dem Gedanken, eine Situation zu beschwören, in der die vergangene Nacht nicht normal gezählt werden durfte. Zu viel getrunken hatten beide nicht. Trotzdem einen Joker zum Ziehen bei zu viel Nähe. Und so sprachen sie dann auch darüber. Vertraut scherzend. Etwas kokett. Ein Kuss. Ja – vielleicht wäre das so ein Moment, wo die Welt ganz kurz stehenbleibt. Und sie kamen sich dabei wieder so nahe, dass sie eine leichte Müdigkeit überfiel.
An Schlaf war jetzt einfach nicht zu denken. Er konnte jetzt nicht einfach schlafen. Es wäre sicher gegangen. Schließlich war es noch früh. Und er stand behutsam auf.
Inzwischen war er in die Küche gelangt. Sollte er jetzt vertraut nach ihr rufen? Nein – sie schlief sicher jetzt. Die Kaffeemaschine war sein Anker. In den Dosen daneben suchte er den Kaffee. Dann sah er sich in der Küche um: Dies und das eben. Ein Bild. Sie mit Hund – offensichtlich in einem Garten, blühender Rhododendron. Das Haus im Hintergrund mit gelbem Klinker.
- Bei ihren Eltern. Zuhause.
Programmhefte, Stadtteilmagazine auf einem großen Holztisch. Die doppelten Glastüren gingen zu einem Balkon, der ebenfalls verglast war. Ein charmanter Altbau. Ein mit Post und Prospekten überhäufter kleiner Tisch teilte sich in der einen Ecke den Platz mit einem großzügigen Korbstuhl – anscheinend zum Lesen. Daneben einige Bücher auf einem schönen Holzregal. Kein IKEA, stellte er mit Zufriedenheit fest. Gemütlich. Auch ein paar Pflanzen. Die Kaffeemaschine gab erste blubbernde Geräusche von sich.
Für sie war das Verrücken des Geschehenen selbstverständlich erschienen im ersten Moment. Obwohl sie nicht betrunken gewesen war. Im Gegenteil. Hatte er das nicht gemerkt? Nun sträubte sich etwas in ihr. Mit dieser kleinen Unwahrheit konnte sie sich zwar in Unverantwortlichkeit fallen lassen wie ein Artist in das gespannte Netz. Dennoch schien es ihr, als ob sie sich selbst damit verletzte. War das notwendig? Einen Moment verlor sie sich darin.
Sie fühlte sich doch sehr wohl mit ihm.
- Was er jetzt wohl tut?
Er saß kurz am Tisch, dann stand er wieder auf. Unruhig. Er suchte nach etwas Persönlichem hier in der Küche. Er sah die vielen kleinen Zettel am Kühlschrank. In der gedämpften Ruhe der Wohnung hörte er sie dann aus dem Bett steigen. Eine Zwischenzeit nahm ihn gefangen. Sollte das jetzt sein Leben werden? Plötzlich klang leise Musik von drüben. Ihre Schritte tapsten über den Flur. Jetzt stand sie hinter ihm. Sie umarmte ihn leicht. Er spürte ihren warmen Körper.
„Warum bist denn aufgestanden?“
„Ich weiß nicht.“ Und nach einem kurzen Moment drehte er sich um: „ Trinkst du mit mir jetzt einen Kaffee?“
„So früh? Komm, wir gehen wieder schlafen.“
Von Draußen drang etwas Metallisches hoch. Obstkisten, die auf ein Gestell gehoben wurden. Er kaufte hier unten im Laden oft ein, wenn er von der Arbeit kam. Nur ein paar Häuser weiter als er wohnte sie also. So saßen sie dann Momente später im Bett und tranken Kaffee zusammen. Sie nahm dann aber nur einen kleinen Schluck und gähnte. Er fand, dass sie wunderschön aussah. Und sagte nichts.
Später stand er wieder auf und drehte leise die Musik herunter, bevor er ausschaltete. Er nahm seine Sachen und ging auf den Balkon. Stimmen aus dem Hinterhof drangen zu ihm hoch. Ein Hund bellte irgendwo. Zunächst schaute er unschlüssig auf den weißen Zettel. Er überlegte noch einen kurzen Moment, bevor er schrieb. Als er angezogen war, nahm er ein Bild vom Kühlschrank, das mit einem Magneten befestigt war. Dann verließ er die Wohnung. Er wartete nun. Alles andere würde sich klären.
Als sie aufwachte, war sie allein. Sein Geruch war noch wahrnehmbar. Sie schloss wieder einen kleinen Moment die Augen. Straßengeräusche. Sie stand auf, drückte das Fenster leicht zu. Der Verkehr hatte zugenommen. Später Vormittag. Oder war es schon Mittag? Jedenfalls begann ein herrlicher Sommertag. Eigenartigerweise fühlte sie sich nicht verlassen. Nein, egal war es ihr nicht. Aber es war gut so - jetzt. In der Küche dann fand sie seinen Zettel: „Ich möchte dich wieder küssen.“ Und seine Nummer stand darunter. Als sie sich umdrehte, sah sie die Lücke auf dem Kühlschrank.
Sie lächelte.