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Adebar und Benjamin
Was war nur aus ihm geworden?
Sein ehemals schneeweißes Federkleid war zerfleddert; seine Flügel hingen schlapp herunter. Auch seine sonst so majestätischen Stelzen hatten ihr leuchtendes Orange verloren.
Warum hatte er sich das angetan? Er war schon seit einigen Jahren in Rente. Nur heute gab er dem Bitten seiner jüngeren Artgenossen nach, doch noch einmal einzuspringen als Geburtshelfer.
„Nun gut“ dachte er. „Bring ich den kleinen Benjamin unters Volk.“ Er fischte dieses dralle Bürschchen aus dem Teich, hüllte ihn in eine Windel und verknotete sie fachmännisch. Adebar hängte die kostbare Fracht über seinen Schnabel und begab sich in die Lüfte. Der Weg sollte nach Norden gehen.
„Sand und Wasser“ dachte er, „was gibt es Schöneres für solch einen kleinen Hosenscheißer?“
Benni quietschte vergnügt, blinzelte über den Rand seiner Behausung und ließ seinen Schnuller rotieren.
In der Nähe des Strandes sah Adebar eine Neubausiedlung. Die knallrote Rutsche auf einem der Grundstücke zog ihn magisch an. Auch roch es hier so lecker nach Milchbrei. Der König der Lüfte machte sich zum Anflug bereit. Als er auf dem sattgrünen Rasen landete, kam ein Familienvater angestürmt.
„Nein, bitte nicht bei uns. Wir haben schon ein Kind und Kindergartenplätze sind knapp…
…übrigens arbeitet meine Frau und das Haus war teuer und…“ stotterte er.
Adebar blieb das Klappern im Schnabel stecken. So etwas hatte er während seines ganzen Geburtshelferlebens noch nicht erlebt. Ohne zu antworten stellte er seine Schwingen in den Wind und hob ab. Der Familienvater blickte den beiden erleichtert nach. Als aus der Windel der kleine Ben mit seinem Schnuller herauslugte, tat es dem jungen Papa anfangs Leid, so schroff reagiert zu haben. Benni hob sein rechtes Patschehändchen und streckte dem Küchenschürzenträger seinen Mittelfinger entgegen. Dieser holte tief Luft und verschwand flugs hinter seiner weißen Plastik-Terrassentür.
Adebar staunte nicht schlecht. Auch an dieser jungen Brut war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen.
„Versuchen wir´s im Osten“ dachte er und träumte mit knurrendem Magen von Fröschen und Molchen. Nach einer Weile waren sie am Ziel. Mit Heißhunger stürzte er an das seichte Ufer eines Teiches. Benni zappelte in seinem Beutel und bat um Freiheit. Adebar legte das Bündel ab und ließ den Racker am seichten Ufer patschen.
An diesem idyllischen Plätzchen hatten sich bereits ein paar Artgenossen niedergelassen und schnäbelten freudig, als sie einen weiteren Plauschpartner entdeckten.
„Hallo Freunde!“ klapperte der Neuankömmling. „Was für ein schöner Platz! Genau das Richtige für meinen kleinen Benjamin!“
„Da täusch dich man nicht. Frösche gibt´s hier ja genug, aber sieh dich doch mal um. Alles ausgestorben. Die jungen Leute sind weggezogen. Gibt keine Arbeitsplätze.“ Benjamin schüttelte mit dem Kopf. Nein, hier wollte er auch nicht bleiben. Er streckte den rechten Daumen in die Luft und gab seinem geflügelten Stelzenläufer den Auftrag, erneut die Reise anzutreten.
Nun ging`s in den Süden. Das Rauschen der Gebirgsbäche drang an sein Ohr. Nahe eines Gipfelkreuzes ließen sie sich nieder. Hier trafen sie auf eine Gruppe Männer und Frauen.
Adebar und Benjamin sahen ihnen erstaunt zu. Welch ungewohntes Treiben. Adebar liebäugelte mit einer Frau, die in Männerkleidern steckte.
„Nein, nein, um Gottes Willen! Nur kein Kind! Was wird dann aus meiner Karriere?“
„Was treibt ihr denn hier?“ fragte Adebar neugierig.
„Survival-training für Manager!“ antwortete keuchend ein Teilnehmer zwischen zwei Liegestützen.
„Nichts wie weg!“ sagte sich Adebar und machte sich erneut auf den Weg. „Was tun?“ fragte er seinen Schützling. Doch von Benjamin kam keine Antwort. Ihm gefiel das Gleiten durch die Lüfte. Was sollte er auf der Erde anfangen?
Adebar wurden die Flügel lahm. Er nahm Kurs auf seinen Ausgangspunkt und suchte seine jüngeren Kollegen auf.
Welch aufgeregtes Klappern, als diese den alten Meister mit Benjamin im Schnabel erblickten.
„Was ist passiert? Warum hast du ihn nicht abgeliefert?“
„Ihr habt gut Reden. Vorbei die Zeiten, als ich von den Menschen begrüßt wurde mit
„Storch, Storch bester, bring mir eine Schwester, Storch, Storch guter, bring mir einen Bruder.
Unerwünscht war ich an allen Orten. Ich kann nicht mehr.“
Der große Storchenrat wurde abgehalten. Man fand keine Lösung.
Wenn ihr heute irgendwo Störche entdecken solltet, seht genau hin. Vielleicht ist der kleine Benjamin dabei und platscht im seichten Wasser.