Alkohol, du böser Geist
Er ging auf sie zu, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Sie ließ sich das alles gefallen, beide lachten und waren glücklich. Wogegen eigentlich auch nichts einzuwenden wäre, aber er war MEIN Freund, was ihn jedoch in dieser Situation nicht sonderlich zu interessieren schien. Ich stand nur da, nicht allzu weit von ihm entfernt, und beobachtete die beiden. Ja, er hatte getrunken, doch ist das eine Entschuldigung dafür, sich derart unkontrolliert zu benehmen? Jetzt machte er schon den ganzen Abend mit diesem Mädchen rum, und ich stand da und beobachtete alles. Christian stellte sich neben mich und fragte: "Alles okay mit dir?". Ich nickte. "So hab ich ihn noch nie erlebt.", entgegnete ich. "Du darfst das alles nicht zu ernst nehmen.", redete er mir zu. "Oh, das tue ich nicht. Weißt du, ich selbst nehme es mit der Treue ja auch nicht so groß. Aber ich habe bisher immer Rücksicht auf ihn genommen. Ich wollte ihn nie kränken, und deshalb war es für mich nie ein Thema, mit anderen Jungs rumzumachen. Aber wenn ich das jetzt so sehe... Weißt du, ich kann es ihm nicht verbieten, und ich will es auch nicht, denn er ist ein freier Mensch. Er hat seine eigenen Rechte, aber wenn er sie sich nimmt, dann kann er von mir auch nichts anderes erwarten." Ich leerte mein Glas, stand auf und ging weg. Christian schaute mir mit besorgter Miene nach. Ich ließ beide hinter mir, ging einfach geradewegs auf einen Jungen zu, setzte mich zu ihm und redete mit ihm. "Warum sitzt du allein hier? Bist du nicht hergekommen um dich zu amüsieren?". "Das sind wir doch alle, oder nicht? Aber du siehst auch nicht gerade glücklich aus. Was ist passiert?". "Wir sind alle freie Menschen. Was ist daran verkehrt?", war meine einzige Antwort. Ganz unbewusst schwenkte mein Blick hinüber zu Arbo, der sich noch immer prächtig amüsierte. "Oh, verstehe", entgegnete der Junge neben mir. Und ich fühlte eine tiefe Trauer in meinem Inneren, als ich sah wie er sie küsste. Küsse können viel über einen Menschen sagen. Er küsste sie weder leidenschaftlich, noch scheu oder verliebt. Er tat es einfach, weil ihm danach war, weil er eben ein bisschen zu viel getrunken hatte. "Marcus", sagte der Junge. Ich wendete mich wieder ihm zu. "Marcus, das ist mein Name". "Evelyn", entgegnete ich mit leiser Stimme. "Hast du vielleicht Lust ein wenig raus zu gehen?", fragte mich Marcus. "Natürlich, warum auch nicht", meinte ich, und wir brachen auf zu einem langen Spaziergang, der fast die halbe Nacht zu dauern schien...
Ich öffnete die Tür zum Lokal, lachte über das ganze Gesicht, und betrat den Raum, in dem es noch immer unwahrscheinlich laut zuging. Arm in Arm mit Marcus lief ich auf die Bar zu und bestellte mir noch einen Feigling. Nach drei weiteren dann fiel mir schließlich Arbo ein, der sich inzwischen mit Patricia, so hieß die werte Dame, in eine Ecke zurückgezogen hatte und mit wilder Knutscherei beschäftigt war. Doch da ich an diesem Abend schon 13 Schnäpse intus hatte, berührte mich das nicht mehr ganz so stark wie zuvor. Ja, auch ich war nun gut angeheitert, und hatte damit nicht die geringsten Probleme. Ich beugte mich zu Marcus vor, der noch etwas nüchterner war als ich, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mich überkam plötzlich ein unwahrscheinliches Verlangen nach ihm und ich wollte mich um jeden Preis mit ihm in eine Kammer oder ähnliches absetzen. Arbo schaute mich an, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde ich sagen, konnte ich einen ganz kleinen Hauch von Eifersucht in seinem Gesicht erkennen. Aber er hatte mir vorhin deutlich seine Meinung zu all dem gezeigt, und ich stand auf, um gleich darauf mit Marcus in einem der Nebenräume des Lokals zu verschwinden...
Es war geschehen. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass ich mit Arbo ausgehen und mit einem anderen Jungen den Abend verbringen würde. Er hatte es nicht soweit kommen lassen. ER nicht. Aber ich. Ich denke, ich bin einen Schritt zu weit gegangen. Denn auch obwohl Arbo betrunken war, war er dennoch imstande, im richtigen Moment "nein" zu sagen. Ich tat das nicht. Ich konnte ihm danach nicht mehr in die Augen blicken. Wir haben nie darüber geredet. Immer haben wir offen miteinander geredet, aber nie darüber. Denn auch obwohl er mir ausreichend Anlass bot, eine solche Tat zu rechtfertigen, habe ich nicht "nein" gesagt, als ich dies hätte tun müssen.
ENDE