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Als das Abstrakte sichtbar wurde
„Das war verdammt knapp, letztes Mal. Bist du dir sicher, dass du heute wieder willst? Haste nicht die Hosen voll?“, grinste Frank und wippte mit seinem Fuß zum Beat. Er nahm einen großen Schluck seines Schwarzbiers.
„Ach, halt’s Maul. Das war nicht lustig.“
„Was denn? Ist ja nochmal gut gelaufen. Ich meine, der Typ lebte ja noch, als wir nach ihm geschaut haben. Der stand nur unter Schock, glaub mir. Hat ja nicht mal die Tür aufgekriegt, völlig durch den Wind war der. Die Karre tat mir aber mehr Leid, die ist reif für’n Schrottplatz. Stell dir vor, was da die Reparaturen kosten! Zum Glück sind wir abgehauen. Du solltest froh sein, hast ja keine Versicherung.“
„Ja, da haste recht. Aber darum geht’s jetzt nicht, Mann. Ich hab ein total schlechtes Gewissen. Der Typ ist voll ausgerastet, hat herumgebrüllt wie ein Irrer. Ich hoff, der hat das verkraftet. Falls der Krankenwagen gekommen ist, mussten die den Typen bestimmt erst mal runterfahren.“
„Er hat ja auch geblutet wie ‘ne Sau, da isses klar, dass man durchdreht. Stell dir mal vor, du wärst über den Haufen gefahren worden. Du hättest geheult wie ‘n kleines Mädchen. Und jetzt komm mal n‘ bissel runter, wir passen ab jetzt auf, okay? Wir machen das nicht mehr in der Stadt, versprochen.“
Frank stellte das leere Bier auf den Tresen. „Also mach dir ma‘ nicht in die Hose. Wir sollten bald los, jetzt regnet‘s nicht mehr. Da können wir wieder ohne Verdeck fahren. Lass uns aber zuerst noch was tanken, was meinste?“
„Was willste denn?“
„Auf jeden Fall kein Bier mehr. Whiskey wär nicht schlecht. Hol doch ma ‘ne Flasche.“
Ich wankte durch die Menschenmasse und lief hinter die Bar, um den Alkohol zu holen. Das geht klar, wenn man den Barkeeper kennt. Doch diesmal zog er mich zu sich ran.
„Du bist schon total voll, Alter. Mach lieber mal ‘ne Pause und trink 'n Glas Wasser.“
„Tu doch nicht so, Jan. Ist doch nur ‘ne Flasche. Ich trink die auch nicht alleine, die ist für mich und Frank, also fahr mal ‘nen Gang runter.“
„Aber danach kriegste nix mehr, verstanden?“
„Wusst‘ ich’s doch. Ich liebe dich, Mann.“
Ich drängte mich durch die Menschenmenge zurück zu Frank. Mir war schwindelig.
„Hier haste den Fusel.“
Frank öffnete den Whiskey und nahm paar kräftige Schlucke. Dann reichte er mir die Flasche. Ein warmer Nebel breitete sich in meinem Magen aus.
„Das war aber echt nicht korrekt von uns, Frank. Der Scheiß macht mich fertig, ich hab‘ sogar Probleme zu pennen wegen dem Typen. Wir hätten uns nicht einfach so verpissen sollen. Der sah echt übel aus. Was, wenn der abgekratzt ist?“
„Komm mir nicht so, Mann. Du weißt genau, dass wir keine Wahl hatten. Wir haben keine Kohle für so ‘ne Scheiße. Und dem Typen ging‘s gar nicht so schlecht, du übertreibst doch. Der lebt bestimmt noch, das sag ich dir. Sein Gesicht sah recht krass aus von dem Blut, aber das könnte viel schlimmer sein. Hundertmal schlimmer, glaub mir. Denk mal an die armen Kinder in Afrika. Und denen hilft keine Sau. Da soll sich der Typ also nicht so anstellen, der Gute.“
Wir lachten.
Jeden Samstag wurden wir zu Göttern. Es war nur für Augenblicke, doch sie bedeuteten uns alles. Bisher fühlte ich mich immer, als wäre ich auf einer Suche nach irgendetwas. Wonach, wusste ich nicht. Mir war nur klar, dass ich es noch nicht gefunden habe. Jetzt habe ich habe den Verdacht, dass da gar nie was war, wonach ich suchte. Es war bloß dieses Gefühl des ewig Suchenden, diese Motivation die immer antreibt und nie aufhört. Und die hat mich fertiggemacht. Mir ist nun klar, dass der Suchende ein Irrender ist. Und auch, dass das Ziel nie etwas Dauerhaftes ist. Ich meine, ich war in meinem Leben noch nie zufrieden. Niemand ist zufrieden, egal wie die Umstände sind. Die Unzufriedenheit lässt sich nur kurzfristig befriedigen. Dann kommt sie wieder und trifft jeden mit genau der gleichen Wucht. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, wer du bist oder wieviel Geld du hast. Das ist das Krasse daran. Die Unzufriedenheit macht jeden fertig, sie entspringt nur verschiedenen Dimensionen. Ein Bettler hat nichts zu beißen und ein Millionär sehnt sich nach der Anerkennung seines reicheren Nachbars. Das Schlimme ist, dass es den beiden dabei gleichermaßen dreckig geht. Das ist mein Credo. Doch vor einigen Wochen habe ich mit Frank einen Weg gefunden, diese ständige Unzufriedenheit für eine kurze Zeit loszuwerden. Ich habe erlebt, wie es sich anfühlt, nichts zu wollen, einfach zufrieden zu sein.
„Hier musste links fahren, dann kommst du auf die Autobahn.“
„Was ist, wenn heute wieder sowas passiert?“
„Jetzt hör doch endlich auf, Mann. Mach dir keinen Kopf wegen dem Alten. Dem geht’s prima, ich sag’s dir. Dem würde vor Lachen einer abgehen, wenn er wüsste, was du wegen ihm für eine Fresse ziehst.“
Ich schwieg.
„Außerdem war das Gefühl doch hammergeil! Es war doch genau wieder so wie immer. Wie wir es gewollt haben. Es funktioniert jedes einzige Mal, also was ist dein Problem?“
„Das ist es ja, Frank. Das letzte Mal war eben nicht wie immer. Es war besser. Das ist doch genau der Punkt, Mann. Der Unfall hat mich total geflasht. Das letzte Mal, das war was Stärkeres. Und es war schön, auf eine Art, weißt du. Total krank.“
Frank lachte und reichte mir die Flasche. Ich trank und spurte auf die Autobahneinfahrt ein.
Ich habe nie verstanden, wie man auf Bungee-Jumping abfahren kann. Diese konstruierte Gefahr ist was für Idioten. Der Körper wird gequält und dabei gibt‘s nicht einmal den Hauch eines Risikos. Das ist pure Selbst-Verarschung. Man springt mit der Gewissheit in den Abgrund, dass man ihn überleben wird. Wozu dann noch springen?
Was ich und Frank machen, ist kein Scheiß Bungee-Jumping. Bei uns gibt es weder Seile noch Sicherheitsgurte. Und das Wichtigste: Es gibt keine Gewissheiten. Das ist was Echtes. Das Intimste, was es gibt. Nur der Rausch, die Geschwindigkeit und der Tod. Ich habe gelernt, dass man das Leben nur in den Momenten spüren kann, wenn der Tod gegenwärtig ist. Das tönt total gestört, aber ohne den Tod gibt’s kein Leben, so einfach ist das.
Und jedes Mal, wenn ich und Frank zusammen gefahren sind, habe ich die Dinge irgendwie anders wahrgenommen als sonst. Das liegt nicht am Alkohol, den Fusel braucht man nur, um den Mut aufzubringen, in die Karre einzusteigen. Während der Fahrt fängt man an, über jeden Scheiß nachzudenken. Ja, ständig habe ich mir über unwichtige Kleinigkeiten den Kopf zerbrochen. Und sie haben mir in diesen Momenten immer die Welt bedeutet. Wenn es sowas wie Wunder gibt, dann muss das eines sein, da bin ich mir ganz sicher.
Der Nadel des Tachos schnellte nach oben. Dann verharrte sie am Anschlag. Sie zitterte. Wir fuhren geradeaus, immer nur geradeaus. Die perfekte Strecke.
„Mann, ist das geil!“, schrie Frank und hielt die Hände nach oben. Ich nahm noch einen kräftigen Schluck Whiskey und hielt mit der anderen Hand zitternd das Lenkrad. Mein rechtes Bein drückte das Gaspedal durch, doch ich spürte es nicht mehr, es war taub geworden. Das Aufheulen des Motors beruhigte mich langsam und meine Hand entspannte sich, mir wurde warm.
Ich war wie hypnotisiert. Der Mittelstreifen schnellte unter die Motorhaube. Die einzelnen, kurzen Striche verschwammen zu einer weißen Linie. Sie war transparent und doch irgendwie klar, und sah aus, als würde sie jeden Moment zerbrechen. Ich hoffte irgendwie, dass sie immer eine Linie bleiben würde, es schien mir unerträglich, dass sie wieder in ihre Einzelteile zerfallen wird.
„Alter, was ist los mit dir? Wieso gaffst du so auf die Straße? Schau dir den Himmel an!“, brüllte Frank.
Seine Worte hörte ich nur sehr leise. Ich fasste mir ans rechte Ohr, es fühlte sich an, als wäre es mit Watte gefüllt. Dann löste ich meinen Blick von der Straße und schaute in die schwarze Tiefe der Nacht über mir. Es war stockdunkel, trotzdem bewegte sich etwas am Himmel, ich wusste nur nicht, was. Der Fahrtwind drückte meinen Kopf nach hinten und ich ließ ihn fallen. Dann schaute ich auf die Straße. Wir fuhren auf eine Kurve zu, danach war die Strecke wieder gerade. Wir würden hier nächste Woche wieder fahren, das stand fest. Ich trank einige große Schlucke aus der Flasche und machte die Scheinwerfer aus.
„Jetzt?“, fragte mich Frank. Seine Stimme bebte.
„Jetzt.“ Wir schlossen die Augen.
Das Rauschen des Fahrtwindes bei hoher Geschwindigkeit ist die schönste Melodie, die es gibt. Sie tönt jedes Mal gleich. Man hört sie dabei nicht nur, man spürt sie auch. Wenn ich den starken Wind auf meinem Gesicht spüre, kann ich endlich vollkommen abschalten. Der Typ, den wir verletzt haben, war mir in diesem Moment völlig egal. Ich dachte nicht mehr, ich lebte nur. Dabei wusste ich die ganze Zeit, dass die Melodie jeden Moment aufhören konnte. Alles konnte sofort vorbei sein, und alle Probleme würden dann wiederkommen. Ich war für jede Sekunde dankbar, in der ich die Melodie weiterhin hören konnte. Vielleicht war sie genau deshalb so schön, weil sie in jedem Augenblick zu Ende sein konnte. Und wenn ich dem Geräusch des preschenden Windes mit geschlossenen Augen lauschte, war mir immer, als sähe ich etwas, obwohl da nichts war. Ich kann nicht sagen, was es war, auch beschreiben kann ich es nicht. Es hatte keine Form. Ich habe nie an Gott geglaubt, doch in diesen Momenten war das anders. Vielleicht war es nicht Gott, es spielt keine Rolle, was es war. Aber dass da etwas war, das weiß ich.
Bevor ich dieses Gefühl kannte, habe ich nie gelebt, ich hab das Leben einfach an mir vorbeiziehen lassen, war einfach nur da. Jetzt weiß ich wie es aussieht, wie es sich anhört, wie es schmeckt. Und sein bittersüßer Geschmack lässt mich nicht mehr los.
Dann hörte die Melodie auf. Wie sich der Zusammenstoß anfühlte, habe ich vergessen. Wir sind auf der rechten Seite an die Leitplanke geraten. Auch an den Schmerz kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich sah, als ich in den Rückspiegel blickte, dass mein Gesicht voller Blut war. Doch ich lächelte. Die Melodie des Fahrtwindes und das Heulen des Motors hallten auf angenehme Weise in meinem Ohr nach, doch nur sehr leise, so als wären sie weit entfernt. Ich fühlte mich, als wäre ich nach einem schönen Traum aufgewacht. In mir war so ein stimmiges Grundgefühl, dass lange anhielt und dann, Stück für Stück, immer mehr in den Hintergrund rückte.
Erst dann drehte ich mich zur Seite und sah nach Frank. Ich hatte vergessen, dass ich nicht alleine war. Die rechte Seite des Wagens war völlig eingedrückt. Frank saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz, eingeengt und voller Blut. Sein Kopf hing nach unten. Er bewegte sich nicht.
Ich ließ den Motor an. Es war ein Wunder, doch der Wagen fuhr noch. Noch nie war ich dem Tod näher gewesen als in dieser Nacht. Langsam neigte sie sich dem Ende zu. Die ersten Sonnenstrahlen blitzten schon durch das Dunkel. Wieder wurde der Mittelstreifen zu einer Linie, die mir den Weg wies und der ich folgte. Dann schloss ich die Augen und lauschte.