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Als deine Schritte verschwanden
Mein Wecker klingelt. Langsam steige ich aus meinem Bett heraus und begebe mich mit schweren Schritten in Richtung Badezimmer. Letzte Nacht habe ich wieder einmal von dir geträumt. Es war alles perfekt. Du warst glücklich und ich auch. Wir sind zusammen über Felder gerannt und haben ohne Ende gelacht. Wäre es doch nur Wirklichkeit.
Ich schaue in den Spiegel. Ich kann tiefe Augenringe entdecken. Ich wasche mir mein Gesicht, putze mir die Zähne und bürste mein schulterlanges, braun- rotes Haar. Ich gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mich an. Am liebsten würde ich jetzt wieder in mein Bett fallen und weiter schlafen, aber ich muss ja leider jeden Morgen auf's Neue in die Schule gehen. Es ist ein kleiner Trost, dass ich dich und meine beste Freundin dort antreffen kann. Ich gehe die beigefarbene Treppe herunter, grüße kurz meinen Bruder, ziehe meine Schuhe an und verlasse das Haus. Das einzige, was mich jetzt wach halten kann ist mein Mp3- Player. Jeden Morgen rockt die Musik von „Die Ärzte“ und „Incubus“ in meinen Ohren. Die Musik der Bands ist einfach atemberaubend.
Ich steige in meinen Schulbus ein. Er ist, wie immer, total überfüllt. Ich setze mich neben einen unbekannten Schüler und lasse mich weiter von der Musik wach halten. Wie es dir wohl gerade geht? Ob du glücklich bist oder doch wieder traurig. Keiner versteht dich. Jeder meint du hättest ein schönes Leben, nur weil deine Eltern so reich sind und du so gut Gitarre spielen kannst. Keiner nimmt dabei deine Diabetes ernst. „Ist doch nichts dabei, wenn er sich mehrmals am Tag spritzen muss!“, höre ich sie oft sagen. Ich kann dich aber verstehen. Auch wenn es mittlerweile Routine für dich ist, dass du dich so oft spritzen musst, verstehe ich, dass es dir trotzdem schlecht geht.
Der Bus kommt zum Stehen. Ich steige aus, sehe mich kurz auf unserem Schulhof um und kann dich gleich entdecken. Wir begrüßen uns, wie immer, mit einer sanften Umarmung. Ich sehe in deinen Augen, dass es dir nicht gut geht. Leise frage ich dich, was dich so traurig macht und du antwortest:
„Ich war gestern mal wieder im Krankenhaus. Der Arzt hat mir so einiges über meinen Zucker erzählt.“ Voller Hoffnung, dass sich etwas an deinen schlechten Werten geändert hat frage ich:
„Und? Was hat er dir gesagt? Wird es wieder besser?“
„Nein, Kathi. Er hat gesagt, dass ich mit vierzig sterben werde, wenn meine Werte weiterhin so schlecht sind.“ Ich sehe, wie eine kleine Träne über deine Wangen läuft.
Ich nehme dich in die Arme und flüstere:
„Nein! Das darf nicht wahr sein. Lukas, sag mir, dass das nicht wahr ist. Bitte!“
Etwas lauter als ich antwortest du: „ Doch, Kathi. Es ist die Wahrheit. Es wird nie wieder besser. Ich glaube es ist besser, wenn ich die Welt von mir erlöse!“
Das Blut gefriert in meinen Adern. Waren das wirklich deine Worte? Du, der vor ein paar Monaten noch so glücklich war? Ich löse mich von deiner Umarmung.
„Das hat doch keinen Sinn, wenn du dich umbringst. Hör auf! Du machst nur die ganzen Menschen, die dich lieben unglücklich. Das darfst du mir nicht antun.“
Ich kann sehen, wie sich ein kleines Lächeln auf deinen Lippen ausbreitet.
„Ach Kathi. Es ist so lieb, wie du dich um mich kümmerst. Danke, dass es dich gibt!“
„Ich sage dir doch nur die Wahrheit. Du würdest so viele Menschen unglücklich machen.“
Du lächelst wieder kurz und verschwindest dann in dem grauen Schulgebäude.
Die Zeit in der Schule geht, wie immer, schleppend herum und es passiert auch nicht sonderlich viel. Eigentlich ein Tag wie jeder andere auch.
Als ich am Nachmittag nach Hause komme, mache ich als erstes meine Hausaufgaben und gehe dann eine kleine Runde spazieren. Wieder kreisen meine Gedanken nur um dich. Plötzlich klingelt mein Handy. Auf dem Display kann ich deine Nummer erkennen.
Ich nehme ab:
„Hallo?“
Am anderen Ende kann ich deine Stimme erkennen. Sie hört sich ziemlich traurig und verzweifelt an.
„Hallo Kleine. Kannst du bitte zu mir kommen? Mir geht es total schlecht.“
Ich erwidere: „Klar kann ich kommen. Bis gleich!“
Ich laufe mit schnellem Gang aus dem Stadtpark und biege in die nahe liegende Straße ein, wo du mit deinen Eltern in einer edlen acht- Zimmer Wohnung wohnst.
Ich klingel und nach wenigen Sekunden öffnest du auch schon die Tür. Ich kann dein verweintes Gesicht sehen. Ich trete in eure Wohnung. Überall hängen edle Gemälde. Es herrscht eine unheimliche Stille in eurer Wohnung. Ich gehe also davon aus, dass du allein zu Hause bist. Wir gehen in dein Zimmer und du lässt dich sofort auf dein Bett fallen. Ich lege mich neben dich und kann deinen langsamen Atem hören.
„Kathi? Was soll ich jetzt machen? Ich meine…ach Mensch ich habe ja noch fünfundzwanzig Jahre, bis ich sterbe, aber mich macht das Alles so fertig. Sag mir doch bitte, was es für Gründe gibt, noch in dieser Welt zu leben. Angenommen ich werde zum Pflegefall. Dann habt ihr ständig ein Problem am Hals. Das wollt ihr doch auch nicht. Jemanden auf den ihr immer aufpassen müsst. Immer und überall. Auf jeder Party, dass ich auch ja nie zu viel Bier trinke. Bier ist doch viel zu Zuckergehaltig.“
Du machst eine abfällige Bewegung und schaust mir in die Augen.
Ich antworte leise, fast flüsternd: „ Und selbst wenn du zu einem Pflegefall wirst. Das wäre mir doch scheißegal. Ich und deine andren Freunde- wir haben dich so lieb, wie du bist. Egal, ob Pflegefall, oder nicht! Ich glaube es ist das Beste, wenn du dein Leben einfach so weiter lebst. Genieße einfach die schönen Momente und freue dich, dass du so viele Menschen hast, die hinter dir stehen. Vielleicht hast du ja auch Glück und deine Werte verbessern sich. Dann kannst du wieder ein sorgenfreies Leben führen. Du hast doch die Musik. Du kannst wunderbar mit deiner Gitarre umgehen. Nutze dein Talent. Ich finde es sowieso total scheiße, dass dir das dein Arzt jetzt schon gesagt hat…“
Als ich gerade weiter reden wollte, hörte ich ein leises schnarchen. Ein kleines Lächeln zeichnet mein Gesicht. Ich gebe dir einen kleinen Wangenkuss, mache das Licht aus, ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und lege mich neben dich.
Am nächsten Morgen werde ich von dem grellen Sonnenlicht geweckt. Ich will dich gerade wecken, doch als ich mich umdrehe sehe ich in's Leere. Ich kann nur einen Brief auffinden. Ich lese ihn leise:
Liebe Kathi,
es tut mir leid, dass ich dich jetzt alleine lasse. Aber glaube mir, es ist besser, wenn ich gehe. Ich muss euch nicht weiter mit meinen Problemen belasten und außerdem geht es mir auch besser, wenn ich nicht mehr in dieser Stadt bin. Vielleicht hast du Recht und es hat wirklich keinen Sinn, sich umzubringen, aber ich muss auf jeden Fall aus dieser Stadt heraus. Ich habe in Spanien einen Freund. Bei ihm werde ich meine letzten Jahre verbringen. Glaub mir, es wird das Beste für uns sein, wenn ich jetzt gehe und nicht plötzlich sterbe. Danke, dass du immer für mich da warst und dass du mir immer wieder eine neue Chance gegeben hast. Ich habe dich unendlich lieb!
Lukas
Mein Atem stockt. Ich spüre, wie sich ein großer Kloß in mir bildet. Ich werde von einem Geräusch aus meiner Trance geweckt. Du hinterläßt dieses Geräusch. Ich höre wie deine Schritte verschwinden. Schnell will ich dir noch hinterher rennen und dich vor allem beschützen, doch irgendetwas hällt mich auf. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht musst du deinen Weg selbst suchen, damit du glücklich wirst. Ich lasse dich gehen und werde vergessen.