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Also bin ich

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06.01.2022
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Also bin ich

Ich tauche aus meinem Traum auf. Ein Buch, das ich zu lesen versuchte; die Buchstaben verschwammen und flogen von den Seiten. Ich öffne die Augenlider. Das Schlafzimmer ist lichtdurchflutet. Seine Blumentapete ist weg. Vor einer riesigen Fensterfront steht mein Vater.
„Na, wirst du wach?“
Wie spät kann es sein? Ich fühle mich gerädert. Als hätte ich nicht geschlafen.
Er legt das Paket, das er in der Hand hatte, verstaut meine Brille und die Tablettenpackung in die Nachttischschublade, schiebt die Blumenvase sowie das Glas und die Wasserflasche zur Seite und stellt sein Päckchen auf das Tablett. Er lächelt, nimmt meine Hand; ich spüre seine Wärme. Ich kuschle mich in sie hinein. Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.​
„Mama?“, sagt er.
„ …?“
Meine Welt stürzt ein.
„Mama! … Geht's dir gut?“
„Alles ist in Ordnung.“
Nichts ist in Ordnung! Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängeln sich, wirbeln vor meinen Augen, bevor sie verblassen. Namen bleiben mir im Hals stecken.
Er schließt mich in seine Arme: „Alles Gute zum Geburtstag, Mama!“
Geburtstag – das Wort hallt in meinem Kopf wider. Unter meinem Schädel quellen die Schubladen über. Sie lassen ihren Inhalt heraus. Vergebens addiere und subtrahiere ich, es gelingt mir nicht, mein Alter zu berechnen. Bei der Übung aber bekomme ich den Vornamen meines Sohnes zurück: Paul! Mein Schatz!
Verschüttete Erinnerungen kommen hoch und zerplatzen wie Blasen in einem Schlammsee. Ich sehe ihn wieder auf der Entbindungsstation. Das hübscheste Baby, das ich je vor Augen hatte … Dumpfe Angst steigt auf, schwillt an; ich fürchte, dass diese tiefe Freude, die mich erfüllt, jede Sekunde entweichen könnte. Ich klammere mich daran fest.
Ich sitze im Bett. Er hält mich fest an sich gedrückt. Ich höre seine Atmung, sanft und ruhig. Er gibt mir sein Päckchen. Dieses ist mit einem Band umwickelt, dessen Knoten ich nicht entwirren kann. Ich tue so, als wollte ich die Entdeckung meines Geschenks hinauszögern. Ich taste es ab, wiege es, schüttle es … schließlich rutscht das goldene Band vom Paket herab. Es ist ein Fotoalbum. Ich schlage eine Seite auf. Auf dem Bild ist ein Kind mit langen Haaren in weißer Kommunionskutte zu sehen, das mit seinen großen, geheimnisvollen Augen in die Kamera schaut.
Ich versuche, mich auf irgendein Detail zu konzentrieren, irgendetwas … Nichts, woran ich mich auf dem leeren Gelände meiner Erinnerungen festhalten könnte. In meinem Gedächtnis verschwinden die Spuren der Vergangenheit wie die Pusteblumensamen, die im Frühling durch die Luft fliegen und jedes Mal die Richtung ändern, wenn man versucht, sie zu ergreifen. Ich fürchte, die kleinste Bewegung könnte diese Gärung meiner Gedanken verraten. Ich bleibe still, erstarrt.
„Erinnerst du dich an das Foto?“
„Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“
„Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Ich schließe meine Augen. Mein Herz rast wie wild. Ich versuche, an den Besuch dieser Anna zu denken, aber nichts kommt; meine Fantasie liefert nicht. Scham überflutet mich, ich stottere: „Ich erinnere mich nicht.“
Eine schlecht versteckte Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er küsst mich auf die Wange und schielt dabei unauffällig auf seine Uhr.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnet sich. Ein Tablett wird auf einem Wagen gebracht. Paul nimmt es:
„Danke!“, sagt er. „Ich kümmere mich um sie.“
Dann dreht er sich zu mir um: „Ich helfe dir! … Die Suppe riecht gut …“
Ich habe keinen Hunger.
Er hebt die Glocke hoch und führt den Löffel an meine Lippen:
„Wie damals, als ich klein war: – für Anna, – für mich …“
Seine Stimme klingt angestrengt; er versucht zu sehr, der Szene einen natürlichen Anschein zu geben.
So gut es geht, schlinge ich die Suppe hinunter, und verschlucke mich wiederholt dabei. Sie schmeckt nach nichts. Die Hälfte der Brühe läuft mir über den Hals. Paul sieht mich hilflos an. Er stellt das Tablett zurück auf den Tisch und schaltet den Fernseher ein.
Ihre Sendungen interessieren mich nicht; zu langweilig!
Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern blickt häufig auf sein Handgelenk. Es ist klar, dass er schon seit einiger Zeit darüber nachdenkt, was er mir gleich sagen wird.
„Ich muss gehen.“
Ich greife nach seinem Arm, um etwas von dieser so kostbaren und flüchtigen Zeit zu retten, die ich vielleicht nie mehr zurückbekomme. Er schiebt mich sanft zurück und küsst mich zum Abschied noch einmal.
Ich erschaudere, hänge am Knirschen seiner Sohlen auf dem Linoleum. Während er sich entfernt, zerstreuen sich die kleinen unsichtbaren Wellen, die uns verbunden haben. Meine Kehle schnürt sich zu. Mir wird bang und bänger. Ich höre, wie die Schwester in der Türöffnung mit halblauter Stimme zu ihm spricht: „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. In einer Minute wird sie Ihren Besuch bereits vergessen haben.“
„Dennoch schien sie mir heute gut orientiert.“
Tränen trüben meine Sicht. Ich schließe die Augen.
„Sie hat so, sagen wir, kurze Lichtfenster“, lügt sie.
Panik macht sich in meinem Körper breit. Das Album fällt mit einem gedämpften Geräusch auf den Boden.
Ich fühle mich, als würde ich schweben.
Ich habe mich sozusagen verlaufen … Aber solange der Kopf mitmacht …​

 

Hallo @Eraclito und herzlich willkommen!

Der Text ist gut geschrieben, ich bin weder über Formulierungen gestolpert noch habe ich mich durch einen grammatikalischen Dschungel kämpfen müssen. Nein, stilistisch liest sich das gut. Aber am Aufbau könntest du noch feilen. Ich habe nämlich mehrere Anläufe nehmen müssen, um mich zurechtzufinden, und wie sich dann herausstellt, ist das so gewollt von dir, weil die Geschichte aus der Sicht einer Demenzkranken erzählt wird. Das ist eine gute Idee, nur weiß ich das am Anfang noch nicht, und so fällt es mir schwer, in den Text einzusteigen und dranzubleiben. Vielleicht könntest du schon am Anfang ein paar Hinweise geben, dass ich es mit jemandem zu tun habe, der sich nicht mehr erinnern kann, damit ich weiß, dass es sich um einen verwirrten Geist handelt und nicht um wahllos aneinandergereihte Szenen. Gut, dann ist natürlich die Überraschung flöten. Es soll ja nur eine Zustandsbeschreibung sein. So, wie es jetzt ist, funktioniert es aber nicht für mich. Vielleicht wäre es einfacher, wenn du diesem Paul mehr Raum gibst, der Versuch einer Interaktion gestartet wird, der immer wieder scheitert, weil es mit ihr nicht möglich ist. Paul sitzt ja nur da und guckt auf die Uhr. Das ist schon furchtbar, diese Situation, auch für sie, wenn sie einen lichten Moment hat. Aber für eine Kurzgeschichte ist es mir noch ein bisschen zu wenig. Bleib dran.

Viele Grüße,
Chai

 

Danke Chai für die Zeit, die Du mir geschenkt hast. Dein Hinweis folgend, habe ich gleich paar Wörter addiert, um den geistlichen Zustand der Erzählerin verständlicher zu machen. Vielleicht ist der Titel „(Ich denke), also bin ich“ auch nicht so erläuternd, als ich meine?

 

Hallo @Eraclito

wie Chai finde ich die Geschichte stilistisch absolut sauber, das ist toll. Die Sätze angemessen lang, und von der Sprache alles sicher. Das ist etwas zum Lesen!

Für mich persönlich geht auch der Aufbau in Ordnung. Ich meine, es steht alles drin, um sich – auch frühzeitig – hineinfinden zu können. Aber man muss aufpassen. An den richtungsweisenden Details darf man nicht vorbeischlittern. An ein paar Stellen musste ich zurückgehen, um die vornehm klein gehaltenen Wegweiser zu entdecken und die richtige Abzweigung zu nehmen. Da die Geschichte kurz ist, muss man es vielleicht nicht zwingend ändern. Allerdings solltest du wissen, was du tust, und dafür hilft dir ja vielleicht das feedback der Leserinnen und Leser, die deinen Text unbefangen wahrnehmen :)

Faszinierend und packend ist, wie es dir gelingt, für die Demenzkranke eine Perspektive zu schaffen. Es mag bereits andere Projekte in dieser Richtung geben, ich renne ihnen nicht hinterher, daher kann ich dazu nichts sagen. Ich kenne eher die Perspektive der anderen, der Gesunden – und plötzlich überlege ich, ob man hier überhaupt von Krankheit sprechen kann: Der Prota geht es doch so weit ganz gut. An Schmerzen kann ich mich jedenfalls nicht erinnern. Anders gesagt: Dein Perspektivwechsel ist dir bei mir gelungen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Mein Maßstab ist nicht eine erfolgreiche Mission für Demenzkranke. Was du schreibst, kann aus fachlich-psychologischer Sicht denkbar sein oder auch nicht, das ist mir vom Erzähltechnischen her egal (wobei vieles plausibel auf mich wirkt). Mein Maßstab ist vielmehr eine Geschichte, die so erzählt ist, dass ich etwas erlebe, was nach dem Lesen vielleicht sogar nachklingt.

Im Einzelnen:

Als ich meine Augenlider öffne, vermisse ich die Blumentapete in meinem Zimmer. Vor mir hängt ein Fernsehbildschirm über einem grauen Tisch. Davor steht mein Vater unbewegt, ein Paket in der Hand.
„Bist du wach?“
Seine Wörter wecken mich aus meinem Traum auf. Eine langweilige, immer wiederkehrende Geschichte: ein Buch, das ich zu lesen versuche und Buchstaben, die durcheinandergeraten und von den Seiten wegfliegen. Wie spät kann es sein? Gerädert, fühle ich mich, als hätte ich nicht geschlafen.

Im ersten Absatz steht (fast) alles drin. Aber man muss ihn aufmerksam lesen, auch die Details. Das tue ich nicht unbedingt am Anfang einer Geschichte! Ein hochkonzentrierter Leser hat es da besser. Ich denke immer, man muss auch den etwas schlampigen Lesern wie mir etwas an die Hand geben.

Ich bin dann nochmal zurückgesprungen, und da war es klar: Vermissen der Blumentapete = nicht einordenbarer Ortswechsel. Bildschirm hängt über einem grauen Tisch = Krankenhaus (in Wirklichkeit wohl Pflegeheim, aber so oder so fremde Umgebung). Der Vater kommt = Prot muss noch jünger sein, vielleicht ein Jugendlicher – und fragt, ob Prot wach ist = Es muss einen Unfall oder ähnliches gegeben haben. Mit der Blumentapete könnte man sogar schon die alte Dame erkannt haben. Die folgenden Sätze deuten darauf hin, dass Prot nach dem vorausgehenden Ereignis noch etwas durcheinander ist, das mit dem Buch ist ein sehr schönes Bild. Das nimmt man beim Anlesen der Geschichte aber nicht unbedingt alles auf einmal wahr.

Um es eingängiger zu machen, könnte man vielleicht mehr Emotionen an die Informationen hängen, zB mit "Ich werde wach. Wo ist die geliebte Blumentapete aus meinem Zimmer? Wer hat den Fernseher aus dem Wohnzimmer in mein Schlafzimmer unter die Decke gehängt?" oder so ähnlich. Nur eine Idee.

Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.
„Mama?“
„ …?“
„Mama! … Geht es dir gut?“ – „Alles ist in Ordnung.“
Nichts ist in Ordnung. Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängen sich, wirbeln vor meinen Augen, bevor sie verblassen. Namen bleiben mir im Hals stecken.
Er schließt mich in seine Arme: „Alles Gute zum Geburtstag, Mama!“

Schön, dass dieser Jugendliche eine gute Beziehung zu seinem Vater hat! Dann die Frage nach Mama. Wer fragt nach seiner Mutter, der Jugendliche? War die auch bei dem Unfall dabei? "Mama, geht es dir gut?" Hält er jetzt seinen Vater für seine Mutter? "Alles in Ordnung." Ah, der Vater beruhigt den Menschen in seinem Krankenhausbett. Vielleicht ist die Mutter ja ums Leben gekommen ...

Kurz gesagt: Da herrscht in meinem Kopf Durcheinander. Durch den Plot wird dieses durcheinander nicht gerechtfertigt. Ich springe zurück, erschließe mir mit dem Paket und dem Geburtstag, dass der Vater am Bett "Mama?" sagt, dass im Bett eine Frau liegt, dass da ihr Sohn bei ihr sitzt und nicht ihr Vater, sie ihn für den Vater gehalten hat, also wohl dement ist usw.

Meine Idee dazu wäre: Einfach in dem Dialog deutlich machen, wer gerade spricht, ich glaube, dann wäre schon alles gut.

Ich tue so, als wollte ich die Entdeckung meines Geschenks hinauszögern. Ich taste es ab, wiege es, schüttle es … schließlich rutscht das goldene Band heraus. Es ist ein Fotoalbum. Ich schlage eine Seite auf. Auf dem Bild ist ein Kind mit langen Haaren in weißer Kommunionskutte zu sehen, das mit seinen großen, geheimnisvollen Augen in die Kamera schaut.
Ich versuche, mich auf irgendein Detail zu konzentrieren, irgendetwas …

Sensationell! Wie sie da erwartungsvoll mit dem Paket rumspielt, um Zeit zu gewinnen, weil sie weiß, dass sie mit dem Knoten ein Problem hat. Sie erkennt die eigene Überforderung, sieht sich einer Prüfungssituation ausgesetzt und versucht, mit der klarzukommen. Ich glaube übrigens, dass das absolut realistisch ist. Ein Notar erzählte mir, dass Demenzkranke in Beurkundungen bisweilen ganz genau wissen, dass sie möglichst viel den Mund halten müssen und auf Fragen möglichst mit allgemeinen Formulierungen antworten müssen, damit sie nicht auffallen. Über lange Zeiten wird die Überforderung recht erfolgreich gemanagt.

„Erinnerst du dich an das Foto?“ – „Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“ – „Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Ich schließe meine Augen. Mein Herz rast wie wild. Ich versuche, an den Besuch dieser Anna zu denken, aber nichts kommt; meine Fantasie liefert nicht. Scham überflutet mich, ich stottere: „Ich erinnere mich nicht.“

Du bringst hier gefühlsmäßig für mich wirklich toll die vollkommen unnötige Prüfungssituation rüber, mit der der Sohn seine Mutter quält. Sie hat ihn erkannt, die beiden könnten die Nähe genießen, aber er will mit ihr Gedächtnistraining machen und lässt sie leiden. Über die konkrete Szene hinaus eine schöne Beschreibung von dem Grundleiden, dass die Menschen scheitern, obwohl sie zueinander wollen. Insofern eben auch mehr als eine Fallstudie zur Demenz.

So gut es geht, schlinge ich die Suppe hinunter, und verschlucke mich wiederholt dabei. Sie schmeckt nach nichts. Die Hälfte der Brühe läuft mir über den Hals.
Das gleiche wie vorher. Man könnte sie mit der blöden Suppe in Ruhe lassen. Man könnte es einem Profi überlassen. Statt dessen muss sie sich in Anwesenheit ihres Sohnes die Suppe durchs Gesicht laufen lassen.

Mir wird bang und bänger. Ich höre, wie die Schwester in der Türöffnung mit halblauter Stimme zu ihm spricht: „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. In einer Minute wird sie Ihren Besuch bereits vergessen haben.“ – „Dennoch schien sie mir heute gut orientiert.“
Tränen übermannen mich.
Und jetzt die Krönung: In Anwesenheit der alten Frau wird über sie geredet. Unsere tief verwurzelte Vorstellung, wenn jemand einmal in einem weißen Bett liege, könne man ihn behandeln wie eine aufgeschlagene Akte und über ihn reden. In diesem Fall erst recht, denn: Die hat eh gleich alles vergessen. Das ist hier nicht mal eine Kritik an Menschen im Krankenhaus- oder Pflegebereich. Ich halte es für eine menschliche Entscheidung, ob man jemanden respektvoll behandelt, egal, in welcher Situation er ist, oder ob man je nach Kräfteverhältnis auch auf jemandem herumtreten darf. Letzteres wäre die Ausnutzung von Macht, die hier auf sehr feine Weise praktiziert wird.

Das Gute ist hier nicht, dass du uns etwas über das Empfinden einer Demenzkranken beibringst, sondern dass du die Emotion rüberbringst, die beim Opfer entsteht, ohne dabei platt anzuklagen: Alle Beteiligten haben gute Absichten!

Den letzten Satz "Tränen übermannen mich" finde ich etwas klischeehaft. "Übermannen" enthält auch eine Wertung. Vielleicht wäre eine konkrete Beschreibung, wie die Frau ihre Träne(n) bemerkt, besser, dass ihr Blick sich eintrübt oder irgendwas. Oder einfach weglassen, das wäre vielleicht noch stärker.

Aber solange der Kopf mitmacht …
Nach meiner unmaßgeblichen Meinung: Großartig! Ein wirklich gelungener Schlusssatz. Der zudem vieles sagt. Das kann eine Verkennung der eigenen Situation sein, aber auch ein Fingerzeig darauf, dass die Prota sich gar nicht so schlecht fühlt und kein Nutzen darin besteht, sie auf ihre Defizite aufmerksam zu machen. Man kann es aber auch als Frage an alle anderen verstehen, die noch klar im Kopf sind, ob sie sich da so sicher sein können.

Ich würde den Titel erstmal so lassen, es sei denn, dir kommt noch ein glänzender anderer Einfall. Er passt zum Schlusssatz, er passt zur Geschichte, er bringt den Gedanken auf, ob nicht vielleicht in manchem Kopf mehr vorgeht als man denkt, er ist einfach stimmig.

Danke und einen schönen Sonntag
daedalus

@Eraclito

Kleiner Nachtrag zum Titel: Als ich dazu was schrieb, hatte ich im Kopf, der Titel laute "Ich denke, also bin ich". "Also bin ich" ist natürlich noch besser, setzt nur voraus, dass die, die du erreichen willst, das ganze Zitat kennen. Ich würde das denken.

 

Vielen Dank Daedalus für das Lesen meines Textes und für Deine enorme Arbeit. Deine Bemerkungen sind sehr wertvoll. Ich habe sie berücksichtigt. Nur die Tränen am Ende konnte ich nicht streichen; Alzheimer Kranken – so die Ärzte –, weinen sehr leicht. Dein Vorschlag mit der Eintrübung des Blickes aber habe ich gern übernommen. Nochmals danke und vielleicht kann ich mich dafür irgendwann revanchieren. Schönen Abend.

 
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Hallo H. K. Du hast den Sinn meines Titels treffend auf den Punkt gebracht und ich bedanke mich dafür, dass du Dir Zeit genommen hast, um die Bedeutung von Descartes' Zitat zu erklären. Ich hätte es nicht gewagt, aber da Du damit begonnen hast, erlaube ich mir, eine andere Stelle aus dem Buch Discours de la méthode dieses Philosophen hinzuzufügen, die sein Denken und meine Absicht beleuchtet:
„Nachdem ich bemerkt hatte, dass es in dem Satz: Ich denke, also bin ich, nichts gibt, was mir versichert, dass ich die Wahrheit sage, außer dass ich sehr deutlich sehe, dass man, um zu denken, sein muss, urteilte ich, dass ich als allgemeine Regel annehmen kann, dass die Dinge, die wir sehr klar und deutlich begreifen, alle wahr sind; dass es aber eine gewisse Schwierigkeit gibt, genau zu bemerken, welche diejenigen sind, die wir deutlich begreifen.“
Für Descartes ist das menschliche Denken immer potenziell irreführend. Der Humor, den eine Kurzgeschichte ermöglicht, ist dazu da, den Schrecken einer Situation zu verbergen, die viele von uns betrifft oder betreffen wird. Nein, der Vorhang senkt sich nicht plötzlich...

Vielleicht kann ich mich bei Dir auch mal revanchieren. Schönen Abend.

 

Hallo @Eraclito ,

das ist ein schöner, trauriger, berührender Text. Facetten eines Lebens, irgendwie verschwimmend und gerade dadurch beeindruckend.

Ich hätte nicht gedacht, dass es gelingt, die Innenansicht einer Demenzkranken so überzeugend zu beschreiben.

Mir geht es wie meinen Vorrednern, ich finde der Text wirkt schon, braucht kaum noch Verbesserungen. Sprache und Tempo sind sehr gut.

Ein paar Ecken sind mir aufgefallen und ich will darauf hinweisen. Ob Du sie ändern solltest, kann ich nicht entscheiden, aber da bin ich ein bisschen gestolpert.

Seine Wörter wecken mich aus meinem Traum auf. Eine langweilige, immer wiederkehrende Geschichte: ein Buch, das ich zu lesen versuche und Buchstaben, die durcheinandergeraten und von den Seiten wegfliegen. Wie spät kann es sein? Gerädert, fühle ich mich, als hätte ich nicht geschlafen.
Hier hätte ich statt "langweilige" ein anderes Adjektiv vorgezogen. "Gleichförmig" oder ähnliches. Langeweile setzt für mein Gefühl eine Wahrnehmung von verstreichender Zeit voraus.

Das "gerädert" könntest Du streichen, oder durch "desorientiert / verwirrt" oder ähnliches ersetzen. Es passt nicht richtig, fügt dem Text wenig hinzu und Du könntest hier schon eine Spur auf die Demenz legen.

Vergebens addiere und subtrahiere ich, es gelingt mir nicht, mein Alter zu berechnen. Bei der Operation aber bekomme ich den Vornamen meines Sohnes zurück: Paul! Mein Schatz!
Toller Absatz. Vergebens addiere und subtrahiere ich, .... Nur die "Operation" ließ mich stolpern. Der Begriff scheint hier nicht zu passen.

… schließlich rutscht das goldene Band heraus. Es ist ein Fotoalbum. Ich schlage eine Seite auf. Auf dem Bild ist ein Kind mit langen Haaren in weißer Kommunionskutte zu sehen, das mit seinen großen, geheimnisvollen Augen in die Kamera schaut.
Wenn das Band außen um das Paket gebunden wurde, kann es nicht "heraus rutschen". Umgekehrt. Sonst ist der Absatz klasse, dieses Zögern vor der vermutlich unlösbaren Aufgabe.

Er hebt die Glocke hoch und führt den Löffel an meine Lippen: „Wie damals, als ich klein war: – für Anna, – für mich …“
Die "Glocke"? Ist das eine besondere Form von Löffel oder Schnabeltasse?

Seine Stimme klingt angestrengt; er versucht zu sehr, der Szene einen natürlichen Anschein zu geben.
Super.

Ich habe mich sozusagen verlaufen … Aber solange der Kopf mitmacht …
Der letzte Satz passt nicht ganz in diesen fast poetischen Absatz.

Aber insgesamt sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße,
Gerald

 

Guten Morgen, @Eraclito,

Deine Geschichte habe ich gern gelesen, sie ist schön geschrieben und wohltuend kurz gehalten. Außerdem behandelt sie ein Thema, das mich weder abtörnt noch überfordert, ganz im Gegenteil: Vorstellungen davon, wie das Ganze mal ausgehen könnte, zäumen das Pferd von hinten auf machen mich schon deshalb neugierig.

Trotzdem sind zum Aufbau der Geschichte und Deiner Protagonistin für mich noch ein paar Fragen offen geblieben:

Also bin ich
… leuchtet mir als Titel noch nicht ein. Es geht Dir vermutlich um den Leitsatz von Descartes, was mir sofort den Anspruch einer gewissen intellektuellen „Fughöhe“ weckt. Steckt in Deiner Aussage eine Negation? Willst Du etwa sagen, dass Deine Protagonistin NICHT mehr ist, weil ihr der Verstand abhandengekommen ist? Deine Geschichte beweist eher das Gegenteil: sie ist trotz ihrer Demenz ein fühlendes Wesen geblieben.

Seine Wörter wecken mich aus meinem Traum auf. Eine langweilige, immer wiederkehrende Geschichte: ein Buch, das ich zu lesen versuche und Buchstaben, die durcheinandergeraten und von den Seiten wegfliegen. Wie spät kann es sein? Gerädert, fühle ich mich, als hätte ich nicht geschlafen.
Für mich ein glaubwürdiger Anfang. Die Protagonistin kämpft um ihre Orientierung in der Zeit. Du hättest vielleicht noch den Raum einbinden können, d.h. sie wähnt sich an einem ganz anderen Ort z.B. aus ihrer frühen Kindheit.

Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.
„Mama?“ sagt er.
„ …?“
Meine Welt stürzt ein.
Kommt mMn viel zu früh. Du kannst den/die Leser/in gerne noch etwas länger auf die Folter spannen, bevor Du die Auflösung preisgibst, dass Deine Protagonistin desorientiert ist. Das würde nicht nur die Spannung erhöhen, sondern auch die Desorientierung des Lesers bzw. der Leserin reflektieren. Dadurch würde zugleich die Verwirrung Deiner Protagonistin noch menschlicher - nur so ne Idee ...

In meinem Gedächtnis verschwinden die Spuren der Vergangenheit wie die Pusteblumensamen, die im Frühling durch die Luft fliegen und jedes Mal die Richtung ändern, wenn man versucht, sie zu ergreifen.
Ein schönes, fast ergreifendes Bild dafür, wie ihr die Erinnerung unwiederbringlich abhandenkommt.

Mit Paul ergeht es mir ähnlich wie Chai. Er wird als Charakter nicht erkennbar, bleibt blass im Hintergrund. Außer dass er seiner Mutter ein Erinnerungsalbum mitgebracht hat, also ein aufmerksamer Sohn ist, aber wenig Zeit für sie hat (wegen Beruf oder Familie?) erfahre ich als Leser von ihm nichts. Dabei handelt es sich doch um ihren geliebten Sohn, weiter oben schreibst Du noch:

Paul! Mein Schatz!

Insgesamt finde mich in dem Geistesstand, in dem sich Deine Protagonistin befindet, noch nicht gut zurecht: Einerseits ist sie zeitlich und räumlich desorientiert, lebt in ihrer Kindheit (siehe Anfang), was für eine fortgeschrittene Demenzerkrankung spricht. Andererseits kann sie soziale Situationen noch sehr kompetent einschätzen, zum Beispiel:
Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern blickt häufig auf sein Handgelenk. Es ist klar, dass er schon seit einiger Zeit darüber nachdenkt, was er mir gleich sagen wird.
Das passt nicht zu ihrem Geisteszustand, ebenso wenig wie das folgende Beispiel:
Ihre Sendungen interessieren mich nicht; zu langweilig!
Du willst damit sagen, dass sie Filmhandlungen grundsätzlich folgen kann? Das können fortgeschritten Demenzkranke (leider) nicht mehr, sie können nicht einmal einordnen, dass es sich um fiktive Geschichten aus einem Fernseher handelt (z.B. verwechselte ihn die Oma einer Bekannten mit einer Waschmaschine).

Ich höre, wie die Schwester in der Türöffnung mit halblauter Stimme zu ihm spricht: „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. In einer Minute wird sie Ihren Besuch bereits vergessen haben.“ – „Dennoch schien sie mir heute gut orientiert.“
Ich glaube nicht, dass Du noch weiteres Personal brauchst, um die Verlorenheit Deiner Protagonistin glaubhaft darzustellen. Du könntest zum Beispiel überlegen, ob Du die Geschichte nicht einfach damit beenden könntest:
„Ich erschaudere, hänge am Knirschen seiner Sohlen auf dem Linoleum. Als er sich entfernt, zerstreuen sich seine Schritte wie kleine, unsichtbare Wellen.“

Dann noch ein bisschen Kleinkram:
„Erinnerst du dich an das Foto?“ – „Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“ – „Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Nach wörtlicher Rede würde ich statt einem Gedankenstrich lieber einen Absatz sehen, das macht es übersichtlicher.
„Wie damals, als ich klein war: – für Anna, – für mich …“
... klingt ein wenig platt („Einer für Mama, einer für Papa …“) - da fällt Dir sicher noch was Originelleres ein.

Aber trotz aller nervigen Kritik: gern gelesen und kommentiert! Freue mich auch auf Deine Kommentare.

Viele Grüße,

A. Martin

 

Hallo Eraclito,

ich mag deinen Text. Sauber und flüssig geschrieben, gutes Thema.

Ich habe nur ein Problem mit der Perspektive. Dazu später mehr.

Als ich meine Augenlider öffne, vermisse ich die Blumentapete in meinem Zimmer. Der Raum ist lichtüberflutet. Vor einer riesigen Fensterfront steht mein Vater unbewegt, ein Paket in der Hand.
„Bist du wach?“
Seine Wörter wecken mich aus meinem Traum auf.
Da stimmt die Reihenfolge nicht, oder ist das gewollt, frage ich mich.
Denn: Die Augen sind schon geöffnet, dann erwacht sie.

Erst später stelle ich fest, dass es gar nicht der Vater, sondern ihr Kind anwesend ist und es gewollt ist.

Gerädert, fühle ich mich, als hätte ich nicht geschlafen.
Gerädert fühle (kein Komma)

Mama?“ sagt er.
Mama" KOMMA sagt er

„Mama! … Geht es dir gut?“ – „Alles ist in Ordnung.“
Hier hast du einen Gedankenstrichen, aber einen anderen Sprecher.
Weiter unten hast du auch Gedankenstiche, aber den selben Sprecher.
Ich würde einfach wie sonst üblich einen Zeitenwechsel bei Sprecherwechsel machen.

Bei der Operation aber bekomme ich den Vornamen meines Sohnes zurück: Paul! Mein Schatz!
"Operation" ist hier für mich irreführend. Ich vermutete an der Stelle, dass sie im Krankenhaus liegt und assoziiere Operation daher mit ihrer OP, die sie hinter sich hat.

Ich taste es ab, wiege es, schüttle es … schließlich rutscht das goldene Band heraus.
Wenn das Band eines ist, mit dem man ein Paket/Geschenk umwickelt, dann rutscht es nicht heraus (von wo sollte es herausrutschen?), sondern eher herab (vom Paket herab).

„Erinnerst du dich an das Foto?“ – „Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“ – „Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Hier die Stelle, wo du Gedankenstriche anders als oben einsetzt.

Die Tür zum Schlafzimmer öffnet sich. Ein Tablett mit Essen wird gebracht.
Hier für mich die Überraschung, dass sie nicht im Krankenhaus ist.

Er stellt das Tablett zurück auf den Tisch und schaltet den Fernseher ein.
Ihre Sendungen interessieren mich nicht; zu langweilig!
Wer ist "ihre"?

Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern blickt häufig auf sein Handgelenk. Es ist klar, dass er schon seit einiger Zeit darüber nachdenkt, was er mir gleich sagen wird.
Dafür, dass sie demenzkrank ist, kann sie alles andere aber gut – ich finde, vielleicht zu gut? – beobachten.

Gerne gelesen. Willkommen hier und viel Spaß beim Lesen, Kommentieren, Schreiben und Überarbeiten.

Liebe Grüße, GoMusic

 
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Hallo C. G. G.

Vielen Dank für Deine wertvollen Anmerkungen. Ich habe korrigiert, indem ich "langweilig" durch "lästig" und "Operation" (Rechenoperation, nicht OP) bei "Übung" ersetzt habe. Das goldene Band, von jetzt an, „rutsch“. Punkt! Bei "gerädert" bin ich anderer Meinung. Die Prota fühlt sich müde. Allein müde.
Ich glaube, man fühlt sich nicht dement. Man merkt nur, dass man Dummheiten redet, dass man vergisst und dass die alltäglichen Aufgaben komplizierter werden.

Ich werde Der Einäugige nächste Woche aufmerksam lesen, und Dir dann von meinen Eindrücken berichten. Schönen Abend und viele Grüße.

Ich hätte sie fast vergessen: die Glocke! In solchen Einrichtungen werden Mahlzeiten, die in den Zimmern eingenommen werden, normalerweise unter einer Glosche (oder Glocke) serviert, die Fliegen fernhält und das Essen warm hält.

 
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Hallo A. Martin

Vielen Dank für Deine Auseinandersetzung mit meiner Prota. Gerne beantworte ich deine Fragen.

Es geht Dir vermutlich um den Leitsatz von Descartes, was mir sofort den Anspruch einer gewissen intellektuellen „Fughöhe“ weckt. Steckt in Deiner Aussage eine Negation? Willst Du etwa sagen, dass Deine Protagonistin NICHT mehr ist, weil ihr der Verstand abhandengekommen ist? Deine Geschichte beweist eher das Gegenteil: sie ist trotz ihrer Demenz ein fühlendes Wesen geblieben.
Ja! es geht um Descartes. Die Bedeutung seinem Leitsatz haben schon Leute wie Husserl, Heidegger oder Jaspers eruiert (Flughöhe ;)) … Mein Titel ist die Folge des Schlusssatzes: "Solange der Kopf mitmacht…bin ich.“ Wie Daedalus zu Recht bemerkt hat, verkennt die Prota (wie - scheint es - die meisten Alzheimer Kranken) ihre Situation. Auf lichte Augenblicke folgen Phasen der Abwesenheit, aber die betroffenen Menschen fühlen sich normal. Ärzte nennen dies Anosognosie. Klingt wie ein Mädchenname! Könnte ein Titel werden.:hmm:
Mit Paul ergeht es mir ähnlich wie Chai. Er wird als Charakter nicht erkennbar, bleibt blass im Hintergrund.
Soll er auch! Paul ist ein Statist. In einer Kurzgeschichte, die weniger als 1000 Wörter beinhaltet, gibt es m. E. kein Platz für zwei Figuren.
Insgesamt finde mich in dem Geistesstand, in dem sich Deine Protagonistin befindet, noch nicht gut zurecht: Einerseits ist sie zeitlich und räumlich desorientiert, lebt in ihrer Kindheit (siehe Anfang), was für eine fortgeschrittene Demenzerkrankung spricht. Andererseits kann sie soziale Situationen noch sehr kompetent einschätzen
Ich glaube, man fällt nicht in die Demenz, sondern steigt allmählich in sie hinab.
Du willst damit sagen, dass sie Filmhandlungen grundsätzlich folgen kann?
Nein! Sie kann die Sendungen nicht mehr folgen, will das aber nicht zugeben. Sie verdrängt und verleugnet die furchtbare Wahrheit.
Du könntest zum Beispiel überlegen, ob Du die Geschichte nicht einfach damit beenden könntest
Eine so kurze Geschichte ist wie ein Witz, sie lebt von der Pointe.

Danke auch für die Kommas und der "Kleinkram". Ich habe verbessert. Auf Deine nächste Geschichte wartend,

Viele Grüße
Eraclito

 

Hallo GoMusic

Vielen Dank für Deine ausgezeichneten Anmerkungen. Sie haben mir geholfen, die Form und den Inhalt meines Textes zu korrigieren. Was den Inhalt betrifft, so drehen sich die von Dir angesprochenen Punkte um die Frage, ob meine Prota verrückt ist oder nicht. Das ist genau die Frage, die sich der oder die Lesende stellen muss. Meine Prota ist eine sensible, intelligente Frau, die ihre Orientierung verliert. Die Art und Weise, wie sie aufwacht, während sie ihren Träumen nachgeht, ist sowohl ein Signal als auch ein Symbol dafür. Dank deiner Überlegungen habe ich gesehen, dass ich ein bisschen genauer sein muss. Was den Ort der Handlung betrifft, so ist es kein Krankenhaus, sondern ein Altenheim für pflegebedürftige Menschen, aber letztendlich gibt es kaum Unterschiede.

Einen schönen Tag, noch vielen Dank und ich freue mich darauf, bald von Dir zu lesen.
Viele Grüße
Eraclito

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @Eraclito

ich finde die Szene feinfühlig erzählt und in der Grundhaltung überraschend gut gelungen. Es ist ja nicht leicht, sich eine so fremde Innensicht überzeugend auszumalen, mir erscheint das aber zum allergrößten Teil überzeugend.

Sprachlich bin ich allerdings nicht ganz so zufrieden. Für mich entsteht in der Sprache keine Atmosphäre. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, habe aber einen Verdacht. Zum einen schreibst du relativ umständlich. Nicht übermäßig, aber immer noch prägend.
Beispiel:

Seine Wörter wecken mich aus meinen Tagträumen heraus.
Man könnte statt dessen auch schreiben:
"Er weckt mich aus meinen Träumen".
Dazwischen liegen einige Schritte, die, wenn du einen etwas umständlichen Stil schreiben willst, immer noch knapper wären. Beispiel:
"Seine Wörter wecken mich aus meinen (Tag)träumen."

Ein anderes Beispiel:

Als er sich entfernt
statt einfach: "als er (weg)geht"

Oder auch:

dass diese tiefe Freude, die mich erfüllt, jede Sekunde entweichen könnte
Vor allem "entweichen" fällt als etwas gesuchtes Wort auf, aber auch sonst drückt der Satz ziemlich auf die Tube ...

Oder:

Dieses ist mit einem Band umwickelt, dessen Knoten ich nicht entwirren kann.
"Dieses" klingt schrecklich bürokratisch, und statt "entwirren" könnte man auch "öffen" oder "lösen" schreiben.


Oder auf der Ebene der Satzstruktur:

Gerädert fühle ich mich, als hätte ich nicht geschlafen.
Eine (Schein-)Inversion statt dem einfacheren "Ich fühle mich gerädert".

Zum anderen bzw. zum weiteren gebrauchst du ziemlich viele Bilder. Der Einfallsreichtum und auch die gefundenen Bilder gefallen mir an sich gut. Aber es ist immer wieder etwas viel - und wieder nicht so richtig übermäßig, aber so, dass es auffällt.

Beispiel:

Erinnerungen, die in den Schlickablagerungen der Vorzeit begraben waren, steigen wie Blasen auf.
Schlickablagerungen, Vorzeit, Blasen: Zumindest die Blasen könnten gerne weg.

Oder:

Als er sich entfernt, zerstreuen sich die kleinen unsichtbaren Wellen, die uns verbunden haben, und die Einsamkeit füllt den Raum.
In meinen Augen viel besser wäre: "... zerstreuen sich die kleinen unsichtbaren Wellen, die uns verbunden haben." Und Punkt. Die Einsamkeit spürt man eh, und wenn nicht, nützt es auch nichts, wenn du sie hinschreibst. (Auch "füllt" hier die Einsamkeit wieder den Raum, während sie doch auch schlichter Platz greifen könnte.)

Oder:

Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängen sich, wirbeln vor meinen Augen, bevor sie verblassen.
"Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängen sich, bevor sie verblassen" - erschiene mir schon viel stärker. (Wobei ich in dem Fall sogar auch das erste Bild etwas schräg finde: Gesichter, die hinter der Stirn kreisen. Die Grundidee finde ich nicht schlecht, aber wenn ich mir das so richtig vorstelle, kommt mir das recht lustig vor ... A apropos: Der Humor-Tag: ist das Absicht?)

Nimm dazu noch Formulierungen wie "jede Sekunde", "die kleinste Bewegung", "alle Muskeln" - all das zusammengenommen führt dazu, dass ich den Eindruck habe, ich spüre das Bemühen, das du darein legst, den Text mächtig wirken zu lassen. Nur wirkt es ebne nicht mehr, wenn man das Bemühen spürt ...

Kurz: Im Ergebnis lese ich einen Autorentext, d.h. die Schreibtischatmosphäre überwiegt.

Ach, und noch eine Detailkritik:

Ich helfe dir beim Einnehmen deiner Mahlzeit!
So spröde spricht doch kein Sohn, auch nicht, wenn er sich entfremdet hat ...

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Hallo Erdbeerschorsch
Danke für deine Freundlichkeit und für die Zeit, die Du für meine Prosa geopfert hast.

Im Ergebnis lese ich einen Autorentext, d.h. die Schreibtischatmosphäre überwiegt
Ich hatte erwartet, dass mir jemand diese Bemerkung zu meiner Schreibweise macht. Das ist wahr: Es riecht nach Schweiß oder Parfüm, um ihn zu verdecken. Die Frage, die ich mir stelle: Ist dieser Geruch erträglich oder nicht? Für Dich scheint es ein bisschen zu viel!?
A apropos: Der Humor-Tag: ist das Absicht?)
Ohne Humor und ohne Bilder wäre dies die Atmosphäre eines Berichts über einen Besuch in einem Heim für pflegebedürftige Menschen.

Aufgrund all deiner Hinweise konnte ich durch Korrekturen meine Kurzgeschichte kürzen und verbessern. Nochmals herzlichen Dank.
Viele Grüße
Eraclito

 
Zuletzt bearbeitet:

Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.​

...​
Er küsst mich auf die Wange und schielt dabei unauffällig auf seine Uhr.

Hm, am meisten wundert mich, dass bei diesem kleinen Text keiner „Authentizität“ hinsichtlich der erzählenden Stimme einfordert, Authentizität, die ich an sich und in aller Regel eh auch nur in Protokollen und Gerichtsakten erwarte als in literarischen Texten. Nun, kann sein, dass ich mit dieser Einleitung eines „auf die Nase“ kriege oder gar darauf falle, dann spürte ich nämlich, das ist meine Nase, mein Schmerz – aber verursacht durch (mindestens) einen andern (das Indefinitpronomen „ander/e“ galt bis zu Luthers Zeiten als „zwei“, was noch mitschwingt im anderen, der ja mehr als ich allein [was schon ziemlich egozentrisch klingt] ist.

Schön, das Zitat zur Hand - dass zum Glück auch der/die/das andere zählt - das dann schon in die Nähe des Religiösen (schützende Hand, Zuflucht) deutet. Wir sind nix ohne den andern und darum ist „Zweifel“ angesagt - der Besuch, die Pflegekraft als der/die/das Andere ...

Ein gelungener Text, wie ich finde,

@Eraclito

Zwi Flüsken (ohne, dass es grammatische Schnitzer sind ...)​


Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängen sich, wirbeln vor meinen Augen,…​
vllt. statt „drängen“ „drängeln“ sich

Das hübscheste Baby, das vollkommenste Ding, das ich je vor Augen hatte …​
besser vllt. „vollständigste“, den „kommen“ birgt selbst im Superlativ die Veränderung/Bewegung ...

Wen(n)‘s interessiert, schaue hier mal rein​

"Tsitsi Dangatemba anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 24.10.2021 in Frankfurt/Main", wie Cartesius entkolonialisiert wird.

https://religionsphilosophischer-salon.de/keys/tsitsi-dangarembga-friedenspreis-rede

gern gelesen vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Eraclito!

Leider stehe ich derzeit unter Schreibdruck und habe wenig Zeit für fremde Textarbeit. Daher nur kurz zum ersten Absatz:

Als ich meine Augenlider öffne, vermisse ich die Blumentapete in meinem Zimmer. Der Raum ist lichtüberflutet. Vor einer riesigen Fensterfront steht mein Vater unbewegt, ein Paket in der Hand.

Man nennt es neuerdings die Alsheimerkrankheit, Texte mit Als zu beginnen.
Ginge leicht zu umschiffen, zumal im Präsens:
Alt: Ich öffne meine Augenlider, sofort vermisse ich die Blumentapete ...
Oder der dritte Satz: Unbewegt deutet darauf hin, dass keine Bewegungsenergie von außen erfolgt.
Alt: Mein Vater steht regungslos vor einer riesigen Fensterfront und hält ein Paket in der Hand.

Möglicherweise ist "unbewegt" in deinem dritten Satz als Einschub zu werten. Dann fehlte ein Komma. Bin aber nicht sicher.

Sorry for short comment,
LG Manuela :)

 

Gruß@Friedrichard

Danke für Deine Korrekturen und Dein Link! Ich freue mich, dass du Dir Zeit genommen hast, um mit mir über die Deutung von Descartes' Zitat zu reden. Tsitsi Dangarembga hat recht: „Ich denke also bin ich“ ist komplexer als man denkt. Leute wie Husserl, Heidegger oder Jaspers haben es eruiert. Hat m.E. aber nichts zu tun mit: „Da jemand, der »Ich denke, also bin ich« denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen.“ Eine Textvergewaltigung!
Zitat aus dem Discours de la méthode:
Nachdem ich bemerkt hatte, dass es in dem Satz: Ich denke, also bin ich, nichts gibt, was mir versichert, dass ich die Wahrheit sage, außer dass ich sehr deutlich sehe, dass man, um zu denken, sein muss, urteilte ich, dass ich als allgemeine Regel annehmen kann, dass die Dinge, die wir sehr klar und deutlich begreifen, alle wahr sind; dass es aber nur eine gewisse Schwierigkeit gibt, genau zu bemerken, welche diejenigen sind, die wir deutlich begreifen.“
Für Descartes ist das menschliche Denken immer potenziell irreführend. Für mich in diesem Titel bedeutet es nur: Ich denke noch, also bin ich NOCH!
Liebe Grüße
Eraclito

 
Zuletzt bearbeitet:

Hat m.E. aber nichts zu tun mit: „Da jemand, der »Ich denke, also bin ich« denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen.“ Eine Textvergewaltigung!

Nix zu danken,

lieber Eraclito,

aber "Textvergewaltigung" find ich nicht - nehmen wir den historischen Status des "Leibeigenen" an (muss ja nicht gleich ein "Sklave" sein), dessen Halsring ihn buchstäblich im doppelten Sinne für jederman sichtbar als "ständig/ständisch" abhängig verrät und selbst wenn er von "s-ich spricht" (Denken als Selbstgespräch, was es ja ist als ein "bei sich selbst" ist, ist eher sehr still) dürfte ein anderes Ergebnis liefern als der gleiche ausgesprochene Gedanke des Freien. Und

Zitat aus dem Discours de la méthode:

Nachdem ich bemerkt hatte, dass es in dem Satz: Ich denke, also bin ich, nichts gibt, was mir versichert, dass ich die Wahrheit sage, außer dass ich sehr deutlich sehe, dass man, um zu denken, sein muss, urteilte ich, dass ich als allgemeine Regel annehmen kann, dass die Dinge, die wir sehr klar und deutlich begreifen, alle wahr sind; dass es aber nur eine gewisse Schwierigkeit gibt, genau zu bemerken, welche diejenigen sind, die wir deutlich begreifen.“

Im "Begreifen/Begriff" kommt das natürlichste Handwerkszeug von unseren armen Vettern bis zum Homo durch, selbst wenn wir nur die Tastatur bedienen.

Du sagst

Für Descartes ist das menschliche Denken immer potenziell irreführend. Für mich in diesem Titel bedeutet es nur: Ich denke noch, also bin ich NOCH!
und schielst mit dem "NOCH" auf die Endlichkeit, zumindest auf Grenzen, die auch vom anderen Ich gesetzt werden. Und hat Robinson auf seiner Insel nicht auch verschwiegen auf den andern gehofft und gewartet, sich nach einem anderen Ich gesehnt.

Der Witz (und eben ans 18. Jh. gebunden,) ist der Status in Denken und Handeln von Robinson und Freitag. Die Versicherung und Bestätigung, dass einer was auch immer er sei, im Zwei-fel immer der andere ist. Wobei Robinson sich ja tatsächlich als Befreier fühlen darf ... wie die Kolonisatoren als die, die den "Eingeborenen" die Zivilisation (und geordnetes Denken) bringen.

Soweit frei Hand, später vllt. mehr vom

Friedel

 

Hey@Manuela K.

Daher nur kurz zum ersten Absatz:
Ein Schreiberling wie ich freut sich über jede Leserin.

Man nennt es neuerdings die Alsheimerkrankheit, Texte mit Als zu beginnen.
Passt zum Text. Danke für den Hinweis. Ich habe die Als gejagt und die Hälfte von ihnen gekillt.

Vielleicht kann ich mich bei Dir auch mal revanchieren.
Liebe Grüße
Eraclito

 

Hi Eraclito,
danke, dass du selbst diesen kurzen Kommentar beantwortest. :)
Ein Satz, der mit "Als" beginnt, führt üblicherweise in eine Vergangenheitsform.
z.B. Als es zu regnen begann, spannte ich den Schirm auf.
Für Präsens passt er nicht so gut.
Viel Schreibfreude noch!

 

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