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Am eigenem Haus vorbei

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12.01.2003
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Am eigenem Haus vorbei

Am eigenem Haus vorbei

Als Herr Tanges um halb elf Uhr vormittags ins Erdgeschoss seines Hauses hinabstieg, kam er sich federleicht vor und verspürte unbändige Lachlust. Am Abend vorher hatte er mit einem Freund tüchtig getrunken, zuerst Wein, dann Schnaps, dann Bier, dann alles durcheinander. Es war wohl ein bisschen viel gewesen, denn auf den Heimweg konnte er sich durchaus nicht mehr besinnen. Wozu auch? Er hatte heimgefunden, das stand fest, das genügte, er war spät aufgestanden und nun erwartete ihn drunten das Frühstück.
Das Frühstück? Das Spätstück! Erwartete das Spätstück ihn oder erwartete er das Spätstück? Vielleicht lauerten sie beide aufeinander. Die Vorstellung, das er das listige Spätstück sogleich überrumpeln werde, erheiterten Herrn Tanges, er prustete los wie ein Zerstäuber. Er war sein letztes Lachen an diesem Tag.
Im Erdgeschoss angelang, beschloss er, einen Blick in den Garten zu tun. Er hörte seine Frau in der Küche hantieren, doch zog es ihn zu ihr nicht hin. Leute, die früh aufgestanden sind, haben eine hohe Meinung von sich und behandeln spät auf Steher streng, verletzend oder gar hämisch. Ein Garten hingegen ist die reine Güte; er schaut einen nicht an, sondern lässt sie anschauen. Er ist da, nur da und sehr grün. Grün aber braucht der Mensch, weil es ihn erfrischt - Grünes sehen ist fast so gesund wie Grünes essen.
Herr Tanges erging sich ein wenig im Garten. Als er zu den Himbeersträuchern kam, gewahrte er seinen Hund, der eifrig ein Loch in die Erde scharrte. Er pfiff ihm. Das Tier hielt inne, äugte und lief herbei. Anstatt aber freudig an seinem Herrn hochzuspringen, umkreiste es ihn drohend, mit bösem Geknurrte und Gebell. Er hat etwas gegen mich, dachte Tanges. Vielleicht wittert er den Alkohol, der mir aus den Poren dunstet. “Komm her!” befahl er und klopfte begütigend an sein Bein, doch der Hund nahm es für eine Herausforderung - er schnappte nach ihm, und als Tanges zuschlug, Biss er ihn in die Hand. Zorn packte diesen, gleich darauf aber Angst. Am Ende war das Tier tollwütig! Er trat Rückweg an, um mit seiner Frau darüber zu reden. Langsam nur kam er von der Stelle, denn er mußte den Hund im Auge behalten; einem Kreisel gleich, drehte er sich seinem Haus zu.
“Was tun Sie in unserem Garten?” schrillte es, und Herr Tanges sich umwandte, blickte er in das Gesicht seiner Frau. Er konnte nicht lange hinblicken, weil es sich des Hundes erwehren mußte, der ihn nun noch ärger bedrängt.
“Maria!” rief er “Ihr seid wohl alle verrückt geworden!”
“Noch einmal meinen Vornamen, und ich rufe die Polizei!”
Wahrhaftig, so sprach sie mit ihm. Es war nicht zu glauben: eines kurzen Rausches wegen verleugnete sie die lange Ehe.
“Wer ist der Mann?” erkundigte sich eine Kinderstimme. Herrn Tanges traf das besonders schmerzlich, denn er liebte seinen Sohn. Und nun hatte man den Jungen aufgehetzt!
“Hinaus!” rief die Frau.
“Hinaus!” schrie der Knabe, mutig im Schutz der zornigen Mutter, und der Hund bellte dasselbe. Alle drei rückten gegen Herrn Tanges vor. Da gab der Mann nach, wie ein Dieb verließ er sein eigenes Grundstück.

Ratlos durchschritt er die Straße, bog um die nächste Ecke, ging weiter, bog wieder ein und so fort, eine ganze Weile lang; seine Gedanken wollten sich gar nicht ordnen. Plötzlich fiel ihm ein, er könne sich vielleicht am Abend zuvor, bei der trunkenen Heimkehr, übel betragen und den Abscheu seiner Familie erregt haben. Wahrscheinlich war das freilich nicht, aber es war immerhin möglich; im Rausch ist vieles möglich, eigentlich alles.
Vielleicht, überlegte Tanges, hat Kirch mich gestern nach Hause gebracht, vielleicht weiß er mehr. Ich werde ihn fragen.
Der Freund wohnte nicht weit; fünf Minuten später läutet er an seiner Tür. Kirch öffnete und blickte kühl an. “Sie wünschen?” fragte er.
“Was soll der Unsinn?”
Der andere zog ein spöttisches Gesicht. “Das frage ich mich auch!” sprach er und warf die Tür zu.
Selbst der Freund stand gegen ihn! Was mochte geschehen sein, dass alle Türen sich vor Herrn Tanges schlossen?
Ich blicke nicht durch, gestand sich der Arme. Zu den Meinen kann ich nicht zurück, jedenfalls heute nicht, die waren gar zu böse. Wo aber soll ich nächtigen? Bei Cäsar natürlich. Er ist der bessere Freund, ich hätte es wissen sollen, wir kennen uns seit der Schulzeit, das bindet.
Cäsar aufsuchen hieß eine kleine Reise tun, und daran war allmählich der Umzug mit dem Freunde erloschen. An diesem Tag aber überwand Herr Tanges seine Trägheit, er fuhr eine gute Stunde, bis er bei Cäsar Wohnung anlangte. Auf der Treppe stolperte er. Schlecht! Dachte Tanges. Schon den ganzen Tag stolpere ich.
Er läutete. Schritte kamen näher, die Tür ging auf, der Schulfreund zeigte sich, “Ich kaufe nichts!” sagte er unfreundlich. “Ich bestelle nichts, ich unterschreibe nichts, ich habe kein Geld. Guten Tag!” Die Tür fiel ins Schloss.
Während Tanges die Treppe hinabstieg, überkam ihn abermals das Empfinden, er sei federleicht, und schwebte. Auch die Lachlust meldete sich wieder, doch war es eine andere als vorhin.
Auf der Straße - endlich, endlich! - begriff Tanges, was geschehen sei: ihm war, kurz gesagt, die Gleichheit mit sich selber abhanden gekommen. Er hatte seine Vergangenheit eingebüßt wie eine Brieftasche, er konnte sich nicht mehr ausweisen. Sonderbar! Dachte er. Zwar lebe ich, doch scheint es, als hätte ich nie gelebt, denn es sind keine Spuren geblieben. Und dabei war ich von meinem Dasein so fest überzeugt! Nein, es kann keine Einbildung gewesen sein. Wie aber habe ich das alles verloren! Vielleicht durch eine ungeschickte Bewegung? Richtig, so wird`s sein: ich bin aus dem Weltplan herausgerutscht und passe nun nirgends mehr hinein. Jeder Komet ist planmäßiger als ich.
Inzwischen war es ein Uhr nachmittag geworden. Obwohl Herr Tanges, wie er meinte, dem Gefüge der Welt nicht mehr angehörte, spürte er Hunger, denn um diese Zeit pflegte er zu essen - sofern er überhaupt von Gepflogenheiten reden durfte. Er hielt Umschau nach einer Gastwirtschaft, doch damit stand es in dieser Gegend nicht zum besten; der abgelegene Vorort war nur zum Wohnen eingerichtet.
Trübe schritt Herr Tanges an vielen Gärten, an vielen Häusern vorbei; manche ähnelten ungemein dem Haus, welches er bislang für das seine gehalten hatte. Deshalb war er auch nicht sonderlich erstaunt, als eine Frau sich aus einem Fenster beugte und ihm zurief: “Zeit, dass du kommst! Die Suppe steht schon auf dem Tisch.”
Ohne lange zu überlegen, klinkte Tanges die Gartenpforte auf und trat ein; er hatte Hunger. An der Haustür sprang ihm ein Knabe entgegen. “Vati, es gibt Eierkuchen!”
“Fein, mein Junge!” erwiderte Herr Tanges. Er streifte den Staub von den Schuhen, hing seinen Hut an den Haken, gab der Frau einen flüchtigen Kuss, setzte sich zu Tisch und begann die Suppe zu löffeln. Während des Essens betrachtete er die Frau und den Jungen, vorsichtig, damit es ihnen nicht auffiel, denn sie hielten ihn offenbar für den Hausvater. Die Frau war nicht übel, und auch der Junge gefiel ihm; das Essen schmeckte gut.
Ach was, dachte er, Familie ist Familie, die Hauptsache bleibt, man hat eine. Ich kann von Glück reden, dass ich wieder untergeschlüpft bin, es sah vorhin trübe aus. Gewiss, ich habe mir die beiden hier nicht ausgesucht, doch was sucht man sich schon aus? Man wählt ja immer, wie man muss. Nein, nein, der Tausch ist ganz gut, er verspricht sogar einiges - zumindest Abwechslung. “Was schaust du uns so an?” fragte die Frau. “Hast du etwas auszusetzen?”
Herr Tanges wischte sich die Lippen mit dem Mundtuch ab. “Im Gegenteil, alles ist in bester Ordnung.” Er griff in die Obstschale, nahm einen Apfel und begann ihn zu schälen. Bald, das wusste er, würde er sich eingewöhnt haben. Vielleicht hatte er immer schon hier gelebt und sich das andere Dasein nur eingebildet. Wer weiß schon genau, ob er träumt oder lebt?
Es läutete. “Bleib sitzen!” sprach die Frau, stand auf und ging hinaus. Da sie die Tür angelehnt ließ, konnte man genau hören, was im Flur vor sich ging.
“Wohin? Was soll das!” erklang streng die Stimme der Frau. “Sofort hinaus - oder ich rufe meinen Mann!”
“Du bist wohl nicht bei Trost!” antwortete eine Männerstimme. “Lass die Späße, ich habe Hunger.”
“Hier ist keine Armenküche. Hinaus! Ich werde Sie lehren, mich zu duzen!”
Nun, der Streit ging weiter, doch nicht lange. Der Mann räumte das Feld, und die Tür knallte hinter ihm zu. Mit rotem Gesicht trat die Frau wieder ein.
“Solch eine Frechheit! Und du stehst mir natürlich nicht bei.”
“Der Bursche tat mir leid”, entgegnete Herr Tanges. “Sicherlich plagte ihn der Hunger oder er hat unser Haus mit dem seinen verwechselt.”
“Verwechselt?” rief die Frau. “Der hat bestimmt kein Haus, auch keine Familie.”
Herr Tanges erhob sich eilig. “Eben darum will ich ihm ein Mittagessen spendieren. Ich bin sofort zurück.”
Er lief hinaus und holte den Fremden an der Gartenpforte ein. Der Mann war bleich vor Erregung, seine Augen blicken verwirrt.
“Ich kann mir denken”, sprach Tanges, “wie Ihnen zumute ist, und ich will helfen.” Er zog sein Notizbuch, kritzelte eine Zeile und riss das Blatt ab. “Hier, mein Freund, haben Sie eine gute Adresse. Fahren Sie hin, aber rasch - sonst wird das Essen kalt.”
Der andere nahm den Zettel, fand jedoch keine Worte. Er hätte sie auch nicht mehr anbringen können, denn Herr Tanges enteilte bereits.
“Du bist viel zu gutmütig”, meinte die Frau, als er eintrat. Er setzte sich und nahm den Apfel wieder vor. “Durchaus nicht. Ich habe nur vorsorglich gespendet. Was heute ihm passiert, kann morgen mir zustoßen.”
Am nächsten Tag fuhr Herr Tanges in die Stadt und suchte die Straße auf, in der er gewohnt hatte. Als er bei seinem Haus vorbei schritt, sah er seine Frau mit dem anderen im Garten sitzen. Die Frau strickte, der Mann las Zeitung; beide schauten zufrieden drein. Da war auch Herr Tanges zufrieden.

 

Anmerkung: Smilies wurden aus der Geschichte entfernt! Bitte keine Smilies in den Geschichten selbst posten, danke.

 

Hi Angela Engel,
Anmerkung: Wenn ich jemals Smilies verwenden sollte, dann würde ich ein paar in diese Antwort setzen, womit ich sagen will, dass mir deine Satire sehr sehr gut gefallen hat.
Sind Männer austauschbar, solange man ihnen ein Dach über dem Kopf, einen Garten und was zu Essen bietet? Interessanter Gedanke. Runde Geschichte.
Grüße von Emma

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Angela,

ich muß gestehen, ganz am Anfang stand ich deiner Geschichte ein klein wenig mißtrauisch gegenüber. So nach dem Motto: Okay, der Kerl hat sich gestern betrunken, und jetzt ist sicher was ganz Merkwürdiges passiert..

Und ich muß zugeben: Das ist es dann ja auch! Die zugrundeliegende Idee ist einfach großartig, und ich finde sie auch sprachlich gut rübergebracht.

Allerdings habe ich noch ein paar kleine Anmerkungen:

"Im Erdgeschoss angelang, beschloss er.." (da fehlt ein "t")

"eine hohe Meinung von sich und behandeln spät auf Steher streng.." (es heißt Spätaufsteher)

"Ein Garten hingegen ist die reine Güte; er schaut einen nicht an, sondern lässt sie anschauen." (das kommt ein wenig merkwürdig rüber, meinst du, er "läßt sich anschauen"?)

"mit bösem Geknurrte und Gebell" (ein "t" zuviel)

"Er trat Rückweg an, um mit seiner Frau" (da fehlt ein "den")


Nichtsdestotrotz, spätestens, als der andere (der richtige?) Hausherr an der Tür klopft und rausgeworfen wird, konnte ich nicht mehr ("..hinaus - oder ich rufe gleich meinen Mann!")

Hab sehr gelacht und mich gut amüsiert! :thumbsup:

Die Trainspotterin

 

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