Am See war Sommer
Der Regen hatte wieder aufgehört. Auf den Straßen dampfte es noch. Aber die Sonne begann schon wieder alles zu trocknen und der See lag genau wie vorher da, schön wie in einem Bilderbuch. Von Wiesen und Bäumen umgeben, durch die Bäume am anderen Ufer hindurch konnte man einige Villen erkennen.
Eva ging den Sandweg durch die Wiesen spazieren, der warme Wind trocknete sie schon wieder. Sie hatte sich nicht untergestellt, als das lauwarme Wasser vom Himmel hinabgestürzt kam. Der Regen hatte ihr nichts ausgemacht, im Gegenteil es war eher erfrischend gewesen. Die anderen Menschen kamen jetzt unter den Bäumen hervor. Sie blickte den letzten Wolken nach, die gerade hinter dem See verschwanden, um weiter zu ziehen und andere Menschen zu erfrischen.
Vom See kam ein Junge herauf gelaufen. Er fiel ihr sofort auf und sie wandte den Blick von den letzten Wolkenfetzen auf ihn. Der bemerkte diesen Blick wohl, denn er lächelte und kam auf sie zu. Er fragte sie, ob sie zum See wolle, sie lächelte und nickte, obwohl sie ohne Ziel gekommen war, nur um die Sonne zu genießen. Sie fühlte ein Kribbeln in ihrem Bauch, dieser Junge war etwas besonderes, das spürte sie sofort und ganz deutlich. Er bot ihr an, sie zu einer guten Stelle zu führen, wo es nicht so voll war. Sie lächelte wieder und sagte „Gerne.“ Er führte sie ein Stück weiter den Weg entlang und dann einen Trampelpfad in die Wiesen hinein. Um sie herum zirpten die Grillen.
Es war ein schöner Tag. Das Mädchen war schön, dass hatte der Junge sofort gesehen, er hatte echt Glück. Sie kamen an einen kleinen Strand an dessen Rand eine Trauerweide stand, die angenehm kühlen Schatten spendete. Sie legte sich in den Sand und fragte ihn ob er ihr nicht Gesellschaft leisten wolle. Oh ja er wollte, vielleicht würde ihn das ein wenig von Vera ablenken, vielleicht ein ganz kleines bisschen, dafür wäre er schon dankbar. Denn obwohl die Sonne schien und alle Menschen mit ihrer Wärme beschenkte, fror er. Er fror schon seit einigen Tagen und nichts half ihm. Vielleicht würde ihr Lächeln ihn ein wenig wärmen, es war ein bezauberndes Lächeln, fast so schön wie Veras. Aber leider nur fast.
Er setzte sich neben sie. Sie tauschten ihre Namen aus. Als sie ihn fragte, wie es ihm ginge, sank sein Blick um eines Schattens Breite. Sie bemerkte es, er log und sagte „bestens“, er wollte wohl nicht über das reden, was ihn bedrückte. Sie war es zufrieden. Sie sah ein wenig in den Himmel und genoss das wohlige Kribbeln in ihrem Bauch, dieser Junge war mehr als nur besonders, er war außergewöhnlich und noch mehr.
„Schönes Wetter heute oder?“, was für ein schlechter Anfang für ein Gespräch, er hätte sich selbst Ohrfeigen können. Aber irgendwie, er wusste nicht wie, wurde daraus trotzdem gutes Gespräch über Gott, die Welt und andere Belanglosigkeiten. Und er dachte nicht mehr so sehr an Vera und ihm wurde wärmer. Er lud sie für den Abend auf eine Party ein.
Was für ein schöner Tag für sie: frei, schönes Wetter und dieser Junge, den sie, sie war sich nicht 100%ig sicher, aber doch ziemlich sicher liebte. Sie konnte dieses Kribbeln in ihrem Bauch ziemlich sicher deuten, es kam von dem Jungen. Der Junge sagte, er müsse los. Sie blieb noch ein wenig liegen. Beschwingt schritt er nach Hause, er hatte ein Heilmittel gefunden und vielleicht, würde er an ihr gesunden, hoffentlich. Wenn er so unter der Sonne dahin schritt, war er sich sicher, dass er gesunden würde, wenn er nur genug Zeit hätte, genug Zeit, Zeit.
Die Sonne wärmte selbst im Schatten, sie wärmte alles und jeden und sie besonders. Sie blinzelte in Sonnenstrahlen, die in dicken Bündeln hell leuchtend durch das Laubwerk der Trauerweide brachen. Nach einigen Minuten erhob sie sich und ging fröhlich summend nach Hause.
Am Abend trafen sie sich im Park und gingen zu der Party, spät nachts brachte er sie Heim. Die Zeit mit ihr war schön gewesen nur leider viel zu kurz.
In den nächsten Tagen trafen sie sich noch oft. Der Sommer schien ewig und sie war vollkommen in ihrem Glück, sie war sich sicher, dass sie ihn liebte, sehr sicher und das war schön. An einem Abend redeten sie auch über Vera, aber sie wollte seine Liebe zu Vera nicht spüren.
Er gewann sie von Treffen zu Treffen lieber und räumte ihr sogar einen Platz in seinem Herzen ein, einen Platz der wuchs und bald fast genauso groß war wie Veras. Aber mehr Platz würde er ihr wohl nie einräumen können, das spürte er. Denn Vera hatte eine Wunde in sein Herz gerissen, die vielleicht nie verheilen würde, die man mit Verbänden nur verdecken konnte, mit Sonne, mit Freude, mit Eva. Aber heilen würde die Wunde wohl nicht.
Eva merkte von all dem wenig. In ihrer Liebe war sie blind. Als der Sommer seinen Höhepunkt erreichte, erreichte auch Eva Glück ihren Höhepunkt. Eines Abends saßen sie am See, der Mond hing silbrig schimmernd über ihnen, sie rauchten seine Zigaretten. Sie rauchte normalerweise stärkere, aber diese schmeckten gut, sie schmeckten nach ihm, nach Glück. An diesem Abend eröffnete er ihr, dass er sie liebte, es war überfällig und eigentlich mehr eine Belohnung für ihre Liebe und die Freude, die sie ihn gebracht hatte und die Heilung, die sie an ihm vollzogen hatte und hoffentlich zu Ende führen würde, als der Ausdruck seiner innersten Gefühle. Er erzählte ihr, dass er sie schon von Anfang geliebt hatte auch wenn es nicht stimmte, er wusste, dass es sie glücklich machen würde.
Für sie war es der Schlüssel zum Himmel und er führte sie in dieser Nacht durch das Tor. Erst am Morgen kehrten sie vom See heim.
Die darauf folgende Zeit wurde für sie noch schöner als die vorige, ihr Glück stand im Zenit und auch er dachte nicht mehr an Vera. Er war fast jede Minute mit Eva zusammen. Die Wunde war nicht geheilt, aber der Schmerz war betäubt und an die Stelle des Schmerzes war Freude getreten. Die Blumen dufteten mehr in dieser Zeit, die Vögel sangen lauter und der Sommer war in allen Dingen und jedem Menschen. Die Leute lächelten ihnen zu, so sichtbar war ihr Glück.
Aber eines Tages musste er weg, mit der Familie zu den Großeltern. Sie wartete auf ihn, allein oder mit Freunden am Strand liegend. Aber die Sonne war nicht mehr ganz so warm ohne ihn. Sie zählte die Ewigkeiten bis zu seiner Rückkehr, ungeduldig wartend, schmachtend. Und nichts war mehr so hell, wie es noch vor kurzem war. Sie sehnte sich unendlich nach dem Tag, an dem er zurückkehren würde.
Auch ihm erging es schlecht. Ohne Eva brach die Wunde wieder auf und er saß die Tage über auf dem Sofa und starrte vor sich hin, während die Familie Kuchen aß, Anekdoten erzählte und Kaffe trank, saß er da und dachte an Vera, nicht an Eva, an Vera. Wie lange war es her, dass sie ihn verlassen hatte. Höchstens einen Monat, er hatte die Zeit mit Eva nicht in Tage und Stunden gepresst. Es schien schon Ewigkeiten her zu sein. Und obwohl für ihn schon so viel Zeit vergangen war, liebte er Vera immer noch so sehr, zu sehr und vor allem mehr, als er Eva liebte. Er wusste, dass er Evas große Liebe war, aber Vera seine. Die Liebe ist grausam, dachte er sich, sie reißt einen und zwingt einen dazu, andere zu reißen.
Endlich kam er wieder. Am späten Nachmittag wollte er sie treffen. Sie war voller Ungeduld und ging ihren Freunden den ganzen Tag auf die Nerven. Als sie sich endlich aufmachte, begann es zu regnen, aber sie merkte ihn fast gar nicht.
Als er nach Hause kam war Vera da. Vera war da, zu ihm gekommen und sagte, dass es ihr Leid tue. Vera war da und fragte, ob er mit ihr ausgehen würde, jetzt. Ja, ja er wollte, er wollte nichts lieber. Und doch es tat ihm Leid um Eva, so unendlich Leid, dass die Wolken an seinem Himmel, diesen eher wie einen Winterhimmel aussehen ließen. Und er neben der unendlichen Freude auch tiefe Trauer empfand, die ihn fast zerriss. Er musste eine Träne weinen, als er ihr einen Brief schrieb. Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, wahrscheinlich nie mehr. Es tat ihm alles Leid, es tat ihm alles so sehr Leid. Aber er gehörte zu Vera, dagegen konnte er zwar ankämpfen, aber es gab keinen Sieg für ihn.
Der Sommer ging zu Ende. Auf diesen Tag folgte der Herbst, die Sonne schien zwar wieder, aber nie mehr so warm wie vorher und die Menschen waren traurig an jenem Tag, weil sie spürten, dass der schönste aller Sommer, in ihrer aller Erinnerung zu Ende ging, früh zu früh. Jeder spürte das, jeder. Er spürte es am Meisten und es verätzte seine Seele und das alles, obwohl Vera wieder da war und nur das machte es erträglich und sogar schön, solange sie bei ihm war. Nur wenn sie weg war, spürte er die Wunden.
Eva spürte es noch nicht, sie war glücklich.
Triefend nass stand sie lächelnd und voll Vorfreude vor seiner Tür. Dann sah sie den Zettel und alles Gute und Warme in ihr hörte auf zu sein. Eis nahm den Platz ein. Und sie driftete weg, für immer, für sie gab es nichts mehr, nur Schmerz.
Der Winter, der auf den Herbst folgte, war kalt und dunkel und lang.
Er schien ewig.