Was ist neu

Amerikanisches Roulette

Mitglied
Beitritt
31.03.2012
Beiträge
2
Zuletzt bearbeitet:

Amerikanisches Roulette

Ben sah den grauen Wagen bereits, als er mitsamt einer Wolke aus Sand am Horizont erschien. Seine verbeulte Front waberte in der Hitze der Wüste, während er auf der verdreckten Straße auf ihn zuraste. Ben Myers stand am Rand der apshaltierten Staubpiste und winkte dem Fahrer des Autos zu wie ein Ertrinkender der Wasserwacht.
Gewissermaßen war er am Etrinken, mit dem Unterschied, dass nicht gewaltige Wassermassen sein Leben bedrohten, sondern die heiße und trockene Luft dieser gottverdammten Wüste. Gerade einmal eine Stunde war vergangen, seit der dichte schwarze Rauch aus der Motorhaube seines Volkswagens das Sand- und Kakteenpanorama vor ihm getrübt hatte, und schon fühlte er sich schlapp und ausgezehrt. Seine letzte Flasche Wasser, die so heiß gewesen war, dass er Tee mit ihr hätte kochen können, lag deprimierend leer zu seinen Füßen, so unbrauchbar wie sein qualmendes deutsches Auto, dass er von der Straße geschoben und hinter einem sandigen Erdhügel versteckt hatte.
Der graue Wagen kam näher. Es war ein Ford Pick-up, ein klassisches amerikanisches Modell, und sein Motor heulte in der Stille der Einöde auf. Ben lachte höhnisch auf. Du kannst den Deutschen nicht vetrauen. Den Männern nicht, und auch nicht ihrer Technik. Hätte er doch besser den Rat seines Großvaters beherzigt und sich kein Fahrzeug besorgt, das ihm mitten in der Wüsete absoff. Andererseits, der alte Mann hatte versucht, sich auf dem Dachboden seiner Scheune zu erhängen und sich anschließend mit einer Schrotflinte den Matsch aus dem Gehirn geknallt, als der erste Versuch gescheitert war. Was konnten Gramps Myers Ratschläge also schon wert sein?
„Hey!“, rief Ben und stellte sich dem Wagen in den Weg, als dieser seine Distanz zu ihm auf fünfzig Meter verringert hatte. „Ich brauche Hilfe! Hey!“
Der Fahrer des Fords, Ben konnte die getönten Scheiben nur ausmachen, dass es sich um einen Mann handelte, machte sich nicht die Mühe abzubremsen und umkurvte den gestrandeten Mann mit einem Schlenker des Lenkrads. Die breiten Reifen schleuderten kleine Steinchen auf, die Ben wie Schrapnelle um die Ohren flogen. „Scheiß Arschloch!“, rief Ben dem schnell kleiner werdenden grauen Fleck hinterher. „Scheiß verficktes Arschloch!“
Eine Minute lang stand Ben ratlos da, weitere sechzig Sekunden, in denen sein Körper wertvolle Flüssigkeit in Schweiß umwandelte und die Sonne seine gerötete Haut brutzelte als wäre sie billiges Hühnchenfleisch. Er konnte gehen. Den ganzen Weg zurück zu der Tankstelle in dem Drei-Häuser-Kaff, das er vor drei Stunden passiert hatte und das einzige Zeichen menschlichen Lebens in dieser staubigen Einöde gewesen war. Vielleicht lag diese Siedlung auch schon vier oder mehr Stunden hinter ihm, er hatte sein Gefühl für die Zeit verloren. Egal, er würde zu lange brauchen, um nicht als menschliches Dörrfleisch dort anzukommen. Sonst blieb ihm nur übrig, den Weg abzulaufen, den er mit dem Auto zurückzulegen beabsichtig hatte, und der heilige Scheißgott allein weiß, wann ich der nächsten Hinterwäldlersiedlung über den Weg laufe. Ben war auf die Hilfe eines anderen Reisenden angewiesen. Der Fordfahrer war innerhalb einer Stunde der einzige gewesen.
Pah. Ben spuckte angewidert aus. Die Situation kotzte ihn an. Er hätte sich niemals auf des Angebot von DeShea einlassen sollen, dachte er, während er Sand und Erde vom Boden nahm und über den Volkswagen streute. Der schmierige DeShea, der in diesem Moment vermutlich Martini schlürfend auf seiner Couch lag und Fern sah, während Ben die Drecksarbeit für ihn erledigte.
Zwei Riesen. Von der Bezahlung kann ich grad mal die Karre reparieren lassen. Pah. Er spuckte erneut und spürte, wie sein Mund noch weiter austrocknete. Ben wuchtete mit beiden Händen solange Sand auf das Blech, bis der Wagen von der Straße aus kaum noch zu sehen war. Nur das oberste Teil der Türe schimmerte hinter dem Hügel auf. Zumindest oberflächlichen Blicken würde er verborgen bleiben. Das genügte.
Und wenn nicht, wenn nicht, und ein Cop mit Sand im Arsch den Wagen entdeckt, den Kofferraum öffnet und das Meth findet, dann mach ichs wie Grampa und blas mir das Hirn weg. Wenn ich dazu überhaupt noch komme und nicht Futter für die Geier werde.
Später würde Ben mit einem Leihwagen zurückkommen, das Meth aufladen und wie mit DeShea vereinbart die Grenze überschreiten. Er würde den Stoff abliefern, seinen Gewinn entgegennehmen, den Volkswagen abschleppen lassen und sich eine Woche frei nehmen. Er hatte gehört, dass in Arizona zuletzt das größtes Freudenhaus Ameriaks eröffnet hatte. Keine schlechte Grundlage für einen Entspannungsurlaub.
Zunächst aber musste er von diesem Stückchen Niemandsland verschwinden. Er zündete sich eine Marlboro an, die schlecht schmeckte und ihn schwindlig machte, und wanderte weiter in Richtung Grenze, die er seiner Einschätzung nach in fünfzig bis hundert Meilen erreichen musste. Irgendjemand musste ja kommen, wenn er nur lange genug auf der Straße blieb.
Als er die erste Pause einlegte, dachte er, bereits drei oder vier Stunden gewandert zu sein, aber seiner Handyuhr zufolge war er erst achtzig seit Minuten unterwegs. Die Empfangsanzeige im rechten oberen Eck des Bildschirms stand noch immer auf null, und auch seine übel schmeckenden, auf eine dreckige Art befriedigenden Kippen waren verbraucht. Ben wanderte weiter, anfangs schnellen Schrittes, dann immer schleppender und langsamer, mit nichts außer dem Wunsch nach einer kühlen, gnadenvollen Flasche Wasser.
Bei der dritten Pause, die er am Straßenrand einlegte, war die Sonne bereits hinter den braungelben Hügeln der scheinbar ewigen Weite untergegangen und sein trockener Hals schmeckte nach Blut. Ben fragte sich, wie lange er es noch machen würde, und wie kalt Wüstennächte wirklich werden konnten, da hörte er zu seiner Rechten ein Motorengeräusch.
Vier große Scheinwerfer, angeordnet in einem Quadrat, beleuchteten die Straße mit grellem gelbem Licht. Der geblendete Ben konnte nicht erkennen, um was für ein Gefährt es sich handelte, das beständige Röhren des Motors ließ aber auf einen Truck schließen. Mein Gott, endlich!
Ben sprang auf und stürmte auf den verblassenden Begrenzungsstreifen zu. Für einen Moment waren die Ermüdungsschmerzen in seinen Beinen vergessen. Wie verrückt hüpfte er auf und ab, und als der Bus – es war ein Bus, das konnte er aus der Nähe erkennen! – abbremste und vor ihm zum Stehen kam, lachte er laut auf.
Der Anblick des silbernen Busses wusch den Stress der letzten Stunden wie ein Wassefall von ihm ab, Müdigkeit vertrieb zuvor aufgekommene Ängste. Ben lief zur rechten Seite des Busses, wo er die Eingangstür vermutete, und blieb vor dieser stehen. Kühler Nachtwind pfiff um seine Ohren, während Ben auf das zischende Geräusch sich öffnender Türen wartete, aber er wurde enttäuscht. Die Türe bewegte sich keinen Zentimeter.
Scheiße verdammt, was ist jetzt schon wieder?!
Das war seltsam. Der Bus hatte gehalten, weil Ben die Durchfahrt blockiert hatte. Wenn die Menschen im Inneren ihn nicht mitnehmen wollten, konnten sie jetzt, da er nicht mehr auf der Straße stand, einfach das Gas durchdrücken und weiterfahren. Nicht, dass er das zugelassen hätte. Nichts geschah.
Ben besah sich das Gefährt vor seiner Nase genauer. Er hatte es mit einem ungewöhnlichen Bus zu tun. Es gab nur eine einzige Tür im vorderen Teil des Fahrzeugs, und diese war nicht aus Glas und durchsichtig wie die meisten ihrer Art, sondern schien durch und durch aus Eisen zu bestehen. Bens Blick wanderte die ganze Länge des Busses entlang. Er schluckte, und sein Magen vekrampfte für eine Sekunde. Die komplette Verkleidung bestand aus einem silbrig glänzendem Metall, das an der unteren Partie von Staub und Sand verschmutzt war. Der Bus, abgesehen von der Frontscheibe, war durch und durch fensterlos. Einige vertikale Gucklöcher, die wie die Kiemen eines Fisches die ganze Seite des Fahrzeugs überzogen, gewährten keinen Einblich in das Innere. Ein fahrender Sarg, schoss es Ben durch den Kopf, und plötzlich verspürte er den unerklälichen Drang, die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen.
Blödsinn, das Teil ist deine Rettung man!
Ben atmete tief ein und klopfte. Der Schlag seiner Faust brachte ein dumpfes Geräusch hervor, leise, aber der Fahrer musste es gehört haben.
„Jetzt kommt schon.“, sagte er zu sich selbst. „Ich tu euch schon nichts.“
Ein Dutzend Herzschläge lang, in denen Ben erwog den Bus mit Tritten zu bearbeiten, geschah nichts, dann zischte es. Die Tür glitt zur Seite, schnell und geräuschlos, und durch den sich eröffnenden Spalt zeichnete sich die dunkle Figur einer Frau ab. Das Innere des Busses war nur spärlich beleuchtet, nur ein Stück heller als die anbrechende Nacht um ihn herum, dennoch konnte Ben erkennen, dass es sich um eine alte Frau handelte. Graue Haare klebten schweißgebadet an ihrem faltigen Gesicht und umrandeten ihre geschlossesen Augen.
„Vielen Dank, dass Sie halten...“, setzte Ben Myers an, dann verschlug es ihm die Sprache.
Die baren Füße der Greisin schwebten über dem Boden. Hinter ihr stand ein bulliger Mann, der sie an ihren Achselhöhlen in die Luft stemmte.
„Fang.“, sagte der Bulle trocken, schritt an den Absatz der drei niedrigen Eintrittsstufen und stieß den alten Körper von sich. Es vergingen nur Bruchteile einer Sekunde, bis der Leib der Frau gegen Ben knallte und ihn zu Boden riss, aber diese Zeit genügte ihm um entsetzt festzustellen, dass sie bereits tot war. Sie flog wie ein Marionette, außerstande den Körper aus eigenem Willen zu steuern. Ihr Kopf klatschte gegen Bens Brust, und sofort stieg ihm der Gestank von Schweiß, Urin und ansetzender Verwesung in die Nase und tief hinab in den Magen.
Erst als er auf dem Boden lag, während die bleichen Lippen der Leiche wie zum letzten leidenschaftlichen Kuss auf seinem Hals ruhten, schrie er.
Der Umriss des Leichenschänders schälte sich mit schweren Tritten aus dem Bus. In den rational denkenden Wirrungen seines Gehirns wusste Ben, dass er fliehen sollte. Aufspringen, in die Wüste laufen und hoffen. Aber er konnte es nicht. Er konnte nur zusehen, wie dieser kranke Kerl sich über ihn beugte, die Leiche beiläufig zur Seite rollte und sein Bein anhob. Und mit dem Fuß zustieß.
Bens Knochen zersprang in einer roten Flut aus Schmerzen und Schreien.
Der Mann griff ihn mit festem Druck unter den Achseln. Ben spürte die Stiche und Kratzer der Steinchen auf seinem Rücken, als er über die Straße in den Bus gezogen wurde. Er schlug um sich, traf einige Male den Arm seines Peinigers, aber es half nicht. Der Druck an seinem Körper verhärtete sich sogar.
Ben wurde in den Bus gezogen wie eine Marionette, überwältigt, verwirrt und seinem Meister ausgetzt. Der Puppenspieler ließ ihn plötzlich los. Bens Kopf knallte auf hartem Untergrund auf. Dann verabschiedete sich sein Bewusstsein.

Bens Sinne meldeten sich einer nach dem anderen zurück. Über das Dröhnen der Schmerzen in seinem Schädel hinweg hörte er ein stetiges Gemurmel, wie das in Klassenzimmern während er einer Unterrichtsstunde, unterlegt vom stechendem Duft des Schweißes. Sein Kopf pochte, und sein gebrochenes Bein fühlte sich schwer und seinem Körper fremd an. Die Gespräche um ihn herum brachen abrupt ab, als er seine Augen aufschlug.
Er lag im hinteren Ende des Busses, auf einer Viererreihe Plastiksitze, und als erstes bermerkte er, dass man ihm seine Hose ausgezogen hatte. Dafür steckte sein Bein in einer Schiene aus zwei Holzbrettern, die von einem zusammengeknoteten Hemd fixiert wurde.
Was zur Hölle...
Ben sah sich, weiterhin liegend, um. Um das gedämpfte Licht der Lampe in der Mitte des Busses saß ein halbes Dutzend Männer und Frauen und starrte ihn durchdringend an.
Sie alle waren alt, älter als Bens Väter, wäre er noch am Leben, und sie saßen in zwei paralellen Reihen aus drei Einzelsitzen, hintüber gelehnt, um den Neuankömmling zu betrachten.
Ihr Äußeres erinnerte erschreckend an das der toten Dame. Ihre Haare klebten ebenso wie Hemden und Blusen an ihren feuchten Körpern, und in die Stille seit Bens Erwachen mischte sich Husten und Stöhnen.
Eine Dame mit fettiger Dauerwelle brach das Schweigen. „Wie geht es Ihnen?“ Ihre Stimme hörte sich freundlich an, es war die sanfte Stimme einer Oma, die in Werbungen für Pfannkuchenteig mitspielen konnte.
„Ging mir schon besser.“, sagte Ben und versuchte sich aufrecht zu setzen. Schmerz durchzuckte sein geschientes Bein, und er ließ sich zurück auf den Rücken fallen.
„Tut mir Leid wegen Ihrem Bein. Harold weiß manchmal einfach nicht was er tut.“ Die Dame lächelte flüchtig und deutete in das vordere Eck des Busses. Ben folgte dem Wink ihrer Hand und erspähte auf dem vordersten Platz den Mann, der ihm das Bein zertrümmert und ihn hierher geschleppt hatte. Er hatte den anderen den Rücken zugekehrt und startte gegen die Wand.
„Manchmal? Das Riesenbaby weiß nie, was es tut.“ Der Mann hinter Granny Pancake schüttelte den Kopf. Er schien der älteste der sechs zu sein. Seiner nahezu flüsternden Stimme nach zu urteilen pfiff er aus dem letzten Loch. „Wir hätten ihn nie mitnehmen sollen, Louise.“
„Sei still Peter, er ist ein guter Junge.“, sagte die Dame. „Wie gesagt, es tut mir Leid. Wir wollten dich sicher nicht verletzen. Harold ist ein erwachsener Mann, aber im Geiste ist er ein Kind geblieben.“
Sicher, ein Kind das Menschen gewaltsam verschleppt und mit Leichen um sich wirft, dachte Ben und schwieg. Er hielt das für die sicherste Methode. Abwarten und beurteilen.
„Ich bin Louise.“, fuhr die Frau fort, „und das sind Peter, Arthur, der Ihr Bein bandagiert hat, Mary, Helga und Audrey. Vorne sitzt mein Harold, und Michael fährt für uns. Vor einem Tag waren wir noch zu acht, und vor einer Stunde waren wir noch sieben. Maria konntest du wenigstens etwas kennenlernen. Harold hat sie in der Wüste begraben.“
Maria. Das Bild der toten Frau und ihren kalten Lippen ließ Ben vor Ekel erzittern.
„Mein Gott, Maria.“, stieß die Dame hervor, die Louise als Helga vorgestellt hatte, und brach in Tränen aus. Louise drehte sich zu ihr um und tätschelte ihre Schulter.
„Herrje Helga, hör auf zu flennen, wir wussten, worauf wir uns da einlassen.“, bemerkte Peter kopfschüttelnd.
Ben bestaunte das Szenario mit offenem Mund. Was in drei Teufels Namen ging hier vor sich?
Louise hustete und sprach weiter: „Sie müssen denken, wir wären so eine Art von Serienmördergruppe, aber da liegen Sie falsch. Wir spielen vielmehr ein Spiel, eine Wette oder wie auch immer man es nennen könnte.“
„Eine Wette?“ Eine Gänsehaut legte sich über Bens Arme.
„Ja. Wir fahren in diesem ausrangierten Gefängnisbus durch die Wüste, und abgesehen von Harold und dem Fahrer gibt es für niemanden etwas zu essen. Nur ein Glas Wasser alle zehn Stunden. Sonst nichts. Wir sind so lange unterwegs, bis nur noch einer von uns übrig ist. Melissa hat zuerst das Zeitliche gesegnet, und Mary kam nach ihr. Um ehrlich zu sein, habe ich das befürchtet. Die beiden vertrugen die Hitze und den Nahrungsentzug von Anfang an nicht.“
Ben betrachtete jeden einzelnen der seltsamen Gruppe. Louise, die freundliche Oma die sich jeder Enkelssohn wünschte, den grimmigen Peter, die heulende Helga, Arthur, der seltsam fit und wie ein Uniprofessar aussah, und Mary und Audrey, die hageren Gestalten, deren Blick auf Ben gerichtet war und trotzdem durch ihn durchzugehen schien, als wäre er Luft. Sie schienen die Lexikondefinition des Wortes Apathie zu sein. Und sie alle nickten während Louise sprach, als wäre es nicht das abgedrehteste und gestörteste, was sie je gehört hatten.
Ben brachte nur zwei Wörter hervor: „Und warum?“
Arthur meldete sich zu Wort. Er hatte tatsächlich die Stimme eines Mannes, der vor vielen Menschen reden konnte. „Sie sind jung. Keine vierzig Jahre, schätze ich, und wahrscheinlich gesund. Sie haben jemanden, der Sie liebt oder jemanden, den Sie lieben.“
Ben dachte an die Tochter, von der er weder Telefonnummer noch Adresse kannte und an ihre Mutter, die mindestens eine Milliarde Männer mehr liebte als ihn. Er schwieg.
„Wir haben unsere Nächsten verloren und sind krank. Nicht mehr lange, dann wären wir ohnehin auf dem Weg auf die andere Seite. Wenn man in dieser Situation ist, fängt man an sich zu fragen, was man noch will vom Leben...“
„Geld!“, stieß Peter laut hervor und keuchte. „Halt mal die Luft an und komm zum Punkt. Es geht um Geld. Wir schmeißen all unser Erspartes, unser Eigentum in einen Haufen, und der Letzte kriegt alles.“
Arthur wollte etwas erwidern, nickte dann aber nur stumm und zustimmend. Stille kehrte ein im Bus. Die alten Menschen senkten ihre Blicke und startten zu Boden oder an die Wand, womöglich aus Sehnsucht nach einem Fenster, dass sie nicht hatten. Einzig Louise sah Ben weiterhin in die Augen. Sie lächelte ermutigend. Schließlich wandte sie sich ab, hob ihre Hand, winkte und rief: “Michael, du kannst den Motor wieder anschmeißen.“
Wortlos startete Michael, der vor Ben versteckt in der Führerkabine saß, den Bus. Er sprang mit einem Heulen an. Während der Bus gemächlich beschleunigte, befürchtete Ben von den Sitzen zu fallen zu müssen, aber er lag sicherer als gedacht. Sicher inmitten einer Horde Menschen mit Todessehnsucht.
„Das ist... absolut wahnsinnig.“ Ben verfluchte seine Verletzung. Jeden Moment würde er zur Tür stürmen und hinaus in die Nacht laufen, wenn er denn nur laufen könnte. Die Gefährlichkeit der Rentner war schwer abzuschätzen, immerhin wirkten sie friedlich und hatten sogar provisorisch seinen Bruch behandelt, aber Harold der Bulle blieb gefährlich. Ob er nun das zurückgebliebene Muskelpaket war, als dass ihn die Rentner beschrieben hatten, oder nicht. Wahrscheinlich machte eine geistige Behinderung ihn eben noch bedrohlicher.
„Es ist nicht wahnsinnig.“ Louise sprach betont langsam mit Ben, wie eine Grundschullehreren mit einem Kind. Vielleicht war sie das früher auch gewesen. „Es ist ein faires Spiel, in dem jeder die gleichen Chancen hat. Und der Sieger kann in seinen letzten Lebensjahren die Grenzen der Normalität sprengen und ein Leben ohne Kompromisse führen.“
Sie machte eine Pause und sah Mary und Audrey aus großen Augen an. „Aber das Spiel ist zu grausam für einige für uns. Wir lieben die Wüste und ihre Endgültigkeit und wollten dort die Reise antreten. Ich entschied mich für diese Art des Spiels, weil ich dachte, ein letztes gemeinsames Abenteuer würde uns am Ende näher bringen. Der unausweichliche Tod, dachte ich, wäre nicht so bedrückend wie der Überraschende, und der letzte von uns könnte erfahrener aus dieser Sache heraustreten. Aber ich habe mich geirrt. Wir wollen unser Spiel zu Ende bringen, ohne unnötiges Leid zu verursachen.“ Ihr Blick haftete auf den apathischen Frauen. Sie quälten sich, und auch Helga, deren Strom aus Tränen zu leisen Schluchzern abgeflaut war, wirkte verstört. Traumatisiert.
Natürlich ist dieses Spiel grausam, dachte Ben, man musst nicht erst zwei Menschen aus Erschöpfung sterben sehen, um zu realisieren, dass das die Seele berührt. Mein Gott, zumindest Dauerwellen-Louise hätte er als klug eingeschätzt.
„Ihr brecht also ab? Fahrt einfach nach hause?“
„Nein, wir haben beschlossen, es einfach nur schneller hinter uns zu bringen.“ Aber Ben glaubte nicht, dass die Gruppe es als Kollektiv beschlossen hatte. Louise hatte es vorgeschlagen, und die anderen waren ihr gefolgt. Es war auch ihre hirnrissige Idee gewesen, in diesem abnormalen Bus durch die Wüste zu fahren und dort den Tod zu suchen. Die anderen konnten meinen, sie wären damit einverstanden, aber Louise hatte sie in der Hand. Vermutlich mit ihrer herzerweichenden, freundlichen Art.
„Was ist mit mir?“, fragte Ben, und er schämte sich für seine zittrige Stimme. „Ihr wollt offensichtlich nicht, dass ich bei eurem... Ding... mitmache. Also...“
„Oh, Sie können ihres Weges gehen.“ Louise lachte auf. „Vielleicht sollte Michael Sie besser in ein Krankenhaus fahren, wenn die Sache vorbei ist. Aber bis wir fertig sind, brauchen wir Sie. Und damit meine ich, Sie haben keine Option. Sie helfen uns, dann erst helfen wir Ihnen.“
Ben schluckte. Er hatte gehofft, seinen Hals einfach aus der Schlinge ziehen zu können wie bei unzähligen Gelegenheiten seines Lebens zuvor, aber was hatte er erwartet?
„Gut. Was wollen Sie von mir?“
Louise sagte es ihm. Ben sog die abgestandene Luft ein.
„Und für den Fall, dass Sie Ihren Pflichten nicht nachkommen, wird Harold Sie dazu motivieren. HAROLD!“
Jetzt erst bewegte sich die Silhouette des großen Mannes. Stöhnend drückte er sich ab von dem viel zu schmalen Sitz. Er stampfte wie ein langsamer Riese auf sie zu. Ben begriff zum ersten Male die Ausmaße dieses Mannes: Harold bestand aus zwei Metern Muskeln und Fett, auf die jemand ein rundes Gesicht aus gerötetem Fleisch geklatscht hatte. Aus kleinen fiesen Augen betrachtete er Ben, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war kein freundliches.
„Hallo, ich bin Harold.“

Sie ließen die apshaltierte Straße bei der ersten Gelegenheit eine Viertelstunde später hinter sich und befuhren einen plattgefahrenen Weg hinaus in die Einöde. Als sie sich weit genug von jedem möglichen menschlichen Kontakt entfernt hatten, ordnete Louise Michael an, zu halten. Der Fahrer, ein schwarzhaariger Mann, dem der Bierbauch über den Gürtel hing und dessen Gesicht „Scheiß auf alles“ sagte, nahm Ben gemeinsam mit Harold in Schlepptau. Er war in seinem Leben schon weniger schmerzhaft getragen worden.
„Warum kann Harold es nicht machen?“, fragte Ben, als er beim Verlassen des Busses die kalte Luft in sich aufsog. Sie roch nach Erde.
„Er ist in dieser Hinsicht nicht ganz zuverlässig.“, sagte Louise und tätschelte die Wange des Riesen. Der lächelte und warf der Dame einen so liebevollen Blick zu, dass Ben unter normalen Umständen gelacht hätte. „Er würde mich nicht erschießen. Das wäre nicht fair.“ Harold blickte betroffen zu Boden.
„Er hält sie für eine Art Mutter.“, flüsterte Peter Ben gehässig zu. Harold funkelte ihn aus seinen Schweinsaugen an.
„Und Michael? Verdammt, warum machst du's nicht?“
Der Fahrer, eine Zigarette im Mund, machte eine abwehrende Geste: Dafür wurde ich nicht bezahlt, man, sagte sie.
Arthur baute einen Klappstuhl auf und die beiden jüngeren Männer setzten Ben darauf ab. Harold und Michael posiotionierten sich hinter ihm, und letzterer drückte ihm eine Waffe in die Hand. Mondlicht schien auf die 44er Magnum. Im glänzenden weißen Stahl betrachtete Ben die Reflektion seines Gesichts. Er erschrak, wie schlecht er aussah, die schwarzen Haare schweißdurchnässt, die Augen rote Ovale über dunklen Streifen.
Ben überlegte, ob er Louise von dem Meth in seinem Wagen erzählen sollte. Sie konnten es verkaufen und den Gewinn unter sich aufteilen. Keiner musste sterben. Aber Ben müsste sich vor DeShea verstecken oder riskierte gar, doch noch von den Kerlen erschlagen zu werden, aus reiner Gier. Was Überraschungen anbelangte traute er ihnen einiges zu. Er spielte lieber mit.
„Alles klar Leute? Seid ihr bereit?“ Die sechs hatten sich in einem Kreis vor Ben und seinen Aufpassern aufgebaut. Louise sah jedem in Augen und wartete. Sie hielt einen Block Post-its und einen Kugelschreiber bereit.
Zuerst nickte Arthur. „Ja, Louise, lass es uns tun.“
Audrey stimmte ebenfalls zu, dann kam Helga, die Louise um den Hals fiel und ein „Ja“ flüsterte.
Mary zögerte. Sie blickte stur auf ihre aufgequollenen Füße, da drückte Louise ihr Kinn nach oben und sah ihr ins Gesicht.
„Mary, du weißt doch, warum wir das tun? Nocheinmal richtig leben, oder gar nicht. Bist du dabei?“ Eine geschlagene Minute verging, in der niemand auch nur ein einziges Wort in die Stille hauchte. Dann umarmte Mary ihre Freundin und sagte: „Ja, ich bin bereit.“
„Na schön.“, sagte Peter und lachte heiser. „Bringen wir es hinter uns. Ich habe Geld zu verprassen.“
Ben saß auf dem Klappstuhl, in der kargen Finsternis der Wüste Arizonas und schüttelte den Kopf.
Sein Auftrag war so einfach wie absurd. Er würde Zettel für Zettel aus einem Hut ziehen, und den- jenigen Unglücklichen erschießen, dessen Name darauf stand. Punkt. Dann fuhr ihn der liebe Michael ins Krankenhaus, wo er sich Wiederholungen von Hör mal wer da hämmert und Eine schreckliche nette Familie ansehen konnte. Diese Banalität stieß ihn gleichzeitig ab und faszinierte ihn.
„Benjamin, wirst du schießen ohne zu zögern?“ Louise hatte sich nun ihm zugewandt. Ihr weißes Haar leuchtete im Schein des Mondes, fast wie ein Heiligenschein.
„Ja.“, sagte Ben bestimmt, obwohl er sich selbst nicht sicher war. Jemanden zu töten war immer eine Grenze gewesen, die er niemals überschreiten hatte wollen. Er hasste es, es tun zu müssen, aber was blieb ihm übrig?
Louise schrieb Name für Name auf die Zettel und reichte diese herum. Es war mehr eine symbolische Geste. Ben glaubte, dass keiner der fünf Louise so etwas wie Betrug unterstellen würde. Als Ben sich fragte, wo sie den Hut herbekommen sollten, stieg Arthur in den Bus und hantierte am Armaturenbrett. Plötzlich leuchteten die Frontlichter des Vehikels auf und bestrahlten die Versammlung. Dann ging der Mann in den hinteren Teil des Busses und kam mit einem Cowboyhut zurück, den er Ben in die Hand drückte. Das braune Leder zefledderte bereits am Rande, und die Innenseite stank nach Moschus. Forever Young war in die Krempe imprägniert worden.
Louise trat vor und ließ die gefalteten Zettel wie Konfetti in den Hut fallen. Sie nickte ihren Gefährten zu und nahm Peter zu ihrer Rechten und Mary zu ihrer Linken am Arm. Die anderen folgten ihrem Beispiel, und gemeinsam bildeten sie eine Kette. Sie standen dicht nebeneinander, knapp einen Meter von Ben und der Kanone entfernt.
„Nimm einen Zettel, Benjamin.“
Das ist zu abgefahren.
Benjamin legte die Magnum auf seinen Schoß und griff in den Hut. Seine Hände zitterten vor Aufregung und Kälte, als er das erste Stück Papier entfaltete. Ben spürte den Atem Harolds und Michaels, als sie sich vorbeugten und ihm über die Schulter sahen.
„Lass es Harold, du kannst doch eh nicht lesen.“, sagte Peter und erntete dafür einen Fußtritt von Louise. „Ich hab doch recht.“, murmelte er.
Im Licht des Busses las Ben stillschweigend den ersten Namen. „Okay.“, sagte Michael.
Ben entsicherte die Magnum, atmete tief ein und zielte wie abgemacht mit dem Lauf auf Peter. Der Mann schluckte. Ben verharrte eine Sekunde in dieser Position und bewegte die Waffe nach rechts. Es war Louise, die nun in die Mündung blickte, aber nur für den kurzen Zeitraum einer Sekunde. Louise hatte ihn angewiesen, die Identität der Zielperson so lange wie möglich geheim zu halten. Ben visierte nun Mary an, deren Blick auf der Waffe ruhte. Aber auch Mary war noch nicht an der Reihe. Neben ihr stand Audrey. Ben nahm sie ins Visier und drückte ab. Audrey schrie, fasste sich an die Brust und fiel zu Boden. Die schwache Mary hielt weiter fest an ihrer Hand und stürzte beinahe mit, bevor sie sich von der Berührung ihrer Freundin trennen konnte. Audreys Leiche plumpste wie ein Mehlsack auf den staubigen Untergrund und wirbelte Sand auf.
Wow, das war einfach, war das einzige, das Ben denken konnte. Er hatte schreckliche Gewissenbisse, zumindest den Ansatz von Schuldgefühlen erwartet, aber diese blieben aus. Alles was ihm von seiner ersten Tötung blieb war ein Dröhnen im Ohr wie von Presslufthämmern.
Helga brach erneut in Tränen aus, trug aber gemeinsam mit Arthur die Leiche der alten Audrey ein paar Meter weiter weg in eine Senke.
Die verbliebenen Fünf nickten sich zu, nahmen sich bei der Hand und formierten sich neu. Ben zog den zweiten Zettel und entfaltete ihn. Seine Finger blieben nun ruhig. Der erste Schuss hatte ihm die Aufregung genommen, und, wenn er ehrlich war, sogar ein wenig erregt. Sein Penis, der den ganzen Tag schlaff gewesen war wie eine durchgekochte Nudel drückte nun gegen den Reißverschluss seiner Jeans. Ben zeigte den Zettel zuerst Michael und anschließend Harold, obwohl er nicht wusste, ob dieser auch wirklich lesen konnte. Dann nahm er die Waffe erneut in die Hand und startete am rechten Rand der Reihe. Arthur hielt Helgas Hand fest umschlossen, sein intelligenter Blick traf den Bens, und dann traf ihn die Kugel im Gesicht. In einer Explosion aus Blut und Hautfetzen kippte Arthur seitlich um. Sein halbes Gesicht fehlte. Blut tröpfelte neben ihm auf den Boden und formte einen perversen See um ein totes, herausgesprengtes Auge.
Bens Körper dagegen pumpte Blut in seine Genitalien. Er konnte seinen enormen Ständer kaum unter dem Cowboyhut verbergen.
„Nicht ins Gesicht du Idiot!“, schrie Louise. Sie hatte nun nichts mehr von einem Großmütterchen an sich sondern. „Mach das noch einmal und Harold zerfleischt dich, verstehst du!“ Hinter ihm fletschte der Riese knirschend die Zähne
Ben schreckte instinktiv zurück. „'Tschuldigung, das war keine Absicht. Ich hab in meinem Leben nur noch nie eine Waffe abgefeuert.“
„Noch ein einziges Mal!“, fauchte Louise und schleppte Arthurs Leiche hinüber zu Audreys.
Wortlos formierte sich die Reihe erneut. Ben wartete darauf, dass der Blutdruck in seinem Schwanz zurückging, aber nach einer halben Minute drückte seine Latte noch immer gegen die Hose.
„Jetzt mach schon.“, drängte Peter. Er trippelte von einem Fuß auf den anderen. Scheiß drauf! Ben fischte einen Zettel aus dem Hut, las den Namen und teilte ihn seinen beiden Kollegen in diesem kranken Spiel mit. Es würde Helga sein. Ben konnte wieder rechts anfangen und kurzen Prozess machen, aber er überlegte es sich anders. Der Ausdruck stummer Todesfurcht auf den Gesichtern der alten Menschen faszinierte ihn. Sie wollten den Tod freiwillig, aber die vor Schrecken geweiteten Augen wenn er den Abzug betätigte ließen ihre Furcht nicht leugnen.
Ben startete erneut mit Peter und wanderte nach rechts. Ausnahmslos zuckten sie dabei zusammen und atmeten erleichtert auf, wenn Ben sich weiterdrehte. So atmete auch Mary auf, und Helga schrie. Ben stellte sich vor es wäre Stacy, Mutter seiner Tochter und gemeine Hure, und drückte ab.
Die Kugel traf ins Herz, zumindest dorthin, wo Ben es vermutete.
Helgas Herz am rechten Fleck, deshalb liegt sie jetzt im Dreck. Er verkniff sich ein Kichern. Werde ich verrückt?
Die Überlebenden schafften die Leiche weg und formierten sich neu. Die selbe alte Prozedur.
Ben fragte sich, ob er gerade zum dreifachen Mörder geworden war. Wenn ja, dann konnte er das in dieser Nacht problemlos toppen. Ja, er sollte und wollte es sogar tun. Eine Welle der Stärke erfasste ihn, die einen noch größeren Schwall Blut in seinen Schwanz pumpte und seine Brust schwellen ließ. Wer war schon dieser DeShea, wer war schon irgendjemand, er, Ben Myers, hatte fünf in einer Nacht erwischt. Was machte es schon, dass sie es so wollten... Er war ein eiskalter Bastard.
Ben zog den drittletzten Namen und hob die Pistole, da unterbrach ihn Louise.
„Einen Moment bitte, ich möchte noch etwas loswerden. Peter, Mary, wer von uns es auch machen wird, ich möchte, dass ihr euch keine Vorwürfe macht. Wir wollten ein volles Leben führen oder gar keins, und das ist der einzige Weg. Vergesst das nicht.“ Sie lächelte. „Du kannst weitermachen, Benjamin.“
Louise lächelte nicht mehr, als Mary tot an ihrem Arm hing und braunrotes Blut in dicken Klumpen aus ihrem Unterleib floss wie Scheiße aus dem Arschloch eines Elefanten. Es sah tatsächlich so aus. Ben zog fasziniert die Augenbrauen an.
„Das ist es.“, hauchte Peter. Er zitterte jetzt am ganzen Körper. „Das Finale. Wollen wir, Louise?“
„Ja, Peter. Mach's gut.“ Sie küsste ihn auf die Wange. Er erwiderte diese Geste und schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, wir hätten es mal miteinander getrieben, Louise. Ist dafür jetzt noch Zeit?“ Sie lachte. Hinter Ben schnaubte Harold. Der Henker drehte sich zu dem Schrank um. Er schwitzte am ganzen Körper, und aus seinen Augen floss ein schier unerschöpflicher Strom an Tränen. „Louise...“, schniefte er. Muskelpakete zuckten unkontrolliert auf und ab, als Louise sich dem Mann näherte und ihn umarmte. Ben wartete vergeblich auf ein Knacken der Knochen, als Harold seine Pranken um ihre Hüfte legte.
„Mein Harold.“, sagte sie. „Dich zu verlassen... Ich kann nicht... Es tut mir Leid. Man wird sich um dich kümmern. Ich werde immer für dich da sein, auch wenn es mich trifft.“
„Bitte.“, schniefte Harold. „Verlass mich nicht.“
Die schmale Louise und der bärige Harold standen eng umschlangen neben Ben.
Scheiße, dachte er, der Kerl hat mein Bein gebrochen und trotzdem ist er der ärmste Kerl auf Erden.
Er hoffte, Harold nicht das Herz brechen zu müssen. Sein Ständer verabschiedete sich abrupt. Er schämte sich dafür, überhaupt erst in diesen Mordrausch gelangt zu sein. Er hatte vier ganze Leben ausgelöscht.
Nach einer gefühten Ewigkeit löste Louise die Umarmung. Sie küsste ihn auf den Mund.
„Ich wünsche dir nur das Beste, Harold.“ Und sie stellte sich neben Peter und ergriff dessen Hand.
Ben tauchte seine Hand in den Hut. Michael ging neben ihm in die Knie, und Harold drückte seine feuchte Wange gegen die Bens. Er zog einen Zettel. Seine Hände zitterten wieder.
Gott, diese Frau war nicht weniger verrückt als Peter und sogar noch rücksichtsloser, aber er hoffte, dass er den Mann gezogen hatte. Er faltete das Stück Papier auseinander.
In krakeliger Schrift leuchtete der Name im Schein des Busses auf. Louise. Mein Gott.
Ben hob die Pistole, bereit, ein letztes Mal an diesem Abend den Abzug zu betätigen. Da fing Harold an zu Kichern. Es war ein kindliches, helles Geräusch, dass schnell tiefer wurde und zu einem Gröhlen anwuchs. Harold richtete sich zu voller Größe auf und schlug sich auf den Bauch.
Wie ein verrückt gewordener Bär stand er da, trommelte auf seine Brust und lachte.
„Verdammte Scheiße!“, schrie Peter, und da verstand Ben. Der Alte versuchte zu fliehen, aber Louise hielt ihn mit beiden Händen fest.
„Nein Peter, so war das nicht...“ Sie stöhnte, als Peter seine Faust mit voller Wucht in ihren Magen rammte. Louise sank zu Boden. Peter löste sich aus ihrem Griff und rannte los, hinein ins Dunkel.
„Schieß!“, brüllte Harold. „Schieß ihn ab!“
Ben war zu perplex, um sofort zu reagieren. Der Flüchtige hatte bereits mehr als zwanzig Meter gut gemacht und verschwand bereits in der Nacht. Ben feuerte ihm hinterher. Er leerte das ganze Magazin, aber keine Kugel traf sein Ziel. Ben penetrierte den Abzug, bekam aber nur das leise Klicken leerer Patronen zu hören.
Harold packte Ben bei den Schultern und sah ihn intensiv an. „Ich hol ihn.“, brummte er. Im Laufen warf er Michael einen Blick zu, der Bände sprach. Schweigen sollten sie. Niemals erzählen, wessen Name wirklich auf dem Post-it Zettel stand. Harold nahm die Verfolgung auf und verschwand wie Peter in der Finsternis.
Der gewiefte Arsch. Ben grinste.
Michael half Louise auf und drückte sie gegen die Wölbung seines Bauches. Über die Leichen der vier Männer und Frauen hinweg blickten sie gemeinsam in die Ferne und warteten. Ohne das Scheppern der Pistole und das Getose Harolds war es totenstill. Fast friedlich.
Aus der Dunkelheit ertönte ein Schrei. Ein dumpfes Geräusch folgte darauf, als schlüge jemand mit einem Baseballschläger auf einen Kürbis. Ein weiterer Schrei, ein weiterer Schlag. Jemand wimmerte und flehte. Die seltsame Gruppe bei den Leichen wusste, dass es nicht Harold war.
Dann kehrte wieder Stille ein-
Louise weinte an Michaels Schulter. Ben suchte nach Worten, um sie zu beruhigen, und schwieg dann doch nur. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen.
Mit tränenverschmierter Visage blickte Louise auf, als jemand aus den Tiefen der Nacht auf sie zustapfte.
Ben und Michael wechselten Blicke und sahen zu Boden. Ihre Seelen hatten in diesen wenigen Stunde zu viel durchgemacht. Louise fiel dem Mann, dessen Hemd nass war vor Schweiß und frischem Blut, um den Hals und schluchzte.
Einzig Harold lächelte wie ein Sieger.

 

So, meine erste Geschichte, und wenn ich sie mir so ansehe, ist es keine sonderlich kurze.
Trotzdem, jeder der sich durch dieses Geschwülst gekämpft hat, hat nun auch das Recht den Text auseinanderzunehmen, dafür ist er ja da :D
Und die, die es nicht bis zum Ende geschafft haben, sollen ruhig ihre Kritik üben., Bin ja da um zu lernen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Pferdsmann (-frau?),

deine erste Geschichte ist deine erste Geschichte und ich nehme da jetzt mal keine Rücksicht drauf. Da hast du auch nichts von. Gleich vorweg: Du machst Fehler, die in der einen oder anderen Form fast alle am Anfang machen. Besonders negativ stoßen eigentlich nur Sachen wie Sätze mit fehlenden Worten und derbe Buchstabendreher auf, sowas kann man mit Sorgfältigkeit vermeiden. Auch das ist so ein Anfängerding. Zwischen Schreiben und Veröffentlichen (in welcher Form auch immer) sollten so fünf bis zehn Bearbeitungsschritte liegen, unter anderem einer, in dem du komplett losgelöst vom Inhalt nur auf die oben erwähnten Sachen achtest. Zu Beginn meint man meist, aufschreiben und einmal drüberlesen reicht.


Das Bild zu Beginn ist ebenso ausgelutscht wie die Metapher „wie ein Ertrinkender“.

Mit dem Namen des Prots einzusteigen finde ich bei Spannungsliteratur okay, aber auch Uneleganz hat ihre festen Regeln. Erst den Namen halb und dann zwei Sätze später ganz ist bums, wenn dann nenn ihn beim ersten Mal Ben Myers und dann „er“.


Gewissermaßen war er am Etrinken, mit dem Unterschied, dass nicht gewaltige Wassermassen sein Leben bedrohten, sondern die heiße und trockene Luft dieser gottverdammten Wüste.

Das ist ein sehr ungeschicktes Bild, weil „Ertrinken“ ja doch so ziemlich das Gegenteil von dem ist, was einem passiert, der in der Wüste kaputt geht.


so unbrauchbar wie sein qualmendes deutsches Auto, dass er von der Straße geschoben und hinter einem sandigen Erdhügel

„das“, und ich würde mal nach überflüssigen Adjektiven flöhen


Es war ein Ford Pick-up, ein klassisches amerikanisches Modell

Du sagst dem Leser: Es gibt hier absolut keine Überraschungen, es ist alles ganz genau so, wie du es bereits achthundertvierzigtausendmal in Funk und Fernsehen erlebt hast.


heulte in der Stille der Einöde auf. Ben lachte höhnisch auf.

Du kannst den Deutschen nicht vetrauen. Den Männern nicht, und auch nicht ihrer Technik.

Das wirkt komplett weltfremd. Wenn den Deutschen bei irgendwas getraut wird, sind's Autos.


anschließend mit einer Schrotflinte den Matsch aus dem Gehirn geknallt

Yeah, yeah, yeah, eazybaddebiesy. Coolness geht nicht so einfach, wie es sich bei Chandler und Konsorten liest. Da kann man auch schnell mal auf die Nase mit fliegen.


gerötete Haut brutzelte als wäre sie billiges Hühnchenfleisch

miese Metapher, pseudo-cool und dabei eher belustigend.


44er Magnum, Futter für die Geier, zwei Riesen, verficktes Arschloch, Hinterwäldler, Pick-up, Martini trinken; Ich finde den grundsätzlichen Plot bis hierher gar nicht schlecht – Drogenkurier säuft die Karre ab – aber die Formulierungen und das ganze Drumherum wirken soooooooooooooo uneigen, uninspiriert.


Und wenn nicht, wenn nicht

Warum zweimal?


das größtes Freudenhaus Ameriaks

sorgfältiger Korrektur lesen, mindestens mal F7 drücken.


Ein fahrender Sarg, schoss es Ben durch den Kopf, und plötzlich verspürte er den unerklälichen Drang, die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen

Ein Sarg, ja, weil Särge ja gemeinhin metallverkleidet sind wie der Bus; „die Beine in die Hand nehmen“ ist eine Floskel.


Blödsinn, das Teil ist deine Rettung man

Yeah, Mann!


Der Schlag seiner Faust brachte ein dumpfes Geräusch hervor

„Mit der Faust schlagen“ ist ein aktives, lebendiges Bild, das du mit „ein Geräusch hervorbringen“ wieder kaputt machst. Der Todesstern brachte ein sehr lautes Geräusch hervor, als er explodierte.


schon.“, sagte

Punkt weg.


war nur spärlich beleuchtet, nur ein Stück heller

erstes „nur“ raus


baren Füße

bloßen/nackten


„Fang.“, sagte

s. o.


Ja. Wir fahren in diesem ausrangierten Gefängnisbus durch die Wüste, und abgesehen von Harold und dem Fahrer gibt es für niemanden etwas zu essen. Nur ein Glas Wasser alle zehn Stunden. Sonst nichts. Wir sind so lange unterwegs, bis nur noch einer von uns übrig ist.

Das klingt so „Watt will man machen?“ und irgendwie ziemlich platt.


zwei Wörter

Worte … „Wörter“ im Sinne von zählbare Einzelpositionen eines Satzes, Worte, wenn es um den Sinn geht.


startten

t


Und der Sieger kann in seinen letzten Lebensjahren die Grenzen der Normalität sprengen und ein Leben ohne Kompromisse führen.

Klingt nicht wie etwas, das irgendein echter Mensch sagen würde.


ch entschied mich für diese Art des Spiels, weil ich dachte, ein letztes gemeinsames Abenteuer würde uns am Ende näher bringen. Der unausweichliche Tod, dachte ich, wäre nicht so bedrückend wie der Überraschende, und der letzte von uns könnte erfahrener aus dieser Sache heraustreten. Aber ich habe mich geirrt.

Solche Erklärungsorgien einer Figur in den Mund zu legen, ist der zweitplumpeste Weg, Story rüberzubringen. Also, meinetwegen leg es ihr den Mund, aber denk dran, dass sie nicht an die Leser ihrer Geschichte denkt, die nach Möglichkeit alles kapieren sollen.


Natürlich ist dieses Spiel grausam, dachte Ben, man musst nicht erst zwei Menschen aus Erschöpfung sterben sehen, um zu realisieren, dass das die Seele berührt.

„realisieren“ heißt im Deutschen nicht, was im Englischen „to realize“ bedeutet (das deutsche ist, soweit ich weiß, von den Franzosen geklaut). Außerdem nehme ich Ben, so wie er bisher charakterisiert wurde, den Gedankengang nicht ab.


nach hause

H


begriff zum ersten Male die Ausmaße dieses Mannes

Mal; erkannte; Ausmaße klingt upassend


ordnete Louise Michael an

befahl und „an“ weg


und dessen Gesicht „Scheiß auf alles“ sagte

Wie, bitte, soll so ein Gesicht aussehen?


fragte Ben, als er beim Verlassen des Busses die kalte Luft in sich aufsog

Das mit der Luft würde ich weglassen, das ist formuliert, als stünden Kälte und die Entscheidung, zu sagen, was gesagt wird, irgendwie miteinander in Kausalzusammenhang.


Zuverlässig.“,

s. o. Und dann noch ein paar Mal.


icht bezahlt, man,

Mann


posiotionierten

posit


weißen Stahl

weiß?


jedem in Augen

die


Wow, das war einfach, war das einzige, das Ben denken konnte. Er hatte schreckliche Gewissenbisse

Da wurde gerade jemand erschossen. Diese Larifari-Schreiberei drumherum wirkt nicht cool, sondern als habe der Autor sich verhoben, als sei er nicht in der Lage, die Schrecken darzustellen.


Sein Penis, der den ganzen Tag schlaff gewesen war wie eine durchgekochte Nudel drückte nun gegen den Reißverschluss seiner Jeans.

Jetzt mal vom Sprachlichen ins Inhaltliche: Das ist doch totaler Qutasch. Er tötet nicht gern, aber er kriegt einen Steifen, wenn er es tut. Hallo?


Du hast da eine nette, bizarre Situation, aus der du glaube ich echt was machen könntest. Meine Tipps zum Inhalt: Viel weniger Figuren. Man verliert im Bus den Überblick, anstatt ein oder zwei richtig bekommt man jede Menge halbherzig und komplett stimmlos serviert. Darum habe ich jedenfalls bei Drittel Drei aufgehört zu lesen. Wirr, kompliziert und die Figuren so scheißegal, wen interessiert's?

Das Spiel würde ich ebenfalls straffen. Als es hieß, wir fahren mit dem Bus, bis nur noch einer übrig ist, fand ich's noch recht abgefahren, beim Loseziehen wurde es dann beliebig und uninteressant. Insgesamt würde ich es deamerikanisieren. Die Handlung kann sich ja ruhig in den USA zutragen, aber all diese ausgelutschten deutsche-Synchronfassung-Formulierungen, das ödet an. Nochmal: Am Anfang finde ich die Spannung richtig erzeugt, Drogenkurierfahrt und dann Auto kaputt, diese kuriose Nummer mit dem Roulette-Bus. Aber um die ganze Geschichte über zu fesseln, ist es erstens zu lang und bietet zweitens zu wenige Überraschungen. Der Megatyp mit der Flinte hat mich irgendwie an Leatherface erinnert, das ganze Setting wirkt wie Tarantino meets Texas Chainsaw. Beides feine Sachen, aber unter dem Strich siebzig Prozent geklaut und dreißig Prozent eigenes. Ich würde die Story um gut die Hälfte kürzen und das Verhältnis umkehren. Hüah!


Grüße
JC

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom