Hallo Edward,
tut mir leid, dass es so lange gedauert hat mit der Kritik, bin aber derzeit sehr im Stress und lese nur noch ganz selten hier auf KG.de.
Als ich ein kleines Mädchen war, meine Eltern noch so häufig miteinander stritten, dass sich eine Trennung nicht gelohnt hätte, begleitete ich meine Mutter oft beim Einkaufen. Ich habe es heute noch deutlich vor Augen, wie ich hastig und mit dem breiten Grinsen einer schlampig gezeichneten Comicfigur durch den Supermarkt in unserem Neubaugebiet eilte, während sich meine Mami mit der Frau hinter der Fleischtheke unterhielt.
Der erste Satz hat mich etwas verwirrt. „meine Eltern noch so häufig miteinander stritten, dass sich eine Trennung nicht gelohnt hätte“ müsste meiner Ansicht eher „noch
nicht so häufig ...“ lauten, oder ich überlese immer wieder irgendwas.
Aus diesem Abschnitt entnehme ich, dass die Erzählerin schon älter ist und sich – wie ja auch geschrieben – noch heute genau daran erinnert. Daher ist mir das Wort „Mami“ besonders aufgefallen. Als kleines Mädchen nennt man seine Mutter vielleicht so, aber wenn man dann älter ist und jemandem etwas über sie erzählt, nennt man sie doch eher „meine Mutter“, denke ich. Daher dachte ich an dieser Stelle, dass es eine Bewandtnis haben müsste, dass mit der schon ältere Ich-Erzählerin, also Deiner Protagonistin, irgendwas Seltsames ist (zurückgeblieben in der Entwicklung o.ä.). Wenn es aus der Perspektive des kleinen Mädchens geschrieben sein sollte, führt mich diese Formulierung „heute noch deutlich vor Augen“ in die Irre. Auch der Vergleich „mit dem breiten Grinsen einer schlampig gezeichneten Comicfigur“ klingt mir eher nach jemand älterem als Vergleichzieher, also der Erzählerin.
Den nächsten Abschnitt fand ich sehr plastisch, ich kann mir gut vorstellen, dass Kinder sehr auf die vielen Farben achten, wie es ihnen Spaß macht, die Sachen auszuwählen, die Naschereien zu verstecken. Warum die Mutter das Kind den Einkauf anscheinend allein bewältigen lässt (vermutlich ist sie noch an der Fleischtheke und redet?), weiß man als Leser nicht, die Andeutung mit Herbert könnte ein Hinweis sein. Zumindest ist jetzt schon zweimal auf die nicht wirklich intakte Beziehung zwischen Mutter und Vater hingewiesen worden.
Den Hinweis auf die Haare fand ich auch gut, das klingt echt, macht die Geschichte lebendig.
Die Mutter scheint auch nicht mal beim Bezahlen aufzupassen bzw. dem Kind zu helfen, das Zeug aufs Band zu legen, weil sie anscheinend erst zu Hause bemerkt, wieviel Süßigkeiten das Kind mit eingepackt hat – somit kommt sie mir sehr gleichgültig vor. Es könnte auch sein, dass sie flunkert, aber da findet sich kein Hinweis darauf. Sie wirkt auf mich bis jetzt einfach nur gleichgültig.
Das Beste am Einkaufen war jedoch nicht das Naschen, sondern die Obst- und Gemüseabteilung.
Hier betastete ich Pfirsiche, als suchte ich mir ein Hochzeitskleid. Ich prüfte Birnen, wie erfahrene Samurai ein neues Schwert, ließ die ein oder andere Cocktailtomate in meinem Mund verschwinden. Ich stolzierte zur Waage, als sei sie der König und meine Bananen eine ganz besondere Schriftrolle.
Den Abschnitt fand ich richtig gut, insbesondere den letzten Satz. Da kann man richtig die Kindperspektive miterleben. Mir erscheint das Mädchen jetzt ein bisschen so, als nehme sie mir Freuden die Rolle der passiven Mutter auf, also dieses Gern-schon-erwachsen-sein, Verantwortung zu bekommen, etwas schaffen zu können, wie die „Großen“.
Und ich kontrollierte Ananas. Hierzu nahm ich die einzelnen Stücke an mich, um behutsam am Hals zu drehen. Ich wusste: Je wackliger der Hals, desto reifer die Frucht. Je reifer die Frucht, desto süßer, saftiger, intensiver das Geschmackserlebnis. Die Ananas war zu dem Zeitpunkt mein Lieblingsobst. Nicht nur, weil ich mit meiner Ananas-Kontrolle stets die Aufmerksamkeit anderer Kunden auf mich zog und (so glaubte ich zumindest) neidische Blicke erntete. Wenn es Ananas gegeben hatte, wurde zu Hause wieder mehr gelacht. Mami schrie wieder so, wie damals, als ich ihr einen Plastikkrebs in die Salatschüssel gelegt hatte, und Papa machte uns Pfannkuchen mit ganz viel Ahornsirup. Und wenn es am Samstag Ananas gegeben hatte, setzte er sich am nächsten Morgen zu mir und wir schauten gemeinsam die Sonntag-Morgen-Cartoons an. Danach kitzelte er mich durch und spielte Tuba auf meinem Bauch.
Da der Titel „Ananas“ lautet, ist dies hier ein entscheidender Abschnitt der Geschichte, denke ich mir als Leser. Auch hier könnte man gut die Kindperspektive lesen, ich bin mir aber nicht sicher, ob das Wort „Geschmackserlebnis“ da so passt. Die anderen Formulierungen find ich da schon eher passend, zum Beispiel, dass die anderen Kunden da wohl neidisch geguckt hatten (würde man das in einem Supermarkt machen, könnte man durchaus gefragt werden, wie der Test funktioniert, ebenso, wenn man auf Melonen klopft oder Kokosnüsse schüttelt). Aber Du schreibst dann „(so glaubte ich zumindest)“, und das ist für mich wieder der Hinweis, dass hier jemand älteres erzählt.
Die Sache mit dem Plastikkrebs finde ich lustig.
„Wieso steht Ananas nicht mehr auf der Liste?“
„Ach, weißt du… Eigentlich mag ich das gar nicht so“, knurrte Mami und fuhr mit sanfter Stimme fort, „aber du kannst ja mal nach Mangos schauen, ja?“
„Ich will aber keine blöde Mango. Ich will Ananas!“, schrie ich vergebens. Denn Mami ließ nicht locker. Sie unterhielt sich auch nicht mehr mit der Frau hinter der Fleischtheke, sondern warf lieblos irgendwelche quietschbunten Packungen in den Einkaufswagen: Fertigpizza, abgepackter Gouda, Cornflakes mit peinlichen Extras, Nudeln in Form von Jiminy Grille. Meine Versuche, mir den Einkauf mit Mu-Err-Pilzen oder Weißweinessig zu versüßen, schlugen fehl.
Hier kommt der Eindruck auf, dass ein bisschen Zeit zwischen diesem und dem anderen Abschnitt liegt. Ich nehme an, dass der obige Teil eher das „damals“ war und jetzt kommt das „heute“. Daher vermutlich auch diese Formulierung „ich habe es heute noch deutlich vor Augen“. Die Erzählerin ist also noch gar nicht so viel älter? Vielleicht wäre es dann besser, noch einen kleinen Hinweis einzuflechten, wie alt die Erzählerin jetzt ist und nicht Worte wie „Geschmackserlebnis“ zu verwenden (klingt auch irgendwie nach Werbung). Ich meine jetzt nicht, so ganz plump, sondern etwas aus der kindlichen Perspektive. Weil sie ja immer noch ihre Mutter „Mami“ nennt, ist es schwierig, herauszufinden, wie alt sie nun ist. Aber ich denke, das ist wichtig, weil es zumindest mich beim Lesen verwirrt hat.
Die Mutter scheint auch nicht mehr zu kochen. Das ist ein starkes Bild, weil es ihr Desinteresse zeigt. (Ansonsten müssten sich ja Hinweise auf eine Berufstätigkeit z.B. finden lassen oder sonst etwas, warum sie nun keine Zeit mehr zum Kochen hat.)
Der letzte Satz klingt wieder etwas „älter“.
Und in der Obst- und Gemüseabteilung konnte ich es sowieso nicht mehr ausstehen, jetzt, wo sich die euphorische Hektik in eine…äh… hektische Hektik verwandelt hatte. Sogar die Caramello Koalas machten irgendwie keinen Spaß. Mami warf sie, ohne dass ich gebettelt hatte, gleichgültig zu dem ganzen anderen Kram.
Dass es vorher eine euphorische Hektik war, kann ich mir für das Kind gut vorstellen. Aber in dem ersten Satz dieses Abschnitts reflektiert die Erzählerin darüber, das klingt für mich dann wieder so, als wäre sie nun erwachsen. Dazu passt dann aber in meinen Augen das Wort „Mami“ nicht. Und auch nicht, dass sie immer noch Caramello Koalas bekommt.
Das „äh“ finde ich nicht gut. Dadurch hat das für mich sowas Ironisches, Lockeres. Den Unterton finde ich unpassend. Bisher hatte ich den Eindruck, da kommt was Melancholisches, jetzt scheint sie es mir so plaudernd und emotional eher distanziert zu erzählen.
Am Abend fragte ich Papa, wieso Mami nicht mehr Ananas kaufen wolle. Papa saß auf dem dunkelblauen Sofa in unserem Wohnzimmer, das viel sauberer war als sonst, und trank aus einer goldenen Dose mit weißen Verzierungen, die mich an ein Portal aus meinem Fantasybuch erinnerte. „Ach, weißt du…“, sagte er gähnend. Im Fernseher wurde ein Jäger von zwei Veloziraptoren zerfleischt. „Mami macht zurzeit doch eh nur, was sie will.“
Die Frage des Kindes erscheint mir plausibel, auch die Antwort des Vaters, er kann was nicht erklären oder es ist ihm egal, immerhin gähnt er beim Antworten und scheint auch sonst ziemlich müde, wenn er sich einen solchen Film ansieht und dabei so gleichgültig drauf ist. (Jeder Satz des Autors soll ja im Grunde dem Leser etwas mitteilen, also vermutet man hier, dem Vater ist auch alles egal oder er ist sehr müde).
Auch der Satz mit dem sauberen Sofa ist sicher ein Hinweis, den ich aber hier noch nicht verstanden habe.
Auch in der Schule fand ich wenig Anklang.
Das ist auch wieder so ein Satz, dass man meint, die Erzählerin ist schon erwachsen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht erinnern kann, als Kind so geredet zu haben bzw. kein Kind so je reden hörte. Es gibt ja regionale Unterschiede (z.B. sagt man im Berliner Raum „man kostet etwas“, und wenn man das am Niederrhein sagt, wirkt man gestelzt, weil es hier „probieren“ heißt in der Umgangssprache. ) Kann also auch an mir liegen.
Auch in der Schule fand ich wenig Anklang. Wir standen in einem Kreis auf dem geteerten Hof, der mich manchmal an einen riesigen Elefantenrücken erinnerte. Stefan trug einen kleinen gelben Plastikhelm und Sandalen, Markus eine Latzhose aus Jeans mit einer Lasche an der Seite, in die man einen Hammer stecken konnte. Meine beste Freundin Kiki behauptete, man könne auch ohne Ananas glücklich sein. Ihre Mutter kaufe nie welche, weil man davon so eine pelzige Zunge bekäme. Trotzdem hätten sie zu Hause eine Menge Spaß. Stefan und Markus nickten zustimmend. Die beiden sagten nie wirklich viel. Ich kaufte ihr das nicht ab. Erstens spielte sie die ganze Zeit nur am Computer und zweitens brachte sich ihre Mutter noch am selben Tag um. „Kein Wunder“, kommentierte Mami später trocken, „so viel, wie die immer gelacht hat.“
Dieser Abschnitt ließ mich verwirrt zurück. Die Erinnerung an den Elefantenrücken kann ich nachvollziehen, wenn ich mir den Boden so vorstelle. Die Schilderung der Kleidung der Kinder deutet wieder auf jüngere Kinder hin. Ich frage mich, warum mir erzählt wird, dass man in die Lasche der Hose einen Hammer stecken könne. Es scheint einfach nur so erzählt zu sein, um ein Bild zu erzeugen. Vielleicht wäre es besser, einen Gegenstand zu nehmen, der mehr zu der Erzählerin passt (irgendwas aus der Küche oder keine Ahnung, aus ihrem Fanatasybuch), um die Perspektive besser zu gestalten. Die Bemerkung mit der pelzigen Zunge und dass man auch ohne Ananas glücklich sein könne, finde ich wieder gut aus der kindlichen Perspektive.
Der Satz „Die beiden sagten nie wirklich viel“ erscheint mir überflüssig, da es im weiteren gar nicht um die beiden geht und weil sie ja nur nicken, wie Du schon geschrieben hast.
Wenn man eine Geschichte schreibt, in der Details wichtig sind für das Verstehen des Textes durch den Leser, dann ist es meiner Ansicht nach wichtig, die unwesentlichen Dinge auch so zu gestalten, dass der Leser nicht an ihnen hängenbleibt in Gedanken.
Ist nur meine Meinung, so habe ich das empfunden. Man denkt gerade noch darüber nach, warum dieser Satz mit dem sauberen Sofa dort steht. Nun kommt eine weitere detailreiche Schilderung, und man denkt „warum ein Hammer?“ Das ist jetzt überspitzt dargestellt, es geht mir nur darum zu zeigen, dass es schwierig ist, dem Leser die Informationen zu geben, die ihn auf den Weg zur Deutung des Textes bringen sollen und die Dinge nur anklingen zu lassen, die Atmosphäre und Bilder vor Augen des Lesers schaffen sollen, ihn aber nicht verwirren sollen.
Mit dem Selbstmord der anderen Mutter wirfst Du eine ganz andere Sache auf. Hier scheint also ein Kind – Kiki – zu sein, das sich die Welt schön redet, dass anderen Kindern erzählt, wie glücklich es zu Hause ist und dabei muss es völlig unglücklich sein. Entweder ist das ein weiterer Hinweis auf die eigentliche Geschichte, aber das habe ich beim Weiterlesen nicht so empfunden, oder Du wolltest es nur einbringen, um irgendwas in Richtung Fassade der anderen Familie zu zeigen. Ich finde das aber zu heftig, weil man als Leser denkt, dass dieser Abschnitt nun eine ganz besondere Bedeutung hat und nicht, dass es darum geht zu zeigen, man könne ohne Ananas eben doch nicht glücklich sein. Oder ich habe Dich nicht richtig verstanden und den Abschnitt nicht deuten können.
Auch die Reaktion der Mutter ist mir sehr unverständlich. Was willst Du mir damit sagen, frage ich mich. Das einzige, was ich mir so vorstellen kann, ist, dass die Mutter der Erzählerin depressiv ist bzw. völlig gleichgültig. Sonst würde sie so nicht reagieren. Und warum sagt sie „soviel, wie die immer gelacht hat“, was meint sie mit dieser Bemerkung? Ich frage mich, warum sie sich nun wirklich umgebracht hat, ob die Mutter nur sarkastisch ist. Und ob Kiki nicht doch recht hatte, dass es recht lustig zu Hause war, obwohl sie immer am Computer saß.
Die Formulierung „kommentierte Mami später trocken“ klingt wieder nach einem Erwachsenen und sehr distanziert. Immerhin ist es die beste Freundin der Erzählerin, sie wird die Mutter gekannt haben. Da finde ich es auch sehr unsensibel von der Mutter, dass sie ihrem Kind eine solche gefühllose Antwort gibt. Die Mutter kommt bis jetzt nirgends sympathisch herüber für mich.
Einige Tage danach lag ich abends noch wach im Bett. Mami war unterwegs, aber das störte mich nicht wirklich. Mit ihr konnte ich sowieso nicht mehr reden.
Also scheint die Mutter fremdzugehen, oder sie hat eine Arbeit. Aber das kursive „unterwegs“ scheint schon auf Fremdgehen hinzudeuten. Dieses kursive Hervorheben aber deutet wieder auf eine erwachsene Erzählerin hin, denn als Kind würde sie sich wohl einfach nur wundern, warum die Mutter auf einmal zu dieser Zeit weg ist. Oder sie spürt schon etwas. Dann würde es sie aber meines Erachtens schon sehr stören, denn ein Kind reagiert wohl eher mit Angst, wenn es merkt, dass sich das Zuhause aufzulösen beginnt und die Eltern sich nicht mehr umeinander kümmern, denke ich.
Ich streckte meine kleinen Arme und setzte mich umständlich an die Bettkante.
Hier würde ich die Adjektive weglassen. Es klingt sehr beschreibend und aus Sicht eines dritten, wenn von den kleinen Armen die Rede ist. Ich denke, sie wird ihre Arme einfach als „Arme“ bezeichnen und nicht noch erklären, dass sie klein sind. Viel wichtiger ist, was sie fühlt.
„Ich werde bald nicht mehr hier wohnen.“ Papa starrte gegen die Wand. Er sah irgendwie gelangweilt aus. Oder traurig, so genau konnte man das ja nie wissen. Doch dann begannen sich seine Augen mit Wasser zu füllen und es kullerte ihm eine einzige Träne über die mir zugewandte Backe.
Dass das Kind nicht spürt oder erkennt, dass sein Vater traurig ist, ist ein bedeutender Hinweis. Anscheinend war es dem Vater und dann auch der Vater ihm schon immer völlig gleichgültig. Wenn die Mutter so gleichgültig ist und der Vater auch, dann muss das Kind – die Erzählerin – auch gleichgültig sein, also kann ich mir jetzt auch erklären, dass sie der Tod der Mutter ihrer besten Freundin und deren Leid auch nicht sonderlich rühren wird. Eine emotionslose Familie also, bei dem einer von den Empfindungen des anderen keine Ahnung zu haben scheint. Den Eindruck hatte ich jedoch anfangs nicht, wo es lustige Streiche gab mit Taschenkrebsen und der Vater mit dem Kind die Cartoons sah und Pfannkuchen machte. Das sieht für mich als Leser eher nach einer Bindung aus, während jetzt der Eindruck aufkommt, die sind alle gleichgültig miteinander. Und wenn die Eltern erst nicht gleichgültig zu sich und dem Kind waren – so wäre das Kind nicht plötzlich auch gleichgültig, sondern hätte schwer zu kämpfen mit der abgekühlten Atmosphäre. Es hat das Leben und die Eltern anders kennengelernt und müsste, denke ich, zutiefst verzweifelt sein und in der Situation, in der der Vater weint, völlig verstört reagieren, weil die ganze schöne sichere Welt, in der das Kind gelebt hat bisher, nun zusammenbricht.
„Und wo wohnst du dann?“, fragte ich aufgeregt.
„Ich weiß es noch nicht, jedenfalls nicht mehr in diesem Haus.“ Papa umarmte mich nur. Er war sehr warm und zitterte am ganzen Körper. Ich bekam kaum Luft und ruderte mit den Armen, als müsse ich mich aus den Fängen einer ausgewachsenen Anakonda befreien. Papa fiel trotz seiner offensichtlichen Zerstreuung auf, wie ich verzweifelt kämpfte. Er ließ mich langsam los, sein Zittern wurde stärker. Die Zähne klapperten fröhlich wie viele kleine Kastagnetten. „Du kannst mich jederzeit besuchen kommen. Wir kochen und schauen uns Dumbo an. Es wird nicht so groß sein, wie hier und sicherlich nicht so hell…“
Ich wurde skeptisch. Nicht nur, weil ich wusste, dass Papa Dumbo nicht mochte und sich viel lieber Indiana Jones anschaute. „Wohin ziehst du denn? In einen Sarg, so wie Dracula?“
Auch dieser Abschnitt zeugt davon, dass keinerlei Emotionen zwischen den beiden besteht.
Warum fragt sie ihn „Wo wohnst du dann“
aufgeregt ?
Aus Angst, er könne ihrem Leben verloren gehen, weil er so weit weg zieht oder weil sie es spannend findet, dass er ganz woanders hingehen kann? Das wäre dann aber sehr unemotional. Immerhin hat sie gute Erinnerungen an ihn und das Zusammenleben mit ihm.
Auch das Zähneklappern als fröhlich zu bezeichnen, finde ich sehr unemotional. Seine Familie geht kaputt, er weint, und das Kind ist völlig ungerührt davon. Ich kritisiere nicht die Reaktion der Erzählerin, ich entnehme nur ihr Verhältnis zu ihrem Vater aus dem Geschilderten und bin etwas verwirrt, weil ich zu Anfang einen anderen Eindruck hatte.
Die Frage nach Dracula ist ebenso ein Hinweis darauf, dass das Kind völlig unemotional ist. Sonst würde es bestürzt sein, warum der Vater weint (macht er sicher nicht oft, denke ich mal) und Angst haben, weil er ja weggehen muss.
Natürlich zog er nicht in einen Sarg.
Den Satz finde ich wieder so locker ironisch lustig. Ich dachte immer noch, dass es sich um ein kleines Mädchen handelt, aber in dem nächsten Abschnitt erzählt sie ja von
ihrem Balkon, also hat sie eine eigene Wohnung und zwischen diesem und dem vorigen Abschnitt liegen Jahre oder Jahrzehnte?
Andererseits schleckt sie an einem Eis und freut sich über Maracuja, wie es vermutlich nur Kinder tun, ergo ist sie doch ein kleines Mädchen?
Dem Vater scheint es jetzt gut zu gehen. (Kein Wunder, die Mutter hat ihn betrogen, er war die ganze Zeit wohl unglücklich, sicherlich war sie auch zu ihm so schrecklich gleichgültig?) Er ist in der Geschichte der einzige, der emotional für mich klar und verständlich rüberkommt. Warum er allerdings diesen Satz zu seinem Kollegen ins Telefon singt, habe ich nicht herausfinden können, denn dass er ein Theoretiker war, der nicht zu leben verstanden hätte und nun entdeckt hat, wie man sein Leben genießen kann, habe ich dem Text nicht entnehmen können. Der Vater wirkte eher zunächst fröhlich (Pfannkuchen, Cartoons), dann verzweifelt (weint am Bett seines Kindes, muss ihm beibringen, dass er weggeht, weil die Mutter einen anderen hat).
Mein Vater schenkte uns ein.
„Was für ein Saft ist das denn?“, fragte ich kritisch.
„Ananas“, antworte er und zwinkerte mir lächelnd zu.
Ich konnte es kaum glauben. Meine Haut begann zu kribbeln, der Blick erstarrte. Die grelle Abendsonne wärmte meine Stirn, die Stimmen der draußen laufenden Passanten drangen klar in mein Ohr. Ich schloss die Augen. Meine Beine falteten sich zu einem zierlichen Schneidersitz, der Kopf knickte so stark ab, dass mein Kinn beinahe die linke Brustwarze berührte. Mein Vater beobachtete mich stumm. Ich hob meine Hände, um mit ihnen das Gesicht zu verdecken. „Jetzt wird alles wieder gut“, dachte ich und fing bitterlich an zu weinen.
Die Erzählerin scheint also das Geheimnis des Ananassafts bzw. der Frucht zu kennen. Es findet sich hier aber kein Hinweis darauf, seit wann sie es kennt. Wie alt ist sie denn nun, frage ich mich. Ein Kind kann es dann nicht mehr sein. Die Perspektive in der ganzen Geschichte ist nicht eindeutig für mich. Der Vater scheint kein Problem zu haben damit, dass seine Tochter offenbar Bescheid weiß, wenn er ihr zuzwinkert. Seine minderjährige oder seine erwachsene Tochter, die sich immer noch freut, wenn sie an die Maracujaeiskugel kommt und entsprechend fröhlich wird?
Die Erzählerin scheint emotional nun völlig aus der Fassung zu geraten. Sie starrt, hört alles ganz genau, spürt die Wärme, die Welt steht still. „Meine Beine falteten sich zu einem zierlichen Schneidersitz“ klingt so, als täten es die Beine von selbst, was gut sein kann, wenn man geschockt ist. Aber das „zierlich“ finde ich sehr unpassend, weil es so klingt, als würde sie über ihre Art zu sitzen in diesem Augenblick nachdenken und zu dem Entschluss kommen, dass es nett, hübsch, zierlich aussieht. Passt nicht zu dem Schockzustand meiner Ansicht nach.
„der Kopf“ klingt wie ein entfernter, unbeteiligter Beobachter. Dass es fast die linke Brustwarze berührte, finde ich auch nicht gut. Ich denke, Du möchtest den emotionalen Zustand der Protagonistin zeigen, als Leser fragt man sich aber an dieser Stelle, wie das wohl aussehen mag und ob es für einen normalen Menschen machbar ist, was sehr ablenkt von den Gefühlen, die man als Leser nachempfinden soll, wenn man mit der Erzählerin leiden, lachen, Angst haben soll. Ich denke auch, diese entfernte Perspektive insgesamt in diesem Abschnitt ist diesem Nachempfinden durch den Leser nicht dienlich. „Der Blick erstarrte“ – warum nicht „ich starrte auf ...“? Was empfindet man in so einem Zustand, wenn man plötzlich etwas erfährt, das einen umhaut?
Den letzten Satz fände ich mit mehr Emotionen auch besser. Dieses „bitterlich“ klingt für mich nach Märchen, nach einem distanzierten Erzähler, nicht nach einer Ich-Erzählerin, die gerade was erfahren hat, das ihr den Boden unter den Füßen wegzieht.
Jetzt ist natürlich die Frage, warum sie NUN weint. Als der Vater wegging, wollte sie aus seiner Umarmung, weil sie ihr die Luft fast abdrückte, fragte gespannt, ob er wie Dracula in einem Sarg wohnen würde, reagierte völlig ohne Emotionen (könnte also ein sehr kleines Kind gewesen sein, das noch gar nichts begriff, aber die anderen Bemerkungen deuteten auf ein anderes Alter hin). Weint sie, weil der Vater jemand anderes gefunden hat (deshalb ist er vielleicht so glücklich, fröhlich) und nun mit dieser Frau sein Ananasgeheimnis hat (das die Tochter zu kennen scheint, also ist sie älter?) oder war da Missbrauch im Spiel, worauf ich aber eigentlich gar keine Hinweise fand.
So richtig schlau werde ich aus der Geschichte nicht. Sie hat für mich eher einen gesellschaftlichen als erotischen Vordergrund. Das kann natürlich an mir liegen, keine Frage. Du hast ja schon ein paar andere Meinungen bekommen, die ich mir absichtlich nicht durchgelesen habe. Wenn ich Zeit hab, guck ich sie mir noch einmal an, vielleicht erklärt sich dann die Absicht, die hinter dem Text steckt.
vio