Angelina
Es war ein kalter Freitag Abend. Dächer, kahle Bäume waren bedeckt von einem weißen schützendem Mantel und kleine feine eisige Flocken rieselten auf die triste Erde nieder. Es schien als ob die Welt für einen Augenblick still steht. Bloß die Wolken weinten. In der Hoffnung ein Teil von ihnen könnte die Erde besuchen.
In der weisen Winterlandschaft regte sich etwas.
Ich schließe die Tür hinter mir und packe meine große, schwere Tasche, um mich auf den Weg zu machen. Dabei ist es viel zu kalt. Mir ist kalt trotz der wärmenden Kleidung, die mir kaum Raum zum atmen lässt. Jeden Freitag die selbe Prozedur. Auch wenn es nur eine Stunde Arbeit ist die Zeitungen zu verteilen, bedeutet es in dieser Zeit immer eine Überwindung das schöne, warme Heim zu verlassen. Außerdem ist diese für eine Südländerin noch größer. Keine Menschenseele hat sich nach draußen verirrt. Ich habe bald die Hälfte geschafft. Ich bin so müde. Vielleicht kann ich bei Angelina mich ein wenig ausruhen. Ihr Haus befindet sich glücklicher Weise auf meiner Strecke. Sie hat doch immer etwas Zeit für mich. Doch je näher ich ihrem Haus komme, desto so größer wird der Lärm, der von ihm ausgeht. Ich bin verwirrt. Ich habe Angelinas Familie noch nie streiten hören. Sie schienen doch immer so glücklich, so perfekt zusein. Etwa zu perfekt? Ich fühle die Angst, die mich zupacken versucht, aufkommen. Als ich mich fast vor dem Haus befinde, beginne ich Wortfetzen erst richtig zu verstehen.
„... Wie kann das nur sein? Ich habe alles getan, was ich konnte! Und was ist nun?...“
„... Da lässt sich bestimmt eine Lösung finden!...“
Das Fenster wird geschloßen. Kurz darauf kann ich noch hören wie eine Flasche zerschlagen wird und ein kurzer stumpfer Schrei ertönt. Stille. Ich kann nicht glauben, was ich gerade miterlebt habe. Das war Angelinas klare, beruhigende Stimme. Was war denn bloß passiert? Ich mache mir Sorgen. Doch ist das nicht eine Familienangelegenheit? Ich werde sie besser in der Schule morgen fragen.
Es scheint, als ob nichts geschehen wäre. Sie holt mich wie jeden Morgen strahlend, lächelnd ab. Nur die Schnittwunde, die sich über ihre Wange erstreckt gibt einen Hinweis darauf was geschehen ist. Wie jeden Morgen trägt sie ihre langen hellen, aschblonden, gelockten Haare offen. Angelina ist klein, aber feengleich zierlich. Jedoch strahlt sie eine solche Stärke aus und anstatt vielleicht vermutete Zerbrechlichkeit. Ihre Haut ist weiß wie der Schnee und ihre Augen strahlen so blau wie der Himmel. Ein kleines Wunder steht vor mir. Manchmal denke ich darüber nach, ob sie nicht vielleicht adoptiert ist. Denn der Rest ihrer Familie hat dunkle Haare und Augen. Genau wie ich. Ich habe noch nie eine solche Persönlichkeit getroffen. Sie ist so rein und liebt das Leben, ihre Familie von ganzem Herzen. Für jeden ist Angelina da. Sie handelt völlig selbstlos. Ich schätze mich glücklich, dass ich ihre beste Freundin sein darf.
Ich fühle mich benommen. Eine brennende Hitze spürend, schrecke ich hoch. Feuer! Jetzt ruhig bleiben. Ich verständige mit meinem Handy die Feuerwehr. Ich nehme meine Bettdecke wickle mich darin ein und renne zu dem Ende des Flurs. Blind und umgeben von der beißenden Hitze, stürze ich mich gegen die Tür von meinem schutzlosen kleinen Bruder. Er schreit aus Leibeskräften und wimmert. Doch die Tür will sich nicht aufbrechen lassen. Die Schreie werden leiser. Die giftigen Gase mussten schon zu ihm vorgedrungen sein. Mit aller Kraft werfe ich mich gegen die schwere, übermächtige Tür. Sie bricht. Ich falle nieder und raffe mich auf. Instinktiv laufe ich in die Richtung des Kinderbettchens. Geleitet von dem immer leiser werdend Wimmern, bleibe ich an meinem Ziel stehen. Ich öffne meine Decke. Überall Feuer. An den Wänden und dem Kinderbettchen klettern die Flammen hungrig hinauf. Ich nehme Enriko in meine Arme und schließe die Decke wieder um uns. Raus aus dem Zimmer taste ich mich zu dem Schlafzimmer vor an den Wänden entlang. Die Flammen haben sich allmählich sich durch die Decke gekämpft. Obwohl der Schmerz groß ist, lasse ich die Decke fallen und umklammere meinen Bruder so fest und schützend wie ich nur kann. Ich habe Angst was mich dort erwartet. Doch ich muss versuchen meine Familie zu retten. Plötzlich höre ich die Sirene des Feuerwehrwagens. Es geht alles auf einmal rasend schnell. Die Feuerwehrmänner bringen mich raus. Draussen werde ich sofort in eine glänzende Folie eingewickelt und Enriko mir entrissen. Warum dauerte es bloß so lange? Wo waren meine Eltern?
Ich umklammerte das Einzige, was mir in diesem Moment noch bleibt. Mein goldenes Herzmedallion, in diesem befinden sich Bilder von meiner Familie. Bilder auf denen wir glücklich waren. Sie haben es mir vor einem Monat an meinem 17 Geburtstag geschenkt. Ich habe alles für meine Familie getan. Ich liebe sie doch. So darf es nicht enden...
Es stellte sich heraus, dass der Brand von Angelinas Vater verursacht wurde. Dieser wurde mit einer Flasche Whisky in der Hand tot geborgen.
Grund für das Flammeninferno war eine Zigarette. Diese konnte er nicht ausmachen, da er eine zu hohe Dosis Alkohol konsumiert hatte. Ihr Vater war bewusstlos, als sich das Feuer gierig verbreitete und sein Leben mit sich nahm.
Es wird vermutet, dass kurz zuvor ein Streit statt gefunden haben muss. Ein Grund für die Eskalation könnte die Verzweiflung ihres Vaters gewesen sein. Aufgrund eines, nicht selbstverschuldeten, Arbeitsunfalls wurde er nicht nur arbeitslos sondern zum Pflegefall.
Dieser Schicksalsschlag zerstörte die Familie. Angelina und Enriko verlierten nicht nur ihre Eltern sondern auch das Glänzen in ihren blauen Augen.