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Angst
Ich lehne an einer steinernen Wand. Die Kälte fährt mir durch den Körper. Ich zittere. Ich habe Angst. Meine Hände umgreifen das Gewehr und drücken es fest an meine Brust. Ich höre sie. Um die Ecke steht ein Panzer. Ich weiß es. Ich höre ihn. Und ich höre die Russen schreien. Und ich höre Schüsse.
Ich setze mich auf den Boden. Er ist nass. Meine Uniform saugt das Blut auf, doch ich merke es gar nicht. Vor mir liegt Frederik. Blut tritt aus einer Wunde an seinem Kopf. Meine Schuhe sind blutverschmiert. Doch ich sehe die rote Farbe nicht. Es ist dunkel. Schon seit Tagen habe ich keine Farben mehr gesehen. Die Artillerie der Russen hat den Himmel schwarz gefärbt. Und es regnet Asche. Mein Gesicht ist dreckverschmiert. Ich atme hastig. Und doch leise.
Sie dürfen mich nicht hören, denke ich. Mein Herz rast. Wo sind die anderen? Bin ich der letzte?
Ich hatte oft mit Frederik gespielt. Wir gingen zusammen in die HJ. Wir waren die besten Kameraden; Freunde. Jetzt, wo ich ihn dort liegen sehe, tot, kann ich es nicht fassen. Ich will zurück in die gute alte Zeit. Eine Träne rollt über meine erdverschmierte Wange. Ich versuche mich an den Frühling zu erinnern. An die Wiesen, wie sie grün und weit vor uns lagen, und wie wir über sie hinwegrannten. Frederik und ich. Nun liegt er tot vor mir. Ein plötzlicher Hass überkommt mich. Nicht auf die Russen, sondern auf den Kommandanten der SS, der uns ermuntert hatte, zur Waffe zu greifen. Zwölfjährige Jungen! Doch der Zorn verfliegt, noch bevor er sich richtig aufgebaut hat. Die Angst überwiegt.
Ich will nicht sterben, denke ich immer wieder. Wo ist dieses Grün der Wiese? Das Rot und Gelb und Blau der Blumen? Seit Tagen habe ich die Sonne nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich nicht an das Grün der Wiese. Ich erinnere mich nicht mehr an den Geruch der Blumen. Meine Nase riecht nur das Feuer der brennenden Häuser und den Gestank der Leichen. Meine Augen sehen nur noch eine dunkle, dreckige Welt. Eine Welt ohne Farben.
Auf der anderen Seite der Kreuzung höre ich einige Männer schreien. Es sind Deutsche, die zum Angriff auf einen russischen Panzer blasen. Ich höre Schüsse und Schreie. Ich greife mein Gewehr noch fester und presse meinen Kopf an die Wand. Bitte, lass sie mich nicht sehen, bete ich. Mein ganzer Leib zittert und meine Knochen schmerzen. Den Hunger spüre ich gar nicht mehr. Ich will nur weg von hier. Ganz gleich wie es auch enden mag, bitte, Gott, lass es enden.
Die Schüsse verstummen, aber ich wage nicht aufzusehen. Ich höre das schwere Grollen der Ketten des Panzers. Im selben Moment wird mir bewusst, dass sie tot sind. Noch mehr Blut auf den Straßen Berlins. Und es wird noch viel mehr fließen. Das Grollen wird lauter und von Sekunde zu Sekunde wird meine Angst größer. Ich vibriere. Ich möchte schreien. Ich reiße den Mund auf, doch ich bringe keinen Ton heraus. Mach, dass es endet. Mach, dass es endet!
Tränen laufen mir über das Gesicht. Dann höre ich russische Stimmen. Ich versuche aufzusehen, doch ich kann mich nicht bewegen. Ich spüre die raue, kalte Wand an meinem Kopf. Und das Blut, mit dem sich meine Hose voll saugt.
Vor mir steht ein Soldat. Ich sehe ihn nicht, doch er tritt mit einem seiner Füße auf Frederiks Rücken. Diese Erschütterung dreht seinen Kopf in meine Richtung. Seine toten Augen starren mich an. Noch immer steht der Schrecken und die Angst in seinem Gesicht. Der Russe mustert mich. Ich bin unfähig, irgend etwas zu machen. Ich bringe nur leises Schluchzen hervor. Mein Kopf schmerzt. Ich kann nicht klar denken. Der Russe beugt sich vor. Er will mir mein Gewehr entreißen, doch ich umklammere es mit aller Kraft. Es ist das einzige, was mir hier noch das Gefühl von Schutz gibt. Der Russe richtet sich wieder auf und sagt einige Worte in gebrochenem Deutsch zu mir: „Ihr Deutschen seid doch alle gleich!“ Dann erhebt er seine Waffe und schießt...