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Anna unter Sternen

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26.10.2001
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Anna unter Sternen

Es gab Zeiten, da ergriff eine nie zuvor gekannte Langweile, eine quälende Leere von mir Besitz. In den feuchten und kühlen Tagen jenes Herbstes fühlte ich mich unruhig, einem Tier im Käfig gleich, das von dumpfer Rastlosigkeit getrieben hin und her läuft und doch nie von der Stelle kommt. Dinge, die mir einst Vergnügen und Entspannung gewesen waren, erschienen mir nun sinnlos und fad. Selbst meine geliebten Bücher vermochten mich nicht aufzuheitern – wer hätte auch bei der fünften, gar sechsten Lektüre des "Idioten" noch Staunen, Ergriffenheit, Ehrfurcht empfunden? Es war das ständige Wiederkauen, das Aufbereiten des Alten, das mich zutiefst anödete. So kam es, daß ich mich einer alten Freundin entsann, die in der kargen Einöde weit vor den Toren dieser Stadt lebte. Seit langer Zeit hatten wir einander nicht gesehen, doch war mir die alte Anna im Herzen noch immer lieb und teuer. In der Hoffnung auf ein gutes Gespräch und ein wenig Körperwärme nahm ich eines Abends meinen Spazierstock zur Hand, rückte meinen besten Hut zurecht und machte mich auf den Weg zu Annas Hütte.

*

Schon von weitem sah sie mich kommen und winkte mir zu. Ich sah Merkwürdiges vor sich gehen und beschleunigte meinen Schritt. War das denn die Möglichkeit? Da stand Anna, eingepackt in unzählige Zwiebelschichten dicker Strickkleidung, und schwang ein Beil hoch in die Luft. Sie ließ es niedersau-sen auf einen Packen Holzscheiten, den ich – sollten mir meine Augen nicht einen närrischen Streich spielen - als einen Teil ihrer Haustür wiedererkannte. Erst jetzt fiel mir auf, daß Annas kleine Holzhütte, die einst wie ein verwunschenes Schloß über diesen kargen Hügeln gethront hatte, wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien. Dafür lagen nun unzählige Bretter und zerborstene Tonziegel im weichen Moosbett verstreut. Überreste eines Tisches reckten die Beine einem fahlen Himmel entgegen.
„Anna! Mein liebes Mädchen, was hast du nur getan!“ rief ich aus, entsetzt über den Anblick, der sich mir dort bot. „Deine schöne Hütte, dein Zuhause! Alles zerstört!“
Annas rundes, von feinen Spinnweben durchzogenes Gesicht leuchtete auf. Sie legte das Beil ab und hüpfte leichtfüßig an meine Seite. Es kam mir vor, als sei sie um zwanzig Jahre verjüngt.
„Ach was! Dieses wurmzerfressene Loch, darum ist es gar nicht schade!“ Sie drückte mir einen Kuß auf die Wange, ganz so, wie sie es vor langer Zeit das letzte Mal getan hatte. Für einen kurzen, schwindelerregenden Moment glaubte ich, die feinen Gerüche jener längst vergangenen Tage wahrzunehmen, das Aroma von frisch geschnittenem Heu und Annas warmer Haut...
„Aber Anna! Wo wirst du denn nun schlafen, so ganz ohne Hütte?“
„Darum geht es ja gerade, mein Lieber. Ich will den Sternen nahe sein. Deshalb hab ich mir ja auch gedacht, wie praktisch es wäre, die Hütte zu zerschlagen.“
„Wie bitte!?“
„Na, ich darf nun jede Nacht unter freiem Himmel verbringen, ohne diesen hölzernen Käfig um mich herum. Du mußt wissen, ich habe das früher schon versucht. Hab mich ins Moos gelegt, um unter den Sternen einzuschlafen. Aber jedesmal, wenn ich gerade die Augen schließen wollte, hat mich diese verflixte Hütte wieder zu sich gerufen. Ragte wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel und verstand es jedes Mal aufs Neue, mich zu sich zu locken: Komm doch rein zu mir, Anna! Es gehört sich nicht für eine alte Frau wie dich, auf dem schmutzigen Boden zu schlafen! Was ist, wenn dich jemand sieht?“ Anna zwinkerte mir zu. „Diese listige Schlange von einem Holzgerippe! Damit ist jetzt Schluß. Ich mache jetzt, was mir gefällt.“
Ich schüttelte den Kopf; zweifelnd, fassungslos. Sie mußte ganz und gar den Verstand verloren haben.
„Was du nur redest! Du wirst dir den Tod holen in deinem Irrsinn. Schon jetzt sind die Nächte bitterkalt. Der Winter bricht bald herein!“
„Glaubst du denn, in der stinkigen Hütte ist es so warm gewesen?“ Anna lachte auf, es klang in meinen Ohren wie helles Vogelzwitschern. „Kalt war es! Und feucht noch dazu! Jetzt kann ich mir mit all dem Holz ein wunderbares Feuer machen und meinen alten Leib daran wärmen. Ein schönes Feuerchen wird das geben, da kannst du dir sicher sein.“
„Sei doch nicht dumm. Das reicht vielleicht für drei, vielleicht vier Nächte. Was willst du danach machen? Schau dich doch nur um: In diesem Ödland - wie willst du da genügend Holz finden, um durch den Winter zu kommen?“ Vor meinem geistigen Augen sah ich Anna regungslos in einer Schneewehe liegen, die Glieder steif, mit glitzerndem Rauhreif im Haar.
„Ah, was bist du nur für ein alter, verknöcherter Nörgler!“ Die Bestürzung in meinem Blick ließ sie schmunzeln. „Immer heißt es nur: Aber, wenn und aber! Ich habe genug davon, mir den Kopf schwer zu machen. Was kümmert es mich jetzt, was morgen sein wird? Du und ich, wir sind morgen vielleicht schon längst nicht mehr. Vielleicht soll es ja so sein.“
Mit diesen Worten gab sie mir einen Knuff in die Seite und sprang jauchzend in einen Berg großer Holzsplitter, der mir ganz so aussah, als sei er einmal ein Fensterladen gewesen. Mit offenen Mund sah ich zu, wie Annas breiter, oftmals plump wirkender Körper über den Leichenteilen ihrer einstigen Behausung tanzte. Ich hörte, wie sich ihre Stimme glockenklar zu einem jubelnden Gesang erhob, der die Luft erfüllte. Mit dem Fuß kickte sie geschickt kleinere Bruchstücke davon, um ihnen gleich darauf nachzujagen, sie aufzuheben und noch weiter in die Ferne zu schleudern. Es war ein Festmahl, ein Fest des Chaos und der freudigen Befreiung. Mochte ich dem Spektakel auch mit Skepsis, gar Besorgnis gegenüberstehen, so konnte ich mich doch nicht ganz der faszinierenden Wirkung dieses Schau-spieles entziehen. Eines war nicht zu leugnen: Niemals zuvor hatte ich einen erwachsenen Menschen in einem Zustand solch kindlicher Freude erlebt.
„Weg, weg, hinfort mit dir!“ gab Anna einer großen Glasscherben mit auf den Weg, die wie ein fun-kelnder Speer durch die kühle Abendluft schoß, an einem großen Stein aufschlug und zerbarst. „Herrlich, hast du gehört, wie das klirrt? Hier, versuch’s doch auch einmal!“
Ehe ich mich versah, landete auch schon ein dünner, schmaler Balken in meinen Händen. Ich zögerte, doch meine Finger schlossen sich wie von selbst um das rauhe Material.
Sollte ich...?
Ach nein, lieber nicht.
Vielleicht aber... schaden konnte es ja bestimmt nicht.
Oder?
Und so holte ich weit aus und schleuderte den Balken so weit ich konnte von mir fort. Es gab ein dumpfes Geräusch, das ein angenehmes Kitzeln in meinem Magen verursachte. Wie seltsam...das hatte sich gar nicht so schlecht angefühlt! Ich konnte mir ein breites, sicherlich sehr dümmlich wirkendes Grinsen nicht verkneifen.
Schon hielt ich das nächste Stück in den Händen, einen sperrigen Holzklumpen, den ich in hohen Bogen davon fliegen ließ. Ein gackerndes Kichern entwich meiner Kehle; ich fühlte, wie sich eine warme Pfütze in meinem Innersten ausbreitete. Freude...wilde, anarchische Erregung.
Der Hunger nach mehr.


*

Es gab Zeiten, da ergriff eine nie zuvor gekannte Langeweile, eine quälende Leere von mir Besitz. In langen, kalten Winternächten lag ich oftmals unruhig wach und starrte aus dem Fenster. An einem blauschwarzen Himmel schwammen glitzernde Sterne; ihr Locken drang in mich ein, eroberte meinen Geist, hielt mich fest umklammert. Nur selten fand ich Erlösung in kurzen Phasen des Schlafes, einem Schlaf, der von wirren Träumen durchtränkt war. Bilder suchten mich heim, verschwommene Fetzen; Visionen gleich. Ich sah Funken, rot und golden, ein Feuer, dessen Flammen mir züngelnd entgegen peitschten. Wärme, wohlige Wärme...ein rundes, von feinen Spinnweben durchzogenes Gesicht mit listigen Augen, Annas warme Stimme. Ein Flüstern nur, jedoch viel zu durchdringend, um nur trügerische Illusion zu sein.
„Manchmal,“ so erzählte mir diese Wisperstimme, „mußt du etwas zerstören, um dich zu befreien.“
Und ich glaubte ihr.
Es war an einem Wintermorgen.
Da erwachte ich aus einem wirren Traumgebilde.
Ich stand auf und wankte durch den Raum
Und verpaßte meiner Haustür einen kräftigen Tritt, der sie aus den Angeln hob.
Das Geräusch von splitterndem Holz
War mir
Die schönste Melodie.

 

Eine märchenhafte Sage?Ja.Die Aussage pointiert,wunderschön.Sehr guter Erzählstil.
Eine Geschichte für Denker.Danke.

Aqualung

 

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