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Archuego
Sein Job war es, den Müll aufzuräumen. Die Getränkedosen, Snackverpackungen und messerscharfen Glasscherben dieser Welt. Alle Besucher hier hinterließen welchen, in einer Bar ist das so üblich. Es war wie sonst auch wieder zum Bersten voll. Die meisten kamen her während ihrer Freizeitschicht, doch er musste hier arbeiten. Acht Stunden lang, jeden Tag. Er blickte hinüber zu den Toilettentüren, seufzte innerlich ob des Chaos, das dort wohl wieder herrschen mochte. Beheizte Toilettensitze, automatisches Spülen und Abspritzen der Gesäßöffnung, Wasserhähne und Seifenspender mit Bewegungssensoren und die Wahl zwischen einem handtemperaturangepassten Föhn und einer algorithmisch portionierten Menge von Papiertüchern für die nassen Hände. Ein Mülleimer, der den Gästen auf Schritt und Tritt folgt und den fest montierten ergänzt, fehlte allerdings noch. Bis dahin oblag es ihm wohl, die Horden an Papier-, Plastik- und Fäkalienresten, die zu Fliesenboden gingen, selbst einzuräumen.
Die Uhr gab ihm Hoffnung: Nur noch eine halbe Stunde bis Schichtende. Manchmal wünschte er sich, er könnte auch seine Freizeit hier verbringen. Es gab viele Orte ähnlich zu diesem, aber keinen, der genau wie dieser war. Nirgends sonst wurden die Schnapsflaschen im offen gekühlten Regal hinter den edelhölzernen Tresen derart raffiniert und kunstvoll ausgeleuchtet, kein lederbezogener und automatisch höhenverstellter Hocker, auf dem er je gesessen hatte, konnte ihn im Sitzkomfort derart überzeugen wie die in dieser Bar. Doch er wusste, dass Arbeit und Freizeit strikt zu trennen waren. Er hatte keine andere Wahl: Sobald er durch die Ausgangstür treten würde, um seine Arbeitsschicht zu beenden, gäbe es kein Zurück. Einer der Tische wurde frei. Eine zertretene Dose unter dem Tisch und einige Verpackungen in die Sofaritzen gequetscht – das Übliche.
Die Tür fiel hinter ihm zu, die Bässe der elektronischen Musik waren noch leicht zu hören. Vor ihm die endlosen Gänge: Die Wände waren matt Platinweiß mit zwei neonblauen Leuchtstreifen auf Kopf- und Kniehöhe, die die komplette Länge der Wand durchzogen. Mit nur etwa eineinhalb Metern Breite und zweieinhalb Metern Höhe konnte es in den Gängen schnell klaustrophobisch werden, doch niemals begegnete man einem anderen Menschen auf ihnen. In rechten Winkeln mäanderten die Gänge endlos weiter, sporadisch tauchte zur Linken oder Rechten eine Tür mit einem kleinen runden Fenster auf, durch das man sich ein Bild vom Innern machen konnte. Für seine Freizeitschicht hatte er freie Wahl, welche Location er dafür aufsuchen möchte. Es würden ihm ohnehin nur Türen zu Räumen angeboten, die er für seine Freizeitgestaltung begehrte. Er war jung; Discos, Bars und Sportclubs waren seine Welt. Seine Eltern hingegen verbrachten wohl gerade ihre Zeit in einem dieser Diners, mit der langsamen, krächzenden Musik und den Menschen mit peinlichen Frisuren hinter der Theke.
Dieser Ort, Archuego, erlaubte keinem Menschen den Zutritt zu seinem Schlafzimmer, bis seine Freizeitschicht vorüber war und die Freizeitschicht musste immer auf die Arbeitsschicht folgen. Ein geregelter Tagesablauf für ein ökonomisches Miteinander, bestehend aus Dritteln zu jeweils 8 Stunden. Kriminelle hingegen verschwanden einfach. Es wurde gemutmaßt, dass sie bis ans Ende ihrer Tage auf den Gängen umher irrten, alle Türen nur den Weg in ein bodenloses Loch bereiteten.
Er fragte sich, ob die Gänge tatsächlich endlos waren. Würde er, solange er nur ihrem Verlauf folgt, irgendwann in eine Sackgasse gelangen? Oder würde er im Kreis gehen und nach einiger Zeit wieder vor der selben Tür stehen? Er sah jeden Tag die gleichen Menschen an den gleichen Orten, so groß konnte diese Welt doch wahrlich nicht sein. Er beschloss, einige Stunden lang den Gängen zu folgen, länger als er es sonst je getan hatte. Üblicherweise entsprach sofort die erste oder zweite Tür entlang des Ganges seinem Gusto.
Die Stunden vergingen. Die Türen zeigten abwechselnd Räume, die er bereits bestens kannte und solche, die er gerne noch sehen würde. Doch ein Ende war nicht in Sicht, die Gänge wussten stets noch Ungesehenes vorzubringen. Später stoß er auf Türen, die ihn nur mäßig oder gar nicht ansprachen. Da waren Leute, die Brettspiele spielten, Leute, die Pflanzen züchteten, akribisch gossen und die Blätter stutzten und Leute, die nackt auf allen Vieren krochen und versuchten, sich gegenseitig auf den Rücken zu werfen.
Er fragte sich, wo all diese Menschen wohl her kommen mochten. Der Gang führte nach rechts. Kurz vor der nächsten Kurve, die nach links führte, sah er eine ungewöhnliche Tür. Sie hatte kein Fenster wie die anderen Türen, nur ein großes gelbes Dreieck darauf gedruckt. Er ging hin und öffnete sie. Ein Luftstoß kam ihm entgegen und er musste kurz die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, sah er den wohl größten Raum, den es geben konnte. Weder die Decke noch irgendwelche begrenzenden Wände waren zu sehen; sie mussten jenseits des Horizonts irgendwo liegen. Hinter ihm hörte er eine leise Musik, ein Gesang, der wahrscheinlich aus einem der anderen Räume drang. Er verstand den Text nicht, aber der Sänger wiederholte immer die gleichen vier Noten.
Direkt vor ihm war ein gepflasterter Weg, der schlangenartig an einem steilen steinernen Hang entlang führte. Entlang des Weges waren weitere Türen mit gelbem Dreieck darauf. Kurz vor dem Abgrund standen dicke Säulen, die noch mehr platinweiße, wenn auch verschmutzte Wände oberhalb des Weges trugen. Sie hatten weder Fenster noch Türen. Der Gesang hinter ihm wurde etwas lauter, den Text konnte er aber immer noch nicht verstehen.
Die Decke des gigantischen Raumes warf orangenes Licht, das an einigen Stellen von schwarzem, hoch über ihm schwebendem Nebel bedeckt wurde. In weiter Entfernung sah er weitere steile Klippen, von ihm getrennt durch gigantische Wassermassen, die er so bisher nie gesehen hatte. Das Wasser schimmerte in einem unheilvollen Dunkelgrün, während es unruhig vor sich hin waberte und mit einem lautstarken Rauschen ab und zu gegen die Felsen prallte. Wieder war der Gesang etwas lauter geworden. Er erkannte nun den Text. Der Sänger wiederholte immer die gleichen vier Töne und er sang seinen Namen. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Wer war das? Und warum konnte er sich nicht umdrehen, um zu schauen? Der Anblick des Raumes vor ihm schien ihn unlösbar zu fesseln.
Entlang des Pflasterweges patrouillierten wenige große humanoide Roboter, die immer mal wieder inne hielten, um den gegenseitigen Blickkontakt zu suchen. Ihre Köpfe waren geformt wie die eines Frosches, die graue metallene Oberfläche war an einigen Stellen orange gefärbt. Der Gesang war nun deutlich verständlich, doch er vermochte es immer noch nicht, sich umzudrehen. Kalter Schweiß lief ihm von der Stirn und die Haare in seinem Nacken stellten sich ungehorsam auf.
Auf den Landmassen in der Ferne waren in den Augenblicken, in denen das Licht nicht verdeckt wurde, kantige Silhouetten zu erkennen. Einige von ihnen pusteten noch mehr von dem schwarzen Nebel an die Decke. Der Sänger schien nun unmittelbar hinter ihm zu stehen und seinen Namen mit feuriger Inbrunst durch die Gänge zu tragen. Sein Puls wurde immer schneller, seine zitternden Hände berührten kaum noch die Türklinke.
Eine der Silhouetten stürzte gerade in sich zusammen. Nun war die Quelle des Gesangs direkt neben ihm und brüllte schonungslos in sein Ohr, die Laute durchdrangen Mark und Bein. Sein Herz drohte ihm aus der Brust vor die versteinerten Beine zu springen. Sein ganzer Körper vibrierte. Mit einem lauten Knall fiel die Tür zurück ins Schloss und der Sänger verstummte augenblicklich. Er drehte sich um. Er war allein.
Seine Freizeitschicht war wohl vorüber. Die Gänge boten ihm nur noch die Tür zu seinem Schlafzimmer. Er ging hindurch, drinnen waren sechs dicht in zwei Reihen angeordnete Betten, nur getrennt durch kleine Nachttische. Er teilte sich das Zimmer mit einigen anderen, die aber wahrscheinlich gerade alle noch unterwegs waren, denn das Zimmer war sonst leer. Auf seinem Nachttisch stand eine fertig vorbereitete Zahnbürste, mit der er sich den Mundraum reinigte. Dann schlüpfte er in die Schlafkleidung, die er unter seiner Bettdecke aufbewahrte. Er legte sich ins Bett und griff nach dem kleinen transparenten, zylinderförmigen Gegenstand, der auf dem Nachttisch lag. Er war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und hatte an einem Ende eine kleine Nadel und einen Knopf. Er hielt sich den Gegenstand an die Schulter. Ein kleiner Piecks in den Arm - 30 Sekunden später schlief er.
Er fand sich wieder in den endlosen Gängen. Die Wände waren schwarz mit zwei dunkelroten Leuchtstreifen auf Kopf- und Kniehöhe, die die komplette Länge der Wand durchzogen. Die Türen besaßen allesamt keine Fenster. Er entschied sich für die nächstbeste und trat ein. Dahinter war ein mit schwarzen Kacheln ausgekleideter Raum, der von kleinen weiß strahlenden Kerzen an den Wänden beleuchtet wurde. In der Mitte des Raumes stand ein schlichter schwarzer Schreibtisch, dahinter saß ein älterer Mann mit ebenfalls schwarzem Anzug. Der Mann stand langsam auf als er seinen Besucher sah, die glänzenden Reflexionen auf dem Anzug sahen aus, als würde er komplett aus schwarzen Federn bestehen. Beide Hände auf den Schreibtisch gestützt begann der Mann mit durchdringendem Blick und ruhiger Stimme zu sprechen: "Nicht oft erhalte ich Besuch hier unten." Der Mann schien auf eine Reaktion zu hoffen, doch als diese nicht kam, fuhr er fort: "Hast du nun gesehen was wir getan haben? Wozu wir imstande sind? Doch wir lernen nicht aus unseren Fehlern, der menschliche Geist ist sterblich und so wiederholt sich die Geschichte alle paar Generationen. Aber für eine neue Runde ist die Welt da draußen noch nicht bereit.
Es ist unumgänglich: Wir verschmutzen und verschwenden und geben uns der Dekadenz hin. Wir streben nach immer mehr, denn Stagnation fühlt sich nach Regression an. Wir setzen immer mehr unserer Art in die Welt, denn wir haben keinen natürlichen Feind, den wir fürchten müssen, keine Begrenzung, die uns und die Welt vor uns selbst schützt. Wer soll uns in die Schranken weisen, wenn wir schon längst beschlossen haben, dass wir Gottes Erben sind?"
Der Mann hebt seine Stimme, die Lichter an den Wänden flackern immer aufgeregter, und er spricht weiter: "Die Welt aus der du kommst, ist das Paradies auf Erden, eine perfektionierte Momentaufnahme dessen, was wir uns im Zenit unserer Zivilisation erarbeitet hatten. Doch es ist eine pervertierte Idee: Wir zwangen uns in streng geregelte Tagesabläufe und soziale Normen. Diesen Zwang übernimmt nun unsere Umwelt, was wohl unserer Vorstellung von Bequemlichkeit entspricht. Wir leben im unbegrenzten Überfluss, aber zu welchem Preis? Das streng überwachte System aus Gängen und Räumen ist nichts weiter als ein grausamer Witz, ein spöttisches Echo des Betts, in das wir uns zu legen pflegten. Mein Freund, Archuego ist ein Spielplatz, ein großes Quarantänezelt, in dem wir unserer Natur gemäß leben können und die unschuldige Welt dort draußen verschonen." Völlig außer Atem fällt der Mann in seinen Stuhl zurück.
Er konnte nicht verstehen, warum der alte Mann so aufgebracht war. Sein Job war es, den Müll aufzuräumen. Er verließ den Raum. Die Tür führte direkt in sein Schlafzimmer, also legte er sich sofort zurück in sein Bett und schlief weiter.