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Auf dem Balkon
Das schmiedeeiserne Balkongitter hatte eine Roststelle! Das durfte doch nicht wahr sein! Es war uralt, aber erst im letzten Sommer hatte sie es überprüfen lassen. Marit ging in die Hocke, um den Schaden genauer zu begutachten. Plötzlich wurde ihr schwindelig. Was sie entdeckt hatte, war nicht bloß eine rostige Stelle – das Gitter war durchgerostet. Und zwar an mehreren Stellen. Ein großer Abschnitt des Balkongitterswurde nur noch an einem winzigen schwarzen Etwas in seiner aufrechten Position gehalten. Marit kniete sich hin, um sich die Sache genauer anzusehen. Das schwarze Etwas war eine dünne Schnur. Bei der kleinsten Belastung würde sie reißen. Marit starrte nach unten. 25 Meter, schätzte sie, unten Asphalt. Sie wagte kaum zu atmen. Das konnte nicht von selbst passiert sein, auch wenn die Roststellen auf den ersten Blick ganz natürlich aussahen. Jemand musste nachgeholfen haben!
Marit wollte zurück in ihr Arbeitszimmer. Auf den ersten Blick sah sie, dass die Balkontür von innen verschlossen war. Sie unterdrückte den Impuls, daran zu rütteln. Marit zitterte am ganzen Körper. Was war hier los? Ihre Tochter hatte ihr schon zwei Mal diesen Streich gespielt, die Tür verschlossen, während sie auf dem Balkon saß – aber Antonia war im Kindergarten. Peter musste in der Wohnung sein! Vor drei Wochen war er ausgezogen und hatte ihr den Schlüssel zurückgegeben. Aber was hieß das schon? Jeder konnte sich eine Kopie des Schlüssels machen lassen.
Ja, er musste in der Wohnung sein. Und er musste etwas vorhaben. Nur was?
Marit war überrascht gewesen, als sie die Nachricht auf dem Küchentisch fand. „Du bist mich los“, stand darauf, „ich bin heute ausgezogen. Melde mich wegen der Scheidung.“ Marit durchsuchte sofort die Wohnung. Ihre Sparbücher waren noch da, auch ihr Schmuck. Dass fast die gesamte CD-Sammlung fehlte, war kein freundlicher Zug ihres Mannes, aber der Verlust war zu verschmerzen.
Marit hatte sich gewundert. Dass es plötzlich so einfach gehen sollte mit der Trennung warr merkwürdig vor nach all dem Ärger der letzten Wochen.
Monatelang hatten sie sich täglich gestritten. Peter stellte Bedingungen für die Scheidung. Er wollte die Wohnung. Er wollte ihr Geld. Selbst um das Kind wollte er sich plötzlich kümmern, zum ersten Mal in Antonias kurzem Leben. Einen Moment lang vermutete Marit, er entwickle nun doch endlich Interesse für die Kleine, bis ihr klar wurde, dass es ihm um Unterhaltszahlungen ging. Sie war entschlossen, ihm nur zu geben, was sie musste. Die Hälfte der CDs und das Auto, rechnete sie sich aus. Zugewinngemeinschaft nannte man das. Sie hatte die großzügige Wohnung von ihren Eltern geerbt. Und genug Geld, um sich über Wasser zu halten, während sie ihren ersten Roman schrieb. Der war mittlerweile veröffentlicht. Noch hielt sich der Zugewinn in Grenzen, doch das Buch war im Fernsehen besprochen worden und sie hoffte, dass es die Mühe gelohnt hatte – auch finanziell. Kein Wunder, dass Peter die Scheidung hinauszögern wollte – das war Geld verdienen nach seinem Geschmack, von jedem Euro, den das Buch brachte, müsste sie die Hälfte abtreten. Aber dann, von einem Tag auf den anderen, war Peter plötzlich weg.
Das konnte nicht alles gewesen sein.
Nun war Peter in der Wohnung. Wieder starrte Marit auf das urplötzlich durchgerostetes Geländer. Das Handy lag auf dem Wohnzimmertisch, sie war eingesperrt auf eineinhalb Quadratmetern Balkon. Sie atmete tief durch. Langsam, ohne das geringste Geräusch stand sie auf und stellte sich neben die Balkontür. Sie war zierlich. Einen Meter fünfzig groß, keine 45 kg schwer. Marit beglückwünschte sich zu ihrer Statur. Eng an die Wand gepresst würde man sie von innen nicht sehen. Dann setzte sie sich wieder auf den Balkonstuhl und nahm ihr Buch zur Hand. Sie betrachtete ihre Hände. Sie zitterten nicht, obwohl Marits Nerven zum Zerreißen gespannt war. Ihre Ohren nahmen jedes Reifenquietschen, jedes Kinderlachen doppelt so klar wahr wie sonst. In der Wohnung knarrte eine Diele. Marit rückte mit dem Stuhl etwas näher an das durchgerostete Geländer heran. Was erwartete Peter von ihr? Dass sie um Hilfe rief?
Im gleichen Moment hörte Marit unten auf der Straße Reifenquietschen, dann das Scheppern von Blech und Glas. Marit sprang auf. Irgendein Idiot war in ihr friedlich auf der Straße parkendes Auto gefahren. Beinahe hätte sich Marit über das kaputte Geländer gelehnt. Rechtzeitig schrak sie zurück. Das also war die Falle. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl, trat mit dem Fuß das Geländer heraus, drückte sich gegen die Wand und schrie, so laut sie konnte.
Marit wagte kaum zu atmen, ihr Herz schlug wie ein Vorschlaghammer, als die Balkontür geöffnet wurde. Sie hielt die Luft an. Peter hockte sich an die Kante des Balkons. Wenn er sich jetzt umdrehte, sähe er sie. Sie könnte ins Arbeitszimmer schlüpfen und die Polizei rufen. Aber Marit kannte Peter. Diese Sache hatte er gründlich geplant. Es würde keine Beweise geben, jedenfalls nicht mehr, wenn er in ein paar Minuten den Bindfaden hätte verschwinden lassen.
„Na los“, dachte Marit. „Ein bisschen näher noch!“. Als habe er sie gehört rutschte Peter ein paar Zentimeter näher an den Rand des Balkons – er hatte wohl Marits Leiche noch nicht auf der Straße entdeckt. Marit besah sich die Figur die vor ihr hockte. Weit unten am Rücken war wohl der Schwerpunkt, überlegte sie. Knapp darunter setzte sie ihren nackten Fuß an, als sie Peter nach unten stieß. Ein zweiter Schrei lag ein paar Sekunden lang in der Luft bevor ein dumpfer Knall ihn sechs Stockwerke tiefer beendete.
Marit atmete tief durch. Endlich befreit! Sie trank ein paar Schluck Kaffee und zündete sich eine Zigarette an, die erste in dieser Woche. Dann hob sie vorsichtig den Bindfaden auf und rief die Polizei.