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Börnes Kampf
„Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands ist seit Jahrhunderten nur ein beständiges Bemühen, sich zu nähern, sich zu begreifen, sich zu verneigen, sich ineinander zu verschmelzen; die Gleichgültigkeit war ihnen immer unmöglich, sie müssen sich hassen oder lieben, sich verbrüdern oder sich bekriegen. Das Schicksal weder Frankreichs noch Deutschlands wird nie einzeln festgesetzt und gesichert werden können.“
1
„Gestrichen?“, fragt Dr. Louis Baruch ungläubig den Sekretär des Polizeidirektors. „Wie kann er den Artikel streichen? Ich habe doch nicht für, sondern gegen Napoleon geschrieben. Dieser Tyrann der Menschheit kommt von Elba zurück, wir führen Krieg gegen ihn und Sie zensieren meinen Artikel?“
„Wind ist Wind“, antwortet der Sekretär gelassen, „ob er nach Osten oder nach Westen bläst, ist egal. Er soll gar nicht blasen, wir wollen Ruhe haben.“ Er lehnt sich über eine Akte und schreibt.
„Warum hat Frankfurt als einzige deutsche Stadt eine Pressezensur?“
„Weil Frankfurt die einzige deutsche Stadt ist, in der es einen Reichstag gibt. Das wissen Sie doch“, antwortet der Sekretär mit gelangweiltem Ton.
„Aber die Abgeordneten können doch in Frankfurt auch Zeitungen kaufen, die nicht hier gedruckt und zensiert werden. Wo besteht da der Sinn dieser Zensur?“
Der Sekretär zieht die Schultern hoch als Zeichen der Unwissenheit und Aufgabe gegen Baruchs Fragen. Baruch sieht auf die Wanduhr hinter dem Sekretär. Sie zeigt zehn Uhr an und er hat nun noch eine halbe Spalte des Frankfurter Journals zu füllen. Er sieht sich im Polizeizimmer um und fragt auf ein Buch zeigend. „Was ist das da?“
Der Sekretär sieht auf und antwortet. „Ein Buch.“
„Das sehe ich auch. Wem gehört dieses Buch und die Sachen?“
„Einem Studenten aus Jena. Er hat seine Zeche nicht zahlen können. Deshalb ist er arretiert worden.“
„Ob ich mir das Buch wohl kurz borgen kann?“
„Warum nicht? Nehmen Sie nur“, sagt der Sekretär und winkt mit der Hand ab.
Baruch nimmt es – ein kleiner Horaz – trägt es in beiden Händen wie einen Schatz an einen Tisch des Polizeizimmers und beginnt darin zu blättern. „Das ist es“, sagt er, nimmt Papier und Feder und übersetzt die Ode Nunc est bibendum. Dann bringt er das noch nasse Skript zum Zensieren in das Nebenzimmer zum Polizeidirektor. Der liest es und sagt: „Charmant! Ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Sie haben die Ode recht gut übersetzt. Horaz – ja, das war ein Mann! Welche Sprache, welche Delikatesse, welches attische Salz!“
„Schade, dass auch dieses Salz ein königliches Vorrecht ist.“
„Und welche Philosophie, welche Sittlichkeit, welche Tugend! Ja, Horaz, das nenne ich einen wackeren Mann!“
„Horaz ein wackerer Mann? Der? Nun, dann seid mir willkommen, ihr Memmen und Schelme! Nicht als ich Sulla morden, als ich Cäsar rauben, als ich Oktavius stehlen sah, gab ich die römische Freiheit verloren – erst dann weinte ich um sie, als ich Horaz gelesen. Er, ein Römer, ihr Götter! Und seine Kinderaugen haben die Freiheit gesehen – er war der erste, der sich am Feuer des göttlichen Genius seine Suppe kochte. Was lehrt er? Ein Knecht mit Anmut sein. Was singt er? Wein, Mädchen und Geduld. Ihr unsterblichen Götter! Ein Römer und Geduld. Er vermochte darüber zu scherzen, dass er in jener Schlacht bei Philippi, wo Brutus und die Freiheit blieb, seinen kleinen Schild 'gar nicht löblich' verloren. Klein war der Schild, Herr Polizeidirektor, und doch warf er ihn weg so leicht machte er sich auf zur Flucht! Und der ein wackerer Mann?“
Der Polizeidirektor sieht Baruch mit großen Augen an, erhebt sich von seinem Stuhl und weicht zurück. Baruch nimmt das Skript und geht. Am Schreibtisch des Sekretärs bleibt er kurz stehen, zeigt auf das Zimmer des Polizeidirektors und sagt: „Er ist doch kein ganzer Türke – er fürchtet die Ansteckung.“
2
„Louis, wir müssen gehen.“
„Was soll das heißen, wir müssen gehen? Nicht, dass ich erwarte, dass sie heute besser spielen, aber das Stück hat doch noch gar nicht angefangen.“
„Ein Komplott!“, sagt der Mann und schaut sich hastig im gefüllten Theatersaal um. „Es ist ein Komplott gegen Sie im Werke. Man wird Sie heute Abend nach dem Theater auf der Straße überfallen und wegen ihrer Kritiken verprügeln. Herr Schinder hat geschworen Ihnen Arme und Beine zu brechen. Ich weiß alles. Bringen Sie sich in Sicherheit.“ Dr. Börne nickt – Dr. Carl Ludwig Börne, um genau zu sein, so heißt Louis Baruch jetzt. Nur seine Freunde nennen ihn immer noch Louis.
„Nein, ich lasse mich doch nicht auf eine Schlägerei ein.“ Heimlich verlassen die beiden Männer nach dem ersten Akt das Schauspielhaus.
Börne geht in seinem Zimmer auf und ab. Dann bleibt er an seinem Schreibtisch stehen. Er öffnet eines der Seitenfächer, greift hinein und fördert eine riesige Pistole zu Tage. Er betrachtet die Waffe in seiner Hand, dreht sich zu dem Spiegel, der gleich neben dem Fenster aufgestellt ist und verschränkt die Arme. Die Pistole liegt mit dem Lauf auf seiner Schulter. Er dreht sich seitlich ins Profil und betrachtet sein Spiegelbild. Selbstsicher, bedrohlich, unantastbar sieht er aus mit diesem einen Tod bringenden Gegenstand in der Hand. Börne steckt die Waffe in die Brusttasche seiner Jacke und sagt zu seinem Spiegelbild: „Dem Deutschen ist ganz unbekannt, wie viel der Mensch an Wahrheit, Grobheit und Satire, ohne zu sterben, ertragen kann. Er weiß noch weniger, dass der Mensch gar nicht daran stirbt, sondern vielmehr stärker und gesünder davon wird.“
Börne betritt erneut den Theatersaal. Das Stück, Schillers Wilhelm Tell, ist noch nicht zu Ende. Er will sicher gehen, dass jeder im Saal und auf der Bühne sieht, dass er, der Kritiker, zurückgekehrt ist. Er steht einen Moment in der Tür. Das spärliche Licht der Außenbeleuchtung im Rücken. Dann geht er langsam zu der Reihe mit seinem Platz im Parkett. „Wären Sie bitte so freundlich“, sagt er absichtlich etwas zu laut, lächelt und zeigt mit der Hand auf seinen Platz. Die Zuschauer sehen den Kolben der Waffe aus Börnes Brusttasche ragen. Ehrfürchtig machen sie ihm Platz und eine plötzliche Unruhe verbreitet sich im gesamten Saal. Sehr langsam gelangt Börne zu seinem Platz. Er dreht sich dabei mehrmals in Richtung Bühne und zu den Logen, damit jeder die Waffe sehen kann. Was jedoch niemand außer ihm weiß: Seit mehr als fünfzig Jahren wurde mit dieser Pistole nicht mehr geschossen. Eigentlich kann man mit ihr überhaupt nicht mehr schießen. Sie dient nur noch als Requisit für das Theater.
3
„Ich wünsche einen guten Abend, Herr Zensor.“
„Ich begleite dieses Amt schon seit neun Jahren und hatte dabei niemals Scherereien. Aber Sie, Doktor Börne, machen mir die schwierige Durchführung meiner Pflicht zu einer Qual.“
„Da muss ich Ihnen widersprechen.“
„Geben Sie her“, sagt Zensor, Johann Severus, und reißt Börne die Texte für die kommende Zeitungsausgabe aus der Hand. Er beginnt sofort zu lesen. Noch bevor er sich hingesetzt hat, setzt er den Bleistift an und streicht den kompletten ersten Absatz.
„Was soll das? Da ist doch gar nichts Politisches geschrieben.“
„Ich habe die Anweisung“, sagt Severus leicht stockend aber ganz ruhig, indem er weiter liest, „alles zu streichen was ich nicht verstehe und dies, Herr Doktor Börne, verstehe ich nicht.“ Er streicht auch den zweiten Absatz.
„Bitte! bitte! Herr Amtszensor, was ist denn da nicht zu verstehen?“
Severus atmet einmal tief ein und wischt sich mit dem Taschentuch über die hohe runde Stirn. „Sie haben geschrieben 'Am westlichsten Rande des Landes, das den lieblichen Namen Zeus' Geliebter trägt, geht die Sonne auf'.“ Er sieht zu Börne und sagt: „Wir wissen beide, dass die Sonne nicht im Westen aufgeht.“
„Das ist poetisch, metaphorisch gemeint und steht für ein neues anbrechendes Zeitalter“, interveniert Börne.
„Warum schreiben Sie das dann nicht?“
„Weil allein das Wort 'Zeitalter' als zu politisch empfunden werden könnte und damit der Zensur zum Opfer fällt.“
„Das zu beurteilen, müssen Sie schon mir überlassen.“
„Aber was ist denn mit dem zweiten Absatz?“
„Da steht: 'Als der Fischer, Joao Ganca, nach sechs Tagen auf dem reichen Meere mit seinem Fang in den Hafen zu Portolomeus einfährt, muss er erkennen, dass sich die Leibesbeschaffenheit der Iberier im Lichte der Morgensonne verändert hatte.'“
„Ja, und? Warum müssen Sie das streichen?“
„Weil ich es nicht verstehe.“ Er überfliegt mit den Augen weiter die Texte und macht hier und da eine Notiz an den Rand oder streicht Passagen.
„Das ist nichts weiter als ein Bericht über die Schönheit der Stadt Por-“
„Porto? In der gerade die konstitutionelle Monarchie ausgerufen wurde.“
„Wirklich? Was Sie nicht sagen.“
„Ja, König Johann der sechste, oder, Joao, wie die Portugiesen sagen, stammt der Familie Braganca ab. Bei seiner kürzlichen Rückkehr aus Brasilien erlebte er eine Revolution. Erkennen Sie ein paar Parallelen zu Ihrem Bericht?“
„Sie scheinen ja doch zu verstehen, Herr Amtszensor.“
„Warum machen Sie das immer wieder? Sie versuchen immer und immer wieder die Zensur zu umgehen. Ständig finden Sie etwas Neues. Zugegeben, es gelingt Ihnen wohl auch oft, aber warum tun Sie das?“
„Um dem deutschen Volk die politische Bildung zu geben, die es bitter nötig hat. Die können doch eine demokratische Abstimmung nicht von einer Auktion unterscheiden!“
„Sie meinen, Sie wollen Ihre liberalen Ideen verbreiten und die Zensur als Institution und mich als ihren Vertreter in ganz Europa lächerlich machen.“
„Mit Verlaub gesagt, das erübrigt sich auch ohne mein Zutun.“
Severus schnellt von seinem Stuhl hoch: „Mein Name ist bereits zum Gegenstand des Spottes in englischen und französischen Zeitungen geworden, weil es in diesen viel zu liberalen Ländern kein ordentliches Pressegesetz gibt!“ Wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn und hat Börne fest im Blick.
„Dann schaffen wir doch hier die Zensur auch ab und ich werde Hymnen über Sie schreiben, sie können sich in die Kämmerei versetzen lassen oder in den Ruhestand treten und weiter Ihre Kakteen züchten.“
„Nein, wegen Ihnen und ihresgleichen musste doch das Pressegesetz letztes Jahr verabschiedet werden. Den armen Kotzebue vor den Augen seiner Kinder nieder zu metzeln. Pfui! Er war einer der treuesten Diener dieses Landes und einer der begabtesten Schriftsteller unserer Zeit.“
„Sie haben Recht. Menschlich gesehen, ist das furchtbar tragisch. Ja, unverzeihlich. Aber ich bin sicher für den gemeinen Theaterbesucher ist der Tod dieser scheinbar unermüdlichen Dampfmaschine von einem Stückeschreiber ohne weiteres überwindbar.“
„Machen Sie nur Ihre Witze“, sagt Severus, drückt Börne die zensierten Schriften in die Hand und geht. Im Gehen sagt er: „Ich werde Ihnen ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen das Pressegesetz auferlegen. Guten Tag.“
4
„Herr Dr. Börne“, sagt jemand auf der Straße und zieht seinen Zylinder. Börne grüßt zurück, überquert die Rue Rivoli und geht in das Lesekabinett gegenüber. Obwohl es sehr voll ist, herrscht eine feierliche Stille. Börne sieht sich um und lächelt. Er denkt: Wenn sie lesen, schweigen sie. Nur wenn sie zu Tisch sitzen, machen vier Franzosen mehr Lärm als der komplette Weiße Schwan in Frankfurt am Main zur Messezeit mit all seinen Gästen.
Er lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Auslagen mit den Zeitungen. Ihm fällt auf, dass die englischen Zeitungen am größten sind, gefolgt von den spanischen, französischen, deutschen und zuletzt den italienischen. Könnte man, überlegt er, die Theorie aufstellen, dass man am Format der politischen Blätter den Umfang der bürgerlichen Freiheit jenes Landes abmessen kann? Er schreitet bedächtig, den Blick auf die Zeitungen geheftet, den Auslagentisch entlang bis er zu dessen Ende gelangt. Dort in einer dunklen Ecke liegt eine Mappe mit einem Stapel Zeitungen – deutschen Zeitungen. Pariser Journalisten geben sie jeden Tag kostenlos hier ab und dieser Stapel ist auch der einzige, den man kostenlos durchwühlen kann. Ansonsten abonniert man sich monatlich, bezahlt für jeden Besuch oder jede einzelne Zeitung wie Börne es gewöhnlich tut. Ihm fällt auf, dass eine dieser Zeitungen größer als die Mappe ist, die sie umschließt. Frankfurter Oberpostamtszeitung kann Börne am oberen, aus der Mappe herausragenden Ende lesen. Er vergleicht die Größe dieser Zeitung mit den Zeitungen auf dem Auslagentisch und sagt: „Nein, diese Theorie ist wohl nicht haltbar.“
„Bon jour, Monsieur Börne“, sagt Monsieur Galignani, der Besitzer, der soeben das Lesekabinett vom anschließenden Buchladen her betritt.
„Bon jour“, antwortet Börne. Sie unterhalten sich kurz auf französisch. Wo denn heute das wichtigste aus Deutschland zu lesen sei, will Börne schließlich wissen. Galignani zeigt auf eines der französischen Blätter. Börne gibt ihm das Geld und setzt sich zu den schweigenden Franzosen. Metternich habe das Tragen politischer Abzeichen, besonders in den Farben Schwarz-Rot-Gold, verboten, erfährt Börne. Er liest weiter. „Das Presserecht eingeschränkt?“ Börne lacht hämisch und schüttelt den Kopf. „Wie viel wollen sie denn noch zensieren?“ An einer Stelle des Textes stockt Börne und lässt die Zeitung sinken. Er weiß, dass dies alles eine Reaktion auf das Hambacher Fest ist, das nur wenige Wochen zuvor stattgefunden hatte.
Auch er ist dort gewesen. Obwohl ihn die einen davor gewarnt hatten, jemals wieder deutschen Boden zu betreten und die anderen ihn beschworen, das sichere Paris unter keinen Umständen zu verlassen. „Es lebe Börne! Es lebe der deutsche Börne“, hatten sie ihm zugerufen. Börne lächelt.
Er lässt den Kopf sinken und fährt mit der linken Hand in das dunkle Haar. „Nie wieder“, sagt er leise. Er weiß, dass er frei ist. Frei im Exil. Die ganze Welt steht ihm offen. Aber er ist auch Gefangener dieses Exils. Denn er kann nie wieder nach Deutschland zurück. In Deutschland verhaftete man ihn sofort, da ist er sich sicher. Die Teilnahme am Hambacher Fest, seine Schriften, die Mitgliedschaft in einer liberalen Vereinigung. All das sind genug Gründe, ihn einzusperren, zu foltern, damit er seine Freunde in Deutschland verrät. Nur eine Revolution in Deutschland wie die Julirevolution vor zwei Jahren hier in Paris und eine Republik wie die französische könnten ihm eine Heimkehr ermöglichen. Börne faltet die Zeitung zusammen, atmet einmal tief ein und steht auf. Briefe fallen nicht unter die Zensur, denkt er. Als Sammelband veröffentlicht, kann man schreiben was man will. Das hat schon einmal funktioniert. „Ich denke, es ist wieder an der Zeit, die Zensoren in Deutschland zu ärgern“, sagt er, klemmt die Zeitung unter seinen Arm, zieht seinen Zylinder in Richtung Galignani und verlässt das Lesekabinett.