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Bahnhofsliebe

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06.10.2001
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Bahnhofsliebe

Einsam saß er da an jenem kalten Wintermorgen. Die eisige Luft schmerzte in den Lungen, das spürte er nur zu deutlich. Er zitterte. Stunde um Stunde verstrich und das monotone Ticken der Bahnhofsuhr wurde nur von den heranrollenden Zügen und den vorbeieilenden Menschenmengen übertönt. Irgendwo am anderen Ende des Gleises fluchte ein Mann im Anzug ... ein Kind lachte ... ein anderes weinte und klammerte sich an die Hand der Mutter. Lautsprecherdurchsagen hallten ohrenbetäubend durch die Gänge. Menschen wechselten die Plätze, stürmten in Richtung der sich rapide schließenden Türen und trugen schwere Koffer. Einige hatten ihre Habseligkeiten auf Rollwagen gestapelt, andere schleppten sie keuchend mit sich. Hier und da liefen zwielichtige Gestalten umher, die mit speziellen Gesten auf Hungerleiden, Armut oder Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen versuchten. Mitleid bewilligte zahlreiche Passanten ohne weitere Recherchen über die tatsächlichen Lebensumstände dieser verkommenen Subjekte anzustellen, Münzen, an guten Tagen auch Scheine, in die dafür vorgesehenen Behälter zu werfen. Nach einem freundlichen Kopfnicken, teilweise verbunden mit Worten des Dankes, gaben sich die vermeintlichen Wohltäter dann auch sichtlich zufrieden ... man hatte ja eine gute Tat vollbracht. Da störte es wenig, dass die milde Gabe in weniger als zwei Stunden im Portemonnaie eines Drogenhändlers landen würde. Wer interessierte sich schon für Hintergründe? Er zumindest nicht. Nein, die kümmerten ihn gerade so viel wie die in diesem Moment bestohlene Alte am Gleis 3. Hätte man doch nur nicht so viele Einsparungen vorgenommen ... die Hüter von Recht und Ordnung waren hier - trotz Dauereinsatz - Mangelware. Vermutlich würde man die Handtaschendiebe auch morgen noch erwischen, denn eine alte Weisheit lehrte ‚der Kriminelle kommt früher oder später an den Ort des Verbrechens zurück’. Diese Auffassung vertrat man hier allem Anschein nach mit äußerster Bequemlichkeit.
Noch immer tickte die Uhr. Noch immer rollten Züge an seinen Augen vorbei und verschwanden als kleine Punkte im Horizont. Müde blickte er auf den Bahnsteig.
Gegenüber hatte ein junges Mädchen Platz genommen. Blonde, schulterlange Haare bedeckten das Gesicht. Sie saß dort auf einer Bank und blätterte in einem bunten Magazin, welches aufgeschlagen auf ihren Schenkeln lag. Er musterte ihre lieblich anzumutende Gestalt ... die zarten Hände und die vor Kälte rötlich angelaufenen Wangen. Ihre kleine Stupsnase vibrierte bei jedem Atemzug. Sie blickte auf als ein hinter ihm befindlicher Zug hinüberrollte und ihre Blicke trafen sich. Wie wunderschön waren doch ihre braunen Augen, in denen man sich beinahe verlor, wenn man nur zu lang hineinsah. Sie schaute wieder auf ihr Heft. Zarte Hände legten es für einen Moment zur Seite, während sie sich hinunterbeugte und ein weiteres Magazin aus dem Rucksack zu ihrer Rechten nahm. Sie schüttelte ihr Haar, so dass die Strähnen nach hinten fielen und kämmte sie mit etwas Fingerspitzengefühl hinter die Ohren.
Hagelkörner prasselten auf die Überdachung des Bahnhofs. Er musterte das Mädchen, versuchte nun auf sich aufmerksam zu machen. Doch plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht ... und sie hob den Kopf erneut. Da war kein Zug, der hinter seinem Rücken entlangfuhr und in seiner Nähe befand sich niemand, dem sie ihre Aufmerksamkeit schenkte. Ja, sie schaute zu ihm, eindeutig, ohne Zweifel. Wie verzaubert sah auch er auf die andere Seite des Gleises. Er wollte aufstehen und zu ihr hinübergehen, doch etwas hielt ihn fest. Wie angewurzelt blieb er sitzen und versuchte nicht auszusehen als ob er sie schon eine ganze Weile anstarrte – obwohl das natürlich der Fall war. Mit einer nicht vermuteten Spontanität drehte sie sich und griff die beiden Zeitschriften, um sie im Rucksack zu verstauen. Und dann stand sie auf ... kein Zug in Sicht. Sie ging auf ihn zu und bewegte sich schnellen Schrittes auf dem Gleisübergang. Verwirrt blickte er zu Boden. Sie kam näher. Als sie etwa auf zwei Meter Abstand war, raunte sie ihm etwas zu. Er verstand ihre Sprache nicht, doch der Klang ihrer Stimme ließ vermuten, dass es sich dabei um etwas Erfreuliches handelte. Es schien sie nicht zu interessieren, dass er verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte sich ihr verständlich zu machen, denn sie setzte sich ohne ein weiteres Wort zu verlieren neben ihn. Diese wunderschönen braunen Augen ... Sie fasste ihn an, streichelte sein Haupt, strich mit den Fingern über seinen Rücken. Dabei wiederholte sie immer etwas, bei dem er sich beinahe gewiss war, es müsse etwas sehr Liebevolles sein. Aber da tönte schon eine schrille Ansage aus dem Lautsprecher, die offenbar dazu aufforderte, in den Zug gegenüber einzusteigen. Viel zu schnell war er inzwischen im Bahnhof eingetroffen. Traurig wand sie sich von ihm ab, nicht jedoch ohne sich ein letztes Mal umzudrehen und ihm dieses unvergessliche Lächeln zu schenken. Er seufzte. Winkend verschwand sie in einem der Abteile. Er setzte sich betrübt neben die Bank und fragte sich, ob dieses Mädchen, das er nur flüchtig kennengelernt hatte, seine Zukunft hätte sein können. Hätte sie ihn von den Fesseln befreit, wäre er sicher glücklich mit ihr von dannen gezogen. So musste er weiter ausharren.
Noch immer klickte der große Zeiger der Bahnhofsuhr ... noch immer liefen die Leute mit schwerem Gepäck beladen umher. Ein heranstolzierender Mann in grüner Uniform blickte kritisch zu ihm hinunter und stellte ihm eine Frage, erhielt jedoch keine Antwort.
Wie sollte er den Fremden auch verstehen ... schließlich war er nur ein Hund.

 

Ah... sehr schön. Stephy wird diese Geschichte lieben. ;)

Gut gelungen, daß man erst im letzten Drittel mitbekommt, um wen es sich eigentlich handelt...

Sehr schöne Geschichte, detailverliebt (aber genau das ist HIER der große Pluspunkt), stilistisch perfekt, wie ich finde.

An einer Stelle hast du das Wort "sie" zuviel reingeschrieben, nö... such mal selbst, haha!

Alles in allem gibt´s für die Geschichte den Daumen hoch!

Sodele!

Poncher

 

Ups, das war aber ganz schön gemein. Schon beim Lesen der Geschichte fielen mir ausnahmsweise mal lauter Sachen ein, die ich kritisieren wollte, und dann kommst du mit diesem Schlußsatz. Da war natürlich alles hinfällig. :D
Kritik gestrichen, dafür ein dickes Lob für eine Geschichte mit Knalleffekt. <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">


Gruß.....Ingrid

 

Original erstellt von Poncher:
<STRONG>
An einer Stelle hast du das Wort "sie" zuviel reingeschrieben, nö... such mal selbst, haha!
Poncher</STRONG>

Meintest du eventuell diesen Satz?:

Als >sie< etwa auf zwei Meter Abstand war, raunte >sie< ihm etwas zu.

 

Na gut, ich bin ja kein Unmensch!

Sie ging sie auf ihn zu und bewegte sich schnellen Schrittes auf dem Gleisübergang.

Den Satz, den du zitierst... hm, der ist doch vollkommen in Ordnung! Das hätte man doch gar nicht anders schreiben können. :eek:

Trotzdem: Sehr gute Geschichte!

Und freu dich schon mal, wenn unsere kleine Stephy das liest! Haha, sie wird dich brandmarken, weil es kein Happy End gibt! :D ;) :p

Poncher

 

@ Poncher: Den Satz hab ich glatt überlesen, danke. Werd ich mal eben ändern ... dachte du hättest es mehr auf eine unnötig klingende Wortwiederholung bezogen. Dass mit dem doppelten "sie" war dann wohl nur ein Tippfähla. :D

Happy End ... das ist meines Erachtens nach ein Wort zu viel. Letzteres reicht vollkommen.

 

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