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Banales und Schönes
„Fahren wir nach Amsterdam?“ Manchmal machte sie einen Hüpfer zwischen ihren Schritten, weil sie nicht schnell genug voran kam, oder vielleicht auch, weil sie glücklich war.
Er hätte sie gerne geküsst in diesem Moment, doch er befürchtete, ihre Unbeschwertheit könnte damit verfliegen. Also lachte er gespielt. „Nach Amsterdam?“
„Ah oui“, rief sie, als könnte sie sich nichts Banaleres vorstellen oder als wäre Amsterdam eine Bar um die Ecke.
„Heute noch?“, fragte er ironisch um seiner Rolle treu zu bleiben und die aufkommende Euphorie zu verstecken, die das Gedankenspiel, mit ihr nach Amsterdam zu fahren, auslöste.
„Warum nicht?“, fragte sie fröhlich, blieb abrupt vor ihm stehen und sah ihn unerschrocken an.
Ihr Gesicht war plötzlich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Die plötzliche Nähe erschreckte ihn.
„Wir bauen da ein Haus und bekommen acht Kinder?“ fragte er nach.
„Nein“, antwortete sie gedehnt und boxte ihm spielerisch in den Bauch. „Wir bleiben da ein paar Tage und fahren dann wieder zurück in unser biederes Leben.“ Sie liefen eine Weile stumm nebeneinander. Er sah die Blätter von Regen getränkt auf dem Boden liegen. Ein paar Mal rutschte sie fast aus, aber er wagte nicht, seinen Arm um sie zu legen. Sie schwankte leicht und auch er schaffte es nicht, geradlinig zu laufen.
Er stellte sich selbst die Frage nach dem Fortgang der Geschichte. In seinem Inneren wurde eine Expertengruppe gegründet, die versuchten eine gute Entscheidung zu treffen. Sie wurden sich einig, dass es sehr einfältig wäre, mit ihr fortzufahren.
Sie verschwand kurz in einem Laden und kam mit einer Flasche Rotwein zurück. Eine ganze Weile sah sie verklärt auf die Flasche. „In Paris trinken die Obdachlosen schlechten Rotwein anstatt Bier“, erklärte sie verträumt. „Vielleicht würden sie sogar Sartre lesen, wenn sie das Geld hätten.“ Sie blies sich eine Locke aus der Stirn und sah zu ihm herauf. „Lass uns den nächsten Obdachlosen, den wir treffen, ein gute Buch schenken. Zusammen mit einer Flasche Rotwein.“ Er musste Lachen, doch es klang rauer als geplant. „Aber zuerst fahren wir fort!“, sagte sie und hüpfte dabei wieder ein Stück.
Er fühlte sich mit einmal schwach, weil er wusste, dass er sie nicht gehen lassen und doch nicht mithalten konnte. Er sah in das von Abenteuer begeisterte Gesicht und wusste, dass er einen Fehler beging. Er wollte ihr Spiel mitspielen.
Sie sprang in irgendeine U-Bahn und er wunderte sich, dass sie noch die Klarheit besaß, in eine Bahn zu steigen, um irgendwo hinzukommen.
Für ihn hatten die alkoholgetränkten Momente etwas zielloses, es zählte, was gerade war . Betrunken konnte man empfinden, ohne dem eine Bedeutung zuzuschreiben. Jegliches Gefühl galt der ganzen Welt.
Der Rotwein hatte ihre Wangen gefärbt und sie lächelte versonnen vor sich hin. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und ihre Jacke war halb aufgeknöpft. Vermutlich war es ihr egal.
Gerade dieses Flüchtige an ihrer Erscheinung schien so reizvoll für ihn. Sie war ständig überall. Den Moment genießen. Das Leben spüren. Träumen.
Über ihnen sah er den Mond und bildete sich ein, er würde über ihre Dummheiten den Kopf schütteln und leise seufzen.
„Wäre es nicht schön und auch traurig“, durchbrach sie seine Gedanken mit ihrer sanften Stimme an seinem Ohr, „Wenn alle Menschen eine gute Idee hätten und alle Ideen zusammen ergäben diese einzige, große Wahrheit , die Antwort auf die Frage nach dem Sinn und dem Leben und dem Fühlen, was aber nie geschehen wird, weil in der U-Bahn alle schweigen und ihre Ideen für sich behalten?“
Er schwieg. Sie sah ihn lange an, lachte dann und gab ihm den Rotwein.
Am Flughafen lief sie zielstrebig auf die last-minute Schalter zu. Vielleicht war sie nur seine Phantasie, ein bunter Traum, den er nicht berühren konnte. Er fasste nach ihrem Arm. Ihr spöttischer Blick schien alles zu sagen und er schämte sich dafür, geglaubt zu haben, Amsterdam wäre eine Wendung ihrer Geschichte. Ihre Begegnungen waren bisher nur eine Aneinanderreihung von Abschieden. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, fassten sie den festen Entschluss, sich nie wieder zu sehen.. Sie waren fast immer betrunken gewesen, Rotwein als Versuch, die Wahrheit zu erkennen. Caipirinha gegen die Entscheidungslosigkeit ,ob ein Kuss zu weit führen sollte. Whisky-Cola gegen die Nervosität. Absinth gegen die Angst vor dem Abschied.
Sie redete mit dem Mann am Schalter und spielte dabei unaufhörlich mit einer Haarsträhne. Einmal hörte er sie laut lachen, dann sah sie den Verkäufer wieder verträumt an, als hätten sie ein Geheimnis, in das sie ihn gerne eingeweiht hätte.
Er hatte keine Lust, sich an dem Gespräch zu beteiligen und beobachtete sie Szene mit etwas Abstand und einem säuerlichem Geschmack im Mund.
Dann plötzlich war sie wieder genau vor ihm, obwohl er schwören könnte, dass sie vor einer Sekunde noch geredet hatte.
Sie streckte ihm zwei Flugkarten entgegen, als würden sie Flitterwochen machen. „Ich hab sie! Ich hab sie!“ Dabei sprang sie ihn in die Arme. Er konnte Himbeeren riechen.
Er fühlte sich um seine Entscheidungslosigkeit betrogen. Allein konnte er sie nicht fliegen lassen.
„Können wir eigentlisch nischt bestes Kumpel sein, cherie?“, fragte sie mit einem gespieltem Akzent in der Wartehalle. „Isch mag disch wirklisch sehr, mein petit pain au chocolat!“
Er musste lachen, obwohl er sich nicht fröhlich fühlte.
„Ich denke auch an deine Lippen, den Mond und deine Ozeanaugen. Vermutlich nicht die beste Voraussetzung für etwas Freundschaftliches.“ Sein Herz klopfte schneller als erwartet. Sie musste kurz grinsen, dann schürzte sie die Lippen.
„Wieso denn“, fragte sie gedehnt, legte den Kopf schief und sah mit eben diesen Augen, die Alles verhindern sollten gen Decke, wo sie seinen Kopf vermutete. Sie blieb dabei stehen, so dass einige Reisende ihr ausweichen mussten. Er hob dramatisierend die Hände.
„Was bitte“, sagte er laut , „wäre Schönheit ohne Makel, Tag ohne Nacht, Liebe ohne Schmerz, Leben ohne Sterben?“ Ein paar Menschen um sie herum blieben kurz stehen und beobachteten das Schauspiel.
„Jedes was bitte gehört sowieso schon dir“, antwortete sie ebenso theatralisch. Sie sahen sich an und dachten beide an die Erinnerungen, in denen sie lachend und betrunken festgestellt hatten, dass „was bitte“ ziemlich nüchtern klang, auch wenn man es nicht war. Sie hatten ganze Dialoge mit den beiden Worten geführt. Er konnte es nicht aussprechen ohne an sie zu denken.
„Kein Recht ohne Unrecht“, rief er. „kein Sinn ohne Irrsinn!“
„Der Mond seufzt“, sagte sie verklärt und tat so, als würde die auf einen Mond über ihnen zeigen.
Sie sahen sich an und mussten plötzlich laut lachen. Eine Gruppe von Asiaten applaudierten und schossen Fotos.
Sie grinsten immer noch, als ihr Flug aufgerufen wurde.
„In dieser Geschichte wird einer von uns sterben“, murmelte sie in einem plötzlichen Gefühlsumschwang, als sie an einem Mc Donalds vorbei zum Flugzeug gingen. „Wir werden die Dramatik nicht aufrecht erhalten können.“
Er schwieg.
„Stell dir vor, jemand würde unsere Geschichte lesen. Wie banal wäre es, am Ende nur ein Bier zu trinken oder für immer auseinander zu gehen? Wie langweilig wäre ein Happy End! Welchen Sinn hätten diese Szenen, wenn sie keine Bedeutung hätten? Kitschiger Kram.“
„Ein Drama in fünf Akten, nur ohne Handlung“, sagt er.
„Trivialliteratur!“ rief sie verachtend und rümpfte die Nase.
„Aber wenn wir sterben“, merkte er an, „wer schreibt die Geschichte dann auf?“
„Das ist es ja“, rief sie begeistert. „Nur einer stirbt, der andere schreibt in seinem Liebeskummer Literaturgeschichte, ganz wie Goethe!“
„Und wer wird das sein?“, hakte er nach. „Ich mag mein Leben!“
„Greif doch der Handlung nicht vor!“, sagte sie und zwinkerte verschwörerisch, doch er hatte das Begreifen ohnehin längst verlernt.
„Einer von uns wird sterben“, wiederholte sie und sah dabei auf den Boden, sodass er nicht erkennen konnte, ob ihr Blick ironisch oder ernst war.
Er fühlte die Schwäche wiederkehren, die sich in dem Moment der Reiseeuphorie und dem Gefühl der Möglichkeiten versteckt hatte. Er konnte ihr nicht folgen. Er wusste nicht, ob sie eine geniale Rolle spielte oder zum ersten mal sie selbst war.
Er wusste nicht einmal, ob sie glücklich oder unglücklich war.
Mit einem Mal wusste er nichts mehr außer dem beklemmenden, irrealen Gefühl, dass sie Recht hatte.
Im Flugzeug schlief sie ein, den Kopf an seine Schulter gelegt. Der Sandelholzgeruch ihrer Haare erinnerte ihn an seine Zwillingsschwester, mit der er manchmal in einem Bett geschlafen hatte, als sie noch klein waren. In der Sekunde, in der das Flugzeug den festen Boden verließ, verlor er ebenfalls eine gewisse Festigkeit. Plötzlich schien alles möglich, die Welt variabel, die Grenzen zwischen Sein und Nichtsein verschwommen. Vielleicht gab es ein Schicksal oder einen festen Plan für ihn, den er gerade unterbrochen hatte. Vielleicht war er wie der Mann aus dem Film, dem eine ganze Welt vorgegaukelt wird und der es irgendwann schafft an den Rand der Kulissen zu kommen. Bisher hatte er gedacht, das Gefühl von absoluter Freiheit sei etwas Schönes. In diesem Flugzeug jedoch, ohne schützende Hand eines Schicksals, ohne Grenzen des Möglichen, fühlte er sich, als würde er fallen.
Er weckte sie vorsichtig, als sie landeten. Mittlerweile war es Tag geworden. Sie lächelte ihn verschlafen an, was so bezaubernd aussah, dass er kurz die Augen schließen musste um keinen Fehler zu begehen.
Gemeinsam stiegen sie aus und machten ihre ersten Atemzüge an der Luft. Sie waren nicht in Amsterdam. Die Schilder waren auf französisch, aber es spielte keine Rolle für ihn. Es überraschte ihn nicht einmal. Sie fuhren mit einem Bus in die Innenstadt und schwiegen während der Fahrt. Einmal nahm sie seine Hand und schlang ihre Finger um seine, löste sie aber schnell wieder, als hätte sie sich verbrannt.
Er dachte an ein paar vergangene Szenen in diversen Bars und an die plötzliche Kontaktstille, in der er in sein Tagebuch geschrieben hatte, sie würde für ihn ab sofort auf dem Mond leben.
Ein Tag später musste er vermerken, dass es den ganzen Tag Vollmond gewesen sein musste.
Er erinnerte sich an das Strahlen in ihrem Gesicht, als er ihr in einem romantisch verklärten Moment von diesen Tagebucheinträgen erzählte.
Er dachte an das Buch, das sie ihm geliehen hatte, was er nicht lesen konnte, weil er ihr Gesicht immer wieder vor der Schrift auftauchte und er nichts entziffern konnte, als braune Augen und dunkle Locken.
Sie redeten immer noch nicht, als sie durch die französische Altstadt liefen, vorbei an Brasseries und schönen Plätzen. Ab und an seufzte sie leise und ignorierte seine fragenden Blicke.
Irgendwann durchbrach er die Stille, weil er das wortreiche Schweigen nicht mehr ertrug und fragte sie, ob sie etwas essen wolle.
Sie schüttelte den Kopf und sah weiter stur auf ihre Füße. Plötzlich wollte er fort von ihr und in irgendeinem Restaurant etwas vollkommen Banales bestellen und in einem Hotelzimmer schlafen, in dem alles nach Lavendel roch. An einer Brücke legte sie sich über einen Pfeiler und starrte geradeaus. Unter ihnen war das Wasser.
Für einen melancholischen Moment erlaubte er sich das Gedankenspiel, zu springen.
„Kommt ein Pferd in die Bar“, sagte er plötzlich. „Fragt der Barkeeper: „Hey, was machst du so ein langes Gesicht?“
„Was bitte?“, fragte sie. Er öffnete den Mund um den Witz zu wiederholen doch stockte, als er ihren Blick sah.
„Das passt doch gar nicht“, murmelte sie betrübt.
Eine Pause entstand, in der gedacht wurde.
„Wo bleibt denn da die dramatische Poesie?“, fragte sie mit Bitterkeit und Enttäuschung in der Stimme.
„Auf dem Papier, wo sie hingehört“, antwortete er bestimmt und küsste sie.