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Baumblut
Es war einmal ein uralter, prachtvoller Baum, dessen unzählige Äste sich in alle Himmelsrichtungen erstreckten. Ein Baum, wie er in jeder guten Geschichte eine Rolle spielt. Erhobenen Hauptes regierte er über seine Umgebung.
Seine alte Rinde war erfüllt mit Glück, Erhabenheit und Wärme. Im Frühjahr sah er den Blumen beim Wachsen zu, hieß seine neuen Blätter willkommen und wiegte sich zu den Stimmen der spielenden Kinder. Im Sommer trug er die süßesten Früchte und wand sich lachend unter den Händen und Füßen der Jungen und Mädchen, die ihm die Äste kitzelten, wenn sie auf ihm herumkletterten. Im Herbst ließ er seine Blätter mit den bunten Papierdrachen der Kinder fliegen und sprach flüsternd mit den Vögeln, die sich auf seinen Ästen sammelten, um gemeinsam in den Süden zu fliegen. Und in jedem Winter spielte er mit den Kindern, indem er vorsichtig kleine Mengen Schnee nach ihnen warf und ihre Schlitten über seine Wurzeln springen ließ. So war der Baum niemals einsam, immer glücklich und sogar ein klein wenig stolz auf seine vielen Freunde, die sogar noch Jahre später zu ihm kamen, um in seinem Schatten auszuruhen. In all den glücklichen Jahren kam er nie auf den Gedanken, dass sich an seiner Lage etwas ändern könnte und so war seine Verzweiflung groß, als sich das Blatt schließlich wendete.
Erst waren die Veränderungen kaum bemerkbar. Die älteren Kinder und die Erwachsenen schienen besorgter, die Spiele der Kleinen wurden erst wilder, dann ernst. Mit wachsender Unruhe beobachtete der Baum, wie die Frauen des Dorfes, deren blass gewordene Gesichter er immer seltener zu sehen bekam, sich oft nur zu seinen Wurzeln niederließen, um ungesehen vom Rest der Welt ihren Kummer herauszuweinen.
Machtlos gegen all die Traurigkeit, wiegte der Baum seine Zweige und ließ sanft seine Blätter über die kraftlos gesenkten Häupter streichen, doch seine Bemühungen blieben unbemerkt und wirkungslos. Nie zuvor tranken seine Wurzeln so viele bittere Tränen und niemals vorher wirkte das gesunde Grün seiner Blätter so fehl am Platze zwischen all dem Leid und den düsteren Kriegsspielen der hungrigen Kinder.
Die Männer waren inzwischen fast alle verschwunden, die Frauen schienen krank und verbissen und die Kinder verbrachten immer weniger ihrer Zeit mit ausgelassenen Spielen. Darum kam es bald vor, dass er Tage lang keinen Menschen in seiner Nähe spürte. Angespannt und zum ersten Mal in seinem Leben seiner Bewegungsunfähigkeit bewusst, versuchte er sich noch höher hinaus zu strecken, um wenigstens aus der Ferne einen Blick auf das Dorf werfen zu können.
Eines Tages - der Baum hatte den ganzen Morgen unruhig den Erzählungen des Windes gelauscht - lief ein Junge den Hügel herauf auf ihn zu. Still umrundete er den Baum und bald konnte man sehen, wie sich die Spannung, die sich eben noch in jeder seiner Bewegungen zeigte, zu lösen begann. Er suchte am Stamm einen sicheren Halt für Hände und Füße und begann in das dichte Astwerk des Baumes hinaufzusteigen. Der Baum vibrierte vor Freude. Jede Berührung der kleinen Hand schickte einen Strom des Glücks durch die raue Rinde bis in sein Herz. Nie zuvor und auch niemals mehr danach schmeckte er so intensiv und deutlich die Gefühle eines Menschen.
Seine Äste hielten den Jungen, hoben ihn weiter empor, trugen ihn durch die Lüfte und streichelten sein Haar. Den ganzen Tag hindurch verloren sich Beide in kindlichen Träumereien von Piratenschiffen, gischtdurchpeitschten Stürmen und unentdeckten Inseln. Als das Licht sich langsam blau färbte und der Wind kühler wurde, machte sich der Junge an den Abstieg.
Das traf den Baum hart und unerwartet. Etwas in ihm schrie auf und wehrte sich dagegen den Jungen gehen zu lassen. Irritiert hielt dieser inne. Er lauschte, blickte bedauernd zur Baumkrone hinauf und strich zärtlich über die glatte Oberfläche eines noch jungen Zweiges, bevor er den Kopf schüttelte und seinen linken Fuß weiter tastend nach unten schob. Die Panik im Inneren des Baumes verlangte dringend nach einer Handlung. Es war keine Zeit mehr nachzudenken. Der Junge durfte nicht gehen. Wenn er am nächsten Ast angekommen war, konnte er von dort in die Wiese hinab springen und dann war er weg. Wer weiß, wann sich das nächste Kind aus dem Dorf den Hügel hinauf verirrte.
Impulsiv fasste der Alte nach einem Knöchel des Jungen. Dieser stockte in seinem Sprung und verlagerte sein Gewicht, in der Hoffnung wieder Halt zu finden. Doch hatte er sich bereits zu weit nach vorn gelehnt, so dass sein Fuß von der Rinde abglitt, er sich hart den Ellbogen stieß und stürzte. Der Kleine drehte sich im Fall so unglücklich, dass er mit seinem gesamten Gewicht auf dem rechten Knöchel landete. Mit einem kurzen Schmerzensschrei blieb er am Boden liegen - das Gesicht im Gras.
Im ersten Moment durchzuckte den Baum ein glühendes Triumphgefühl, das jedoch mit jeder Sekunde, in der sich der Junge nicht bewegte, der Sorge wich. Bald hoffte der Baum, mit angehaltenem Atem, auf eine Bewegung des Jungen und lauschte dabei angespannt auf dessen leises Wimmern. Der Kleine hatte sein Bein zu sich herangezogen und hielt seinen verletzten Knöchel. Der Baum begann bereits darüber nachzudenken eine seiner Wurzeln nach dem Verletzten auszustrecken, da zog der Junge die Nase hoch, wischte mit dem Handrücken die Tränen aus seinem Gesicht und setze sich auf. Nach mehreren erfolglosen Versuchen seinen Fuß zu belasten, rutschte er näher an den Stamm, um sich daran auszuruhen.
Der Baum hatte inzwischen längst seine übereilte Tat bereut und hoffte, dass der Junge bald aufstehen und nach Hause gehen würde. Als der kleine, nun so zerbrechlich wirkende Körper sich an seinen Stamm lehnte, durchlief der Schmerz und die Angst des Jungen die Rinde des Baumes und er schämte sich so sehr, dass sich seine sonst so stolze Krone reumütig bückte. Während der Junge dasaß und hinunter zum Dorf sah, erholte er sich langsam von seinem Schrecken. Nach einiger Zeit begann er sich Mut zuzusprechen. Dann übte er, wie er der Mutter sein Ausbleiben erklären könnte und probierte dazu in regelmäßigen Abständen seinen Fuß wieder zu belasten. Dem Baum wurde, mit zunehmender Dunkelheit, immer schwerer ums Herz. Was hatte er nur getan? Besorgt blickte er zur Sonne, die sich schon bald hinter den Baumwipfeln im Westen verstecken würde. Seine Unruhe übertrug sich auf den Jungen, der inzwischen aufgestanden war, um auf einem Bein hüpfend ins Dorf zu gelangen. Das gab er jedoch schnell wieder auf, da der Boden zu uneben war und jede Landung in seinem verletzten Bein schmerzte. Er rief um Hilfe, doch die Rufe blieben ungehört.
Dem Baum gelang es schließlich den Jungen zu beruhigen, indem er sich langsam hin und her wiegte und mit seinen Blättern ein leises Lied summte. Es gelang ihm seinen Schützling in einen flachen Schlaf fallen zu lassen. Es dauerte nicht lange, als vom Dorf her Rufe zu ihm drangen und Laternen zwischen den Häusern ausschwärmten. Aufgeregt ließ der Baum seine Äste zittern und Blätter fliegen, um auf sich aufmerksam zu machen. Wie groß war seine Erleichterung, als ein paar der älteren Kinder und eine Frau zu ihm herüber kamen und den schlafenden Jungen im Gras liegen sahen. Eines der Mädchen nahm den Kleinen in die Arme und trug ihn gemeinsam mit den Anderen den Hügel hinab.
Seine Erleichterung ließ ihn die Einsamkeit der folgenden Tage etwas weniger hart erscheinen. Doch bald dachte er wieder oft an die Freuden vergangener Tage und stöhnte schwermütig mit dem Wind um die Wette. Irgendwann gegen Mittag nahm er eine Gruppe von Menschen wahr, die das Dorf Hügel aufwärts verließen. Sie schienen langsam größer zu werden, während sie näher kamen. Seine Neugierde wich Angst, als er sah, dass die Männer, die eine wütende Entschlossenheit ausstrahlten, mit Werkzeugen bewaffnet waren, die sehr gefährlich aussahen. Und tatsächlich sollte dieser Tag böse enden.
Als die Meute bei ihm ankam, warfen Sie die Werkzeuge in die Wiese und luden dicke Holzpflöcke von einem alten Wagen. Anschließend begannen sie die Pfosten nacheinander mit starken Hammerschlägen in den Boden zu rammen. Verwirrt und erschreckt spannte der Baum seine Wurzeln und versuchte den angespitzten Pfosten auszuweichen. Was hatte das zu bedeuten? Was trieben diese Männer, die er doch alle von klein auf kannte und liebte? Warum verletzten und demütigten sie ihn? Erst schimpfte er, dann entschuldigte und erklärte er sich, doch niemand hörte ihm zu. Niemand beachtete seine wilden Gesten, bis er seine Mühen aufgab und schweigend beobachtete, wie die Männer Drähte um jeden Pflock wickelten, an Nägeln sicherten und so die Pfosten miteinander zu einem massiven Zaun verbanden.
Von diesen Tagen an begann der Baum langsam zu sterben. Er sprach weder mit den Vögeln, die sich auf seinen Ästen niederließen, noch mit dem Wind. Wenn dieser ungeduldig durch seine Blätter fuhr und ihn aufforderte zu antworten, ließ der Baum stattdessen die Blätter los und schickte sie mit ihm fort. Wenn er Kinderstimmen aus dem Dorf hörte, sprang sein Herz nicht mehr vor Freude, sondern zog sich vor Gram zusammen und verfluchte die Menschen. Tiere, die zufällig in seine Nähe kamen verscheuchte er und die Tage kamen ihm vor wie die Nächte.
Als nach dem Winter der Frühling kam, hatte der Baum weder Kraft noch Lust seine Blätter sprießen zu lassen, geschweige denn Früchte zu tragen. Er war grau, unfreundlich und griesgrämig und wollte dies bis zu seinem Ende bleiben. Jahr für Jahr wurde seine Rinde spröder und ungepflegter. Bald waren seine Äste mit Moos und Baumpilzen bewachsen und nur die Raben setzten sich noch darauf. Er hatte schon lange nicht einmal mehr Lust diese dunklen Zeugen seines Unglücks zu verscheuchen.
Nach genau elf Jahren konnte sich der Baum schon kaum noch an seine glücklichen Jahre erinnern, da stand plötzlich ein junger Mann am Rande seines Schattens und betrachtete ihn ausgiebig. Der Mann entfernte sich dann zwar wieder, kam jedoch am darauffolgenden Tag zurück. An einer Hand hielt er ein kleines, blondes Mädchen von etwa vier Jahren und in der anderen Hand hielt er eine große Zange. Mit schnellen Bewegungen zwickte er den verrosteten Draht zwischen zwei der Pflocken durch und schob seine Tochter liebevoll auf das Gras, das seit elf Jahren kein menschlicher Fuß mehr betreten hatte. Der Baum sah mit einem Auge zu. Er empfand weder Überraschung, noch Freude oder Widerwillen. Er sah einfach zu und wartete ab, bis die Hände des Menschleins über seine borkige Rinde fuhren. Tief in seinem Inneren rief diese Berührung ein Echo hervor, das durch das klare Lachen des Kindes weiter nach oben getragen wurde. Wie durch eine Zentimeter dicke Schicht aus Moos spürte er die Wärme der Haut und so auch die Güte und Reinheit der kleinen Persönlichkeit, die mit Hilfe des Vaters einen der unteren Äste erklomm. Auch die Hände des Mannes - kräftiger und erfahrener - griffen nach Zweigen, die schon so gefühllos waren, dass sie der ungewohnte Kontakt wie ein schwacher Stromstoß durchfuhr. Kaum kroch des Baumes Bewusstsein bis zur Oberfläche, als diese lange nicht mehr erfahrene Freude schon vorbei war und die beiden ihn verließen. Doch der Zaun blieb zerstört. Der Weg zum Baum blieb frei.
Er musste nicht lange warten, bis die Beiden erneut zu ihm kamen. So erwachte der alte Baum mit den Wochen aus seiner Lethargie und in seinem Inneren keimte eine erste, schwache Hoffnung auf bessere Zeiten.
Eines Tages, er wartete schon ungeduldig auf seinen samstäglichen Besuch, kamen die beiden ersehnten Besucher nicht alleine. Eine aufgedrehte Gruppe von fünf Kindern begleitete diesmal den Mann. Als die Gruppe näher kam, erkannte der Baum auch den Leiterwagen, den sie mit sich zogen und der mit Seilen und Werkzeugen beladen war. Entsetzt erinnerte sich der Baum an das letzte Mal, als er von so vielen Menschen besucht wurde und das kleine bisschen Zuversicht zog sich ängstlich in einen entlegenen Winkel seiner Zweige zurück.
Doch die Stimmung der kleinen Mannschaft unterschied sich deutlich von der der letzten Truppe. Sie sprangen fröhlich lachend auf ihn zu und umrundeten ihn mit glänzenden Augen und strahlenden Gesichtern. Der Baum stand ganz still und wartete - nicht ein einziges Blatt bewegte sich im Wind. Nach einer knappen halben Stunde schaukelten zwei der Kinder an seinen beiden kräftigsten Ästen und hätten sie einander nicht so laut zugeschrien, hätten sie den Baum vor Glück lachen und weinen hören.
So war der Bann gebrochen und die Zeit der Buße überstanden. Die Reste des Zaunes waren bald weggeräumt und die Welt war wieder bunt und froh. Für die Kinder, deren Väter wieder zurückgekehrt waren und für den Baum, dessen Leben wieder Sinn und Abwechslung brachte.
Nach langer Zeit, als die Urenkel der Kinder von damals zu seinen Füßen spielten, hörte der Baum ein kleines Mädchen zu ihrem jüngeren Bruder sagen: ‚‚Du brauchst keine Angst haben, Rouvin, von diesem Baum ist noch nie ein Kind heruntergefallen.‘‘ Der Baum lächelte wehmütig, erinnerte sich an seinen Fehler, den die Menschen inzwischen alle schon vergessen hatten und bewegte dabei, wie automatisch, einen seiner Äste, um ein Kind festzuhalten, das sonst sein Gleichgewicht verloren hätte.